Rolf Mützenich zu USA und Abrüstung: „Rückkehr zu Ordnung“

Die Außenpolitik von Joe Biden lässt Rolf Mützenich auf weniger Atomwaffen hoffen. Die Grünen kritisiert der SPD-Fraktionschef als „schwammig.“

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vor dem Bundeskanzleramt

Will die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen gern loswerden: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich Foto: Christoph Soeder/dpa

taz: Herr Mützenich, Joe Biden hat am Freitag in seiner außenpolitischen Grundsatzrede verkündet, dass die USA zurück auf der diplomatischen Bühne sind. Merkt man das in Berlin schon?

Rolf Mützenich: Wir hatten schon vor den US-Wahlen informelle Kontakte zu Bidens sicherheitspolitischem Umfeld. Das ist hochgradig an Fragen der Zusammenarbeit interessiert und weiß über Europa Bescheid. Ein guter Auftakt ist, dass sich Russland und die USA verständigt haben, das New Start-Abkommen, also die Begrenzung der strategischen Atomwaffen, zu verlängern. Das öffnet Möglichkeiten für europäische Interessen.

Was ist da das deutsche Interesse?

Unter Trump wurde über nuklear geführte Kriege und den Einsatz von kleineren Atomwaffen nachgedacht. Wir haben großes Interesse daran, dass es auch bei den taktischen Atomwaffen zu klaren Verabredungen zwischen Russland und den USA kommt. Wir sollten diesen Prozess durch gegenseitige Moratorien unterstützen.

Das heißt konkret?

Dass weder Russland noch die USA und die Nato weitere Atomwaffen und neue Trägersysteme stationieren.

Sie haben sich schon vor einem Jahr für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen. Wie groß sind die Chancen?

Ich war überrascht, dass dieser Vorschlag eine so große Aufregung hervorgerufen hatte. Manche Unterstellungen waren absurd. Jetzt diskutieren wir in Deutschland endlich wieder über die Frage der technischen nuklearen Teilhabe. Es gab auch kritische Reaktionen, auch aus Teilen meiner Partei. Aber Friedensbewegung, Kirchen und Gewerkschaften wollen diese Debatte.

Sie haben die Kirchen hinter sich, aber nicht die SPD? Das wäre umgekehrt besser, oder?

Das sehe ich anders. Sowohl in unserem Grundsatzprogramm als auch im letzten Wahlprogramm steht die Forderung nach einem Abzug der in Deutschland lagernden Atomwaffen. Auf einem SPD-Bundesparteitag würde es auch heute eine deutliche Mehrheit dafür geben.

Das Verteidigungsministerium möchte F18-Jets kaufen, damit die Bundeswehr weiterhin Atomwaffen einsetzen könnte. Kommt das noch vor der Wahl?

Ich habe vom Moratorium bei den Trägersystemen gesprochen. Es ist gut, dass der New-Start-Vertrag um fünf Jahre verlängert wurde. Wir sollten da nicht stehen bleiben, sondern weitere Abrüstungsschritte initiieren.

Also keine F18?

Wir sollten einer neuen Bundesregierung nicht die Möglichkeiten verbauen, hier Entscheidungen, die uns auf Jahrzehnte festlegen und Milliarden kosten, zu treffen. Deshalb bin ich für ein Moratorium.

Wird Abrüstung ein Thema für den SPD-Wahlkampf?

Natürlich wird Friedenspolitik im Wahlkampf und dem Wahlprogramm eine Rolle spielen, dazu gehört für uns selbstverständlich Abrüstung und Rüstungskontrolle. Ich würde mich freuen, wenn der neue CDU-Parteivorsitzende im Gegensatz zu seiner Vorgängerin den Mut hätte, sich an dieser Debatte zu beteiligen.

Biden räumt recht entschlossen die Trümmer weg, die Trump außenpolitisch hinterlassen hatte. Ist das eine neue Blüte des Multilateralen oder die Rückkehr zur US-Hegemonie?

Beides. Der US-Präsident will die Rückkehr zu einer multilateralen und regelbasierten Ordnung mit verlässlichen Partnern an seiner Seite und trotzdem eine hegemoniale Rolle in der Welt spielen. Auch er ist von der Führungsrolle der USA überzeugt. Wichtig wird sein, ob Biden die Auseinandersetzung etwa mit der Volksrepublik China handels- und militärpolitisch führen wird oder ob die USA bereit sind, divergierende Interessen und Meinungsunterschiede mit China politisch zu regeln.

Das Verteidigungsministerium möchte demnächst eine Fregatte ins südchinesische Meer entsenden. Was halten Sie davon?

China beansprucht aggressiv territoriale Hoheitsrechte im südchinesischen Meer. Aber auch andere Länder dort rüsten massiv auf und setzen einseitig Fakten. Es wäre falsch, sich militärisch in diese hochgefährliche Auseinandersetzung zu begeben. Auch am Völkerrecht orientierte Aktionen werden da manchmal missverstanden. Es gibt zweifelsohne Provokationen der chinesischen Streitkräfte. Aber die Rolle Deutschlands sollte darin bestehen, mit diplomatischen Schritten weitere militärische Eskalationen einzudämmen.

Also keine Fregatte?

Wie gesagt, ich hielte eine militärische Beteiligung Deutschlands für reine Symbolpolitik, die Missverständnisse provozieren und andere Möglichkeiten verschütten würde.

61, ist seit 2019 SPD-Fraktionschef im Bundestag. Der Kölner sitzt seit 2002 im Parlament und war lange ihr außen­politischer Sprecher.

Die Chefin der Böll-Stiftung fordert, dass Deutschland mehr Geld für Rüstung ausgeben soll, auch um den USA den Rücken freizuhalten für deren Engagement in Asien. Wie finden Sie diesen Ansatz?

Irritierend. Ich befürchte, dass diese Haltung von Teilen der Grünen mitgetragen wird. Unsere Aufgabe ist es nicht, den USA militärisch den Rücken freizuhalten. Im Gegenteil: Wir sollten alles dafür tun, damit Außenpolitik nicht nur in militärischen Kategorien gedacht wird.

Sehen Sie die Grünen da auf dem Weg zur CDU?

Das weiß ich nicht. Aber ich habe mich schon gewundert, dass sich die Grünen kaum an der Debatte um die nukleare Teilhabe beteiligt haben, dafür aber stark an der um die Eindämmung Russlands. Das ist eine Tendenz, die es bei den Grünen seit ein, zwei Jahren gibt.

Frau Baerbock kritisiert die miese Ausrüstung der Bundeswehr und will mehr Geld zur europäischen Verteidigung …

Das allein wäre ja nicht problematisch. Ich weiß nicht, ob Frau Baerbock in erster Reihe hinter der Neuausrichtung einer CDU-kompatiblen grünen Außenpolitik steckt. Aber sie gebietet dieser zumindest keinen Einhalt. Jedenfalls passen diese Positionen nicht zu dem Grundsatzprogramm, das die Grünen zuletzt vor einer Wohnzimmertapete beschlossen haben. Auch bei der nuklearen Abschreckung haben sich die beiden Parteivorsitzenden nicht festgelegt. Und bei der Frage der Fortentwicklung von UN-Einsätzen sind die Grünen teilweise sehr schwammig.

Aber ist die Bilanz der SPD in der Regierung so viel besser? Bei der nuklearen Teilhabe hat sich nichts bewegt. Dafür ist der Bundeswehretat gestiegen.

Mit unserer Bilanz brauchen wir uns nicht zu verstecken. Wir haben für viele Verbesserungen bei der Ausstattung der Bundeswehr gesorgt, ohne dabei den Tanz um das Goldene Kalb „Zwei Prozent-Ziel“ mitzumachen. Die Union hat gedrängt, zwei Prozent des BIP für Militär auszugeben. Die SPD hat da berechtigterweise nicht nachgegeben. Die Diskussion um den Abzug der US-amerikanischen Atomwaffen ist immerhin in Gang gekommen. Unser Außenminister, Heiko Maas, hat zudem unermüdlich für Abrüstungsgespräche geworben und zahlreiche neue Initiativen auf den Weg gebracht. Ich könnte die Liste fortsetzen.

Der Spiegel schreibt, dass Sie die SPD radikal auf einen neuen außenpolitischen Kurs gebracht hätten, pazifistisch und Bundeswehr-feindlich. Haben Sie so viel Macht?

Was manche Autoren des Spiegel alles so schreiben… Die Fraktion trifft souveräne Entscheidungen und lässt sich diese nicht von ihrem Vorsitzenden diktieren – gleiches gilt für die Partei. Hinter solchen journalistischen Hirngespinsten verbirgt sich ein antiquiertes Demokratieverständnis.

Sie sind seit anderthalb Jahren Fraktionschef. Wie üben Sie denn Macht aus? Wie Merkel oder wie Schröder?

Karl W. Deutsch, ein Politikwissenschaftler, hat einmal gesagt: Wer Macht hat, muss nicht lernen. Ich musste und muss als Fraktionsvorsitzender eine Menge lernen.

Üben Sie Macht durch Moderieren oder durch Machtworte aus?

Ich habe die Frage schon verstanden, scheue mich aber, über die Macht von Fraktionsvorsitzenden zu philosophieren. Solche Überlegungen wären eher alte Schule. Ich habe als Fraktionsvorsitzender eine große Verantwortung, vor der ich entsprechend großen Respekt habe. Es geht darum, uns als starke und kompetente Fraktion, als wichtiges Entscheidungsgremium innerhalb der Koalition sowie im Verhältnis zur Partei und zu den sozialdemokratischen Ministerinnen und Ministern zu etablieren und zu behaupten. Wenn mir das gelungen ist, dann nur, weil ich mich auf die Fraktion stützen konnte.

Seit Sie Fraktionschef sind, spielt das Militärische in der SPD-Fraktion eine kleinere Rolle. Das liegt nicht an Ihnen?

Die SPD-Fraktion war nie militaristisch. Als ich Fraktionsvorsitzender wurde, habe ich deutlich gemacht, dass ich mich wie zuvor auch um Außenpolitik kümmern werde. Meine Positionen haben sich nicht geändert.

Die Abgeordneten Kahrs und Felgentreu sowie der Ex-Wehrbeauftragte Bartels, die alle der Bundeswehr nahestehen, haben im letzten Jahr die Segel gestrichen. Ist das Zufall?

Ich muss jede Entscheidung eines Kollegen oder einer Kollegin akzeptieren. Bei der Wahl der neuen Wehrbeauftragten Eva Högl gab es einen einstimmigen Beschluss in der Fraktion, bei zwei oder drei Enthaltungen. Das war ein Vorschlag der gesamten Fraktion. Partei und Fraktion haben sich auch zusammen darauf verständigt, dass wir endlich eine breite gesellschaftspolitische Debatte über die Frage der Bewaffnung von Drohnen wollen. Bei den Entscheidungen der Kollegen, die Sie genannt haben, spielten auch persönliche Gründe und Interessen eine Rolle.

Ist das Verhältnis der SPD zur Bundeswehr distanzierter geworden?

Die SPD hat alles dafür getan, dass genügend Mittel bereitstehen, um die Bundeswehr gut auszustatten. Wir kümmern uns um die Soldatinnen und Soldaten. Die SPD will, dass die Bundeswehr inmitten der Gesellschaft und unserer Demokratie steht. Das ist unsere Grundhaltung und die ist alles andere als distanziert.

Haben Sie persönlich eine Distanz zum Militärischen?

Ich bin Außenpolitiker und bewege mich thematisch stark im Feld der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deswegen setze ich zuerst auf Diplomatie.

Die Drohnen-Entscheidung im Bundestag haben Sie im Dezember abgeblasen, weil das Thema noch nicht ausreichend diskutiert sei. Wie geht es weiter?

Wir haben das Thema in Bundestagsausschüssen und internen Fachzirkeln diskutiert. Eine breite gesellschaftliche Debatte, die wir im Koalitionsvertrag vereinbart hatten, hat nicht stattgefunden. In dieser Legislaturperiode werden wir deshalb nicht mehr über die Bewaffnung entscheiden.

Will die SPD Kampfdrohnen – oder nicht?

Das entscheiden wir, wenn diese gesellschaftliche Debatte geführt wurde.

Ins Wahlprogramm können Sie aber nicht schreiben: Wir warten die breite Debatte ab.

Warum?

Weil niemand SPD wählt, wenn er nicht weiß, was er bekommt.

Ich würde den Wählerinnen und Wählern sagen: Es wäre schön, wenn sie sich an der Debatte beteiligen. Da sind zentrale Fragen: Wie verlässlich sind die Einsatzregeln in der Praxis? Können wir es schaffen, dass bewaffnete Drohnen nicht den Weg der autonomen Kriegsführung gehen? Beteiligen wir uns an einer bereits existierenden Aufrüstungsspirale bei bewaffneten Drohnen und sollten wir nicht vielmehr darauf drängen, dass diese Waffengattung rüstungskontrollpolitische eingehegt wird? Brauchen wir Drohnen für unsere Verteidigungspolitik und wenn ja, was ist deren Stellenwert?

All das sind hochkomplexe ethische, rechtliche und politische Fragen, die bisher in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend diskutiert wurden und nicht mit einer Beschaffungsvorlage beantwortet werden sollten. Ich meine schon, dass Menschen in der Demokratie an dieser Debatte teilhaben wollen und Wahlprogramme nicht mit einem Warenhauskatalog gleichsetzen.

Ist das nicht einfach ein Versuch, die Entscheidung der nächsten Regierung und damit den Grünen zu überlassen?

Wer die Regierung bildet, entscheiden die Wählerinnen und Wähler im September, dem werde ich nicht vorgreifen. Aber klar: Wenn die Grünen in eine Regierung kommen, wird sich ihre derzeitige Geschmeidigkeit als eklatante Biegsamkeit entpuppen.

Lassen Sie uns über Russland reden. Wie soll Deutschland auf die Haft für Alexej Nawalny reagieren?

Man muss sehr deutlich machen, dass diese Verurteilung der Rechtsstaatlichkeit Hohn spricht und dass wir eine solche Situation nicht hinnehmen. In Institutionen wie dem Europarat, in denen auch Russland Mitglied ist, müssen wir eine klare Sprache gegenüber Russland sprechen.

Ihr Genosse Gerhard Schröder würde solche Forderungen wohl als „Russland-Bashing“ bezeichnen.

Das glaube ich nicht. Schauen Sie sich sein neues Buch und sein letztes Interview im Spiegel an. Er hat dort keine unkritische Haltung gegenüber dieser Situation.

Er hat gesagt, Nawalny interessiere ihn nicht. Das sei Tagespolitik.

Ja, gut, ein Altkanzler hat das Recht, sich mit den Fragen zu befassen, mit denen er sich befassen will. Dieses Privileg habe ich nicht.

Schröder ist Ihnen nicht also peinlich? Die Vermischung seiner Gazprom-Aktivität und seiner Putin-Affinität?

Ich konzentriere mich darauf, dass wir – wie in der Bundesregierung vereinbart – die Pipeline Nord Stream 2 fertigstellen. Mit einer Investitionsruine in der Ostsee ist niemandem geholfen. Und ich finde es sehr beachtlich, wie die Regierung in Mecklenburg-Vorpommern mit der Mehrheit des dortigen Parlaments für deutsche Souveränität eingetreten ist.

Sie meinen, wie sie mit Gazprom-Geld eine sogenannte Umweltstiftung gegründet hat, um die Pipeline fertigzubauen?

Das ist in der Tat auf Kritik gestoßen. Aber Sie müssen auch sehen, dass die Auseinandersetzung über Nord Stream 2 mittlerweile vollkommen ideologisch aufgeladen ist. Den Eindruck zu erwecken, dass wir eine energiepolitisch weiße Weste hätten, wenn wir auf Nord Stream 2 verzichten würden, halte ich für Augenwischerei – insbesondere, wenn ich mir andere Lieferländer anschaue.

Sie meinen Saudi-Arabien?

Zum Beispiel. Oder auch Libyen, wo jetzt versucht wird, diese Produktion wieder anzukurbeln. Da bin ich schon sehr überrascht, wie einseitig der Fokus der Kritiker ist.

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