Pandemie-Management im Vergleich: Wir Gesättigten

Viele hierzulande sind zu verwöhnt. Deshalb akzeptieren sie nötige Maßnahmen gegen die Pandemie nicht. Das verheißt nichts Gutes für künftige Krisen.

Demonstration und Kundgebung gegen die Coronamassnahmen und die Beschraenkungen zur Coronakrise vor dem Deutschen Reichstagin Berlin - Ein Demonstrant traegt ein T-shirt mit der Aufschrift " Gates Noch ? "

Demonstration gegen die Coronamassnahmen im Mai 2020 in Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon

Noch im Sommer waren viele Bür­ge­r*in­nen fast ein bisschen stolz auf ihr Land. Deutschland schien die erste Welle der Coronapandemie verhältnismäßig glimpflich überstanden zu haben. Tatsächlich war die Zahl der Toten im Vergleich etwa zu Frankreich, Spanien und Großbritannien sehr viel niedriger. Es gab ausreichend Beatmungsgeräte, die Intensivstationen waren nicht überlastet. Bilder von Lastern mit Leichen, wie sie aus Wuhan, Bergamo und New York zu sehen waren, gab es nicht.

Dann kam der Herbst. Und die Vorteile, die sich Deutschland mit viel Glück und einem rechtzeitig angeordneten Lockdown im Frühjahr verschafft hatte, waren durch eine zu rasche Lockerung verspielt. Die Bür­ge­r*in­nen waren zu leichtsinnig geworden. Urlaubsreisen ins Ausland und kleine Freiheiten hatten dann doch Priorität.

Wie nun aus einer Studie des Lowy Institute im australischen Sydney hervorgeht, hat Deutschland im Coronamanagement rückblickend denn auch nur mittelmäßig abgeschnitten. Die Studie sieht die Bundesrepublik gerade mal auf Platz 55 von insgesamt 98 bewerteten Ländern. Am besten schnitt Neuseeland ab, auf dem letzten Platz landete Brasilien. Was auffällt: Obwohl der Ausbruch in Fernost seinen Anfang nahm, erwiesen sich insbesondere Länder im asiatisch-pazifischen Raum als sehr viel erfolgreicher bei der Eindämmung der Pandemie. Länder wie Taiwan, Vietnam, Südkorea und Australien schafften es durch konsequente Lockdowns sowie umfassende Coronatests, die Ausbreitung des Virus weitgehend in Schach zu halten. Abgesehen von weiterbestehenden strengen Einreisebestimmungen verläuft das Leben in den meisten Ländern dieser Region wieder so wie vor der Pandemie.

China, wo das Coronavirus erstmals auftrat und die Regierung besonders rigoros vorging, taucht im Ländervergleich des Lowy Institute nicht auf. Den Forschern zufolge waren nicht genug Daten verfügbar. Auch wenn Chinas Daten nicht verlässlich sind, ist doch bemerkenswert: Während die meisten Länder Europas und die USA nun in den Wintermonaten von einem Lockdown in den nächsten schlittern, hat die Volksrepublik nach zwei Monaten harter Maßnahmen das Virus zumindest so weit unter Kontrolle gebracht, dass die Wirtschaft wieder auf vollen Touren läuft, Schulen und Unis offen sind und die Menschen kaum noch Einschränkungen erfahren. Chinas Wirtschaftskraft wird Ende 2021 um 10 Prozent größer sein als vor der Krise. Europas Wirtschaft hingegen wird schrumpfen – und wahrscheinlich auch die der USA. Chinas Aufholjagd hat sich damit noch einmal drastisch beschleunigt.

Wie Lobbyisten schachern alle gesellschaftlichen Gruppen um die eigenen Vorteile

Stellt sich die Frage: Was ist schiefgelaufen? Warum scheint es vielen hierzulande so viel schwerer zu fallen als Asiat*innen, simple Verhaltens­regeln zu befolgen, wie Menschenansammlungen zu meiden oder Masken zu tragen? Ist es die oft behauptete Autoritätsgläubigkeit in Fernost? Oder mangelt es vielleicht hierzulande einfach an Vernunft?

Der Ökonom Clemens Fuest vom Ifo-Institut ­lieferte im Gespräch mit dieser Zeitung folgende Erklärung: Deutschland und die westlichen Industrieländer seien „satte Wohlstandsgesellschaften“. Den Menschen gehe es gut, sie seien daher nicht so leicht bereit, ihre Gewohnheiten zu ändern. In weniger saturierten Ländern, die zudem in jüngerer Zeit noch viel Wandel durchgemacht haben, sei das anders. Dort seien die Menschen Veränderungen gewohnt. In anderen Worten: Wir im Westen sind zu verwöhnt.

Was sich daraus ableiten lässt: Nach drei Generationen des stetigen Wohlstandsgewinns in den westlichen Industrieländern können sich viele gar nicht mehr vorstellen, dass ein System auch kollabieren kann. An einem solchen Punkt waren wir im Pandemiejahr zwar an keiner Stelle. Dass das deutsche Gesundheitswesen nicht zuletzt nach Jahrzehnten des Sparens und der Unterbezahlung seines Personals nun am Rande seiner Kapazitäten steht und Pa­ti­en­t*in­nen nicht mehr aufgenommen werden können – das war zuletzt schon real. Wahrnehmen wollten viele das offenbar aber nicht.

Widerspenstigkeit als Selbstzweck

Im Gegenteil: Wissenschaftlich begründete Warnungen vor genau einem solchen Zustand wurden selbst im Herbst, als die Infektionszahlen wieder steil anstiegen, als Alarmismus abgetan. Und auch jetzt erwecken die Stimmen einiger noch immer den Anschein, Abstandsregeln und die Lockdownmaßnahmen dienten der Schikane und nicht der Rettung von Leben. Wie Lobbyisten schachern alle gesellschaftlichen Gruppen um die eigenen Vorteile, die Umgehung von Maßnahmen wird zur Tugend erklärt. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden hingegen als staatsgläubig abgetan, dem Staat und seinen Maßnahmen wird grundsätzlich misstraut. Widerspenstigkeit als Selbstzweck.

Auch in asiatischen Ländern hat es im Verlauf der Pandemie viele Aufmüpfige gegeben, die sich nicht an die Vorschriften gehalten haben. Trotzdem gibt es dort in der öffentlichen Meinung einen viel breiteren Konsens darüber, dass Abstandhalten, das Reduzieren von Zusammenkünften und Quarantäne zur Eindämmung der Pandemie wichtig sind. Das Maskentragen wurde nicht gleich ideologisiert wie etwa in den USA oder zerredet, wie es zu Beginn der Pandemie auch hierzulande der Fall war.

Sind also nur autoritär geführte Gesellschaften zu so einem Verhalten in der Lage? Abgesehen davon, dass man es sich mit so einer Frage sehr einfach macht und nicht die Chance wahrnimmt, von Erfahrungen in Ostasien auch zu lernen, steckt dahinter auch Überheblichkeit.

Diese Pandemie wird nicht die letzte Krise sein. Die Klimakrise hat gerade erst begonnen, große Umwälzungen stehen im Zuge der Digitalisierung und Globalisierung an, verbunden mit weiteren Verwerfungen. Sind gesättigte Gesellschaften für diese Umwälzungen gewappnet? Der Umgang mit dieser Pandemie lässt daran zweifeln.

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war von 2012 bis 2019 China-Korrespondent der taz in Peking. Nun ist er in der taz-Zentrale für Weltwirtschaft zuständig. 2011 ist sein erstes Buch erschienen: „Der Gewinner der Krise – was der Westen von China lernen kann“, 2014 sein zweites: "Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiao-ping. Eine Biographie" - beide erschienen im Rotbuch Verlag.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

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