Inklusion an Schulen: Wir brauchen sie immer noch

Unser Schulsystem folgt den falschen Zielen. Deshalb droht es sowohl an der Inklusion als auch an der Pandemiebewältigung zu scheitern.

Noten auf einem Zeugnis.

Unglückselige Fixierung: Die Schule und ihre Standards Foto: dpa/Ina Fassbender

HANNOVER taz | Die x-te Debatte über Inklusion fühlt sich ein bisschen an wie die x-te Schultheater-Aufführung von „Warten auf Godot“. Inklusion ist wie Godot eine vage Bekannte, die unsichtbar bleibt und vielleicht nie auftaucht. Aber das Stück ist so abgedroschen und tot gespielt, dass man große Mühe hat, sich überhaupt noch daran zu erinnern, wie aufregend und neu das einmal war.

Und vielleicht ist dieser Zeitpunkt, die Debatte noch einmal aufzunehmen, gerade besonders gemein: Hat doch diese Pandemie Familien, in denen Kinder mit Behinderungen leben, noch einmal in ungeahnte Tiefen gestürzt – in ökonomische Nöte, heftige Isolation, brutale Erschöpfung.

Aber vielleicht muss man auch gerade deshalb und jetzt erst recht wieder an dieses Thema rühren: Weil selbst der mickrigste Fortschritt von der Rückabwicklung bedroht ist. Und weil dieses Schulsystem aus den gleichen Gründen an der Pandemiebewältigung zu scheitern droht, aus denen es auch an der Inklusion zu scheitern droht: Seiner Fixierung darauf, gewohnte Standards abzuarbeiten, statt vom Kind her zu denken. Und das ist der Punkt, an dem auch Eltern von Kindern ohne Behinderung anfangen sollten, sich Sorgen zu machen.

Eltern von Kindern mit Behinderung standen in den vergangenen Jahren vor einer ziemlich unmöglichen Entscheidung: Fördersystem oder „Regelschule“?

Eine unmögliche Entscheidung

Fördersystem heißt: Man kann relativ sicher sein, dass das Kind gut versorgt und behutsam gefördert wird. Dafür ist die Gefahr groß, dass es aus dieser Förderschleife auch nie wieder herauskommt. Das liegt zum Teil daran, dass so ein Hilfssystem dazu tendiert, sich selbst zu erhalten. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder bleiben beschränkt und allzu oft führt ein Förderschulabschluss dann direkt in die Werkstätten, weil die Chancen auf dem Arbeitsmarkt ohnehin so gering sind.

Das hat aber noch viel mehr damit zu tun, dass die Mehrheitsgesellschaft es sich von Kindesbeinen an abgewöhnt hat, sich mit „so was“ auseinanderzusetzen. Wer Kindern im Kita- oder Grundschulalter beibringt, dass Kinder mit Behinderungen ein Fall für Experten sind, der muss sich nicht wundern, wenn sie auch später im Leben ihren Berührungsängsten frönen – und sich gar nicht vorstellen können, mit „so jemandem“ zusammen zu arbeiten oder gar zu leben.

Aber wenn Eltern sich aus diesen Gründen dafür entscheiden, ihr Kind mit Behinderung ins Regelsystem zu schicken, gehen sie ein hohes Risiko ein. Wenn sie Glück haben, geraten sie an eine Schule, die sich der individuellen Förderung verschrieben hat und die – viel zu knappen – Fördermittel clever einzusetzen weiß. An eine Lehrkraft, die offen ist, und eine Klassengemeinschaft, die gut funktioniert. Dann werden sie erleben, wie ihr Kind über sich hinauswächst, Dinge lernt, die ihm nie jemand zugetraut hat und seinen Platz in der Gemeinschaft erobert.

Wenn sie aber Pech haben, geraten sie an eine Schule und eine Klasse, in der die Lehrkraft ohnehin schon überlastet ist und den Inklusionsschüler dann auch noch so mitschleift, während die Sonderpädagogin mit ein paar Schulstunden pro Woche wenig bis gar nichts kompensieren kann und die Mitschüler selbst diese kleine „Extrawurst“ noch übel nehmen. Dann bekommen sie ein todunglückliches Kind mit nachhaltig beschädigtem Selbstwertgefühl, das vor allem lernt, was es alles nicht kann.

War es naiv, sich der Inklusion so viel zu versprechen?

Und dieses Risiko ist natürlich eines, dass nicht nur Kinder mit Behinderung trifft, sondern auch viele andere. Es hat etwas mit der unglückseligen Fixierung unseres Schulsystems auf Normen und Standards zu tun. Darauf zielt alles: die pseudo-objektiven Ziffernzensuren, die Vergleichsarbeiten, das Zentralabitur. Alles, was da herausragt oder abweicht, ist nach dieser Logik von Übel.

Der Haken ist: Schnell abrufbares Wissen – das hier als „Leistung“ verkauft wird – liefert ein Computer auch. Was unsere Kinder lernen müssen, ist etwas anderes: denken, kommunizieren, sich orientieren, Entscheidungen herbeiführen, Ziele setzen, Unterschiede aushalten und produktiv nutzen.

Vielleicht war es naiv, sich von der Inklusion zu versprechen, dass sie diese Fixierung auf Standards aufbricht. Dass sie zu einer genaueren Wahrnehmung, besseren Förderung und klügeren Didaktik führen könnte, die dann allen Schülern zugute kommt.

Das Dumme ist nur: Gebraucht wird sie immer noch.

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