Sinti-Vertreter über Gedenkort-Pläne: „Das ist geschmacklos“

Die Firma Wintershall Dea will ins Gebäude eines Hamburger NS-Dokumentationszentrums ziehen. Sinti-Vertreter Arnold Weiß findet das unzumutbar.

Gedenkort Hanoverscher Bahnhof mit Namensplatten für die Deportierten

Ein NS-belastetes Unternehmen ist hier als Nachbar unerwünscht: Gedenkort Hannoverscher Bahnhof Foto: Christophe Gateau/dpa

taz: Herr Weiß, wie haben Sie erfahren, dass die Firma Wintershall Dea in dasselbe Gebäude ziehen will wie das künftige NS-Dokumentationszentrum Hannoverscher Bahnhof in Hamburgs Hafencity?

Arnold Weiß: Durch die Presse, und da war die Aufregung beim Landesverein der Sinti wie auch bei den anderen Opferverbänden – jüdische Gemeinden, Rom und Cinti Union – erst mal groß. Dass das ohne jedes Vorgespräch einfach entschieden wurde – da war man erst mal geschockt.

Warum genau?

Weil das schon sehr irritierend ist: Da soll ein Dokumentationszentrum entstehen, das sich mit der Historie nicht nur des Hannoverschen Bahnhofs befasst, von dem aus 8.000 Juden, Sinti und Roma in KZ deportiert wurden, sondern auch mit dem Holocaust insgesamt. Und dann stelle man sich vor: Jemand besucht das Dokumentationszentrum, das ja auch ein „Lernort“ sein soll, und liest dort von der Verfolgung von Juden, Sinti und Roma sowie vom Profit vieler Wirtschaftsunternehmen auch durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Wie soll man diesem Besucher erklären, dass im selben Gebäude Büros der Firma Wintershall Dea sind, die in der NS-Zeit Zehntausende Zwangsarbeiter beschäftigte? Da kann ich nur sagen: Das ist geschmacklos. Das hat ein ähnliches Ausmaß, als wenn eine KZ-Gedenkstätte ein NS-belastetes Unternehmen als Untermieter hereinnähme.

Wintershall hat seine NS-Vergangenheit – wenn auch erst 2019 und 2020 – mit einer Konferenz und einer Dokumentation aufgearbeitet. Die Aufarbeitung der gleichfalls belasteten Dea-Geschichte soll bald folgen. Genügt das nicht?

Nein. Auch wenn man die Geschichte dokumentiert und aufarbeitet, macht es den Holocaust nicht ungeschehen. Das alles ist ja tatsächlich passiert – noch dazu ganz konkret in räumlicher Nähe zum Gebäude am einstigen Hannoverschen Bahnhof. Eine NS-belastete Firma im selben Gebäude wie das Dokumentationszentrum mit seinen konkreten Opfergeschichten – das ist schon sehr befremdlich.

Der Vermieter sagt, dann könne er die Räumlichkeiten ja an kein Unternehmen vermieten, das älter als 100 Jahre sei. NS-belastet seien ja irgendwie alle.

Dann kann man es eben nicht. Denn alles andere hieße: Nach 100 Jahren ist alles vorbei. Der Holocaust war einmal, und jetzt vergessen wir das Ganze. Aber man darf die Geschichte doch nicht umschreiben oder Teile einfach weglassen!

1987 geboren, ist seit acht Jahren Vorsitzender des Landesvereins der Sinti.

Aufarbeitung ist etwas Intellektuelles, aber die Wunde bleibt?

Selbstverständlich. Ich gehöre der dritten Nachkriegsgeneration an. Mein Großvater ist vom Hannoverschen Bahnhof aus deportiert worden, zusammen mit seinen Eltern – meiner Urgroßmutter und meinem Urgroßvater. Das ist eine schreckliche Familiengeschichte. Viele sind nicht wiedergekommen. Und natürlich sind die Wunden heute noch da. So weit ist man ja nicht von seinem Großvater entfernt.

Sind eigentlich konkrete Verbrechen von Wintershall gegen die Sinti bekannt?

Genau kann ich das nicht sagen. Aber ich gehe davon aus, dass unter 10.000 Zwangsarbeitern auch Sinti gewesen sind. Aber es geht ja nicht nur um uns. Stellen Sie sich vor, eine hochbetagte Holocaust-Überlebende besucht 2023 die Eröffnung des Dokumentationszentrums. Sie sieht die Wintershall-Büros und sagt: „Da habe ich Zwangsarbeit geleistet.“ Oder ihre Schwester oder ein Bekannter. So eine Situation ist doch unzumutbar. Wie kann man so etwas zulassen? Zumal Wintershall Dea zu 67 Prozent der BASF gehört, die wiederum einer der Nachfolge-Konzerne der IG Farben ist. Die IG Farben hat nicht nur das erste private KZ Auschwitz-Monowitz gebaut, sondern auch das Zyklon B geliefert, mit dem unsere Leute ermordet wurden.

Wintershall erwägt eine Ausstellung zur NS-Vergangenheit im eigenen Foyer und eine gemeinsame Ausstellung mit dem Dokumentationszentrum. Wäre das ein Kompromiss?

Nein. Ich würde sagen, in unmittelbarer Nachbarschaft passt das einfach nicht.

Der Landesverein der Sinti hat sich auch bei der Gestaltung des Mahnmals Hannoverscher Bahnhof engagiert und tut das jetzt bei der Gestaltung des Dokumentationszentrums. Welches ist Ihr Part?

Es geht ja um unsere Geschichte und um unsere Familien. Deshalb saßen wir in der Expertenrunde für den 2017 eingeweihten Gedenkort Hannoverscher Bahnhof und gaben Ideen und Anregungen für die Gestaltung – wie die Vertreter der anderen Opferverbände auch. Auch in der Expertenrunde für das künftige Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof sind wir als Verfolgtenverband vertreten.

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