Spiritismus in Berlin um 1900: … aber die Geister sächselten immer

Spiritistische Tischrunden und das Geheimnis im Unterrock: Vor 120 Jahren wurde Berlin dem „Blumenmedium“ Anna Rothe zum Verhängnis.

Die Darstellung einer Séance mit vier Menschen rund um einen Tisch

Beliebtes Gesellschaftsspiel um 1900: die Séance Foto: ilbusca/Digital Vision Vectors/getty images

BERLIN taz | Knapp zusammengefasst hat die Geschichte bereits der Humorist Otto Reutter in seinen Versen: „… sie hielt eine Sitzung, ’s hat alles geklappt. / Die Geister, sie kamen und gingen aufs Wort, / man war sehr zufrieden mit ihrem Apport. / Da sagt ich: ‚Anna, was du träumst, / sind lauter faule Chosen. / Du hatt’st den ganzen Unterrock / voll Apfelsin’n und Rosen. / Die hast du vorher dir gekauft, / denn in den Unterhosen /– merk dir, geliebte Anna, das – / da wachsen keine Rosen!‘“

Wenn Reutter die 15. Strophe seines Couplets „Der Traumdeuter“ mit der ihm ureigenen Verve auf den Bühnen der Hauptstadt vortrug, werden die meisten Berliner damals gewusst haben, wer mit Anna gemeint war, nämlich das „Blumenmedium“ Anna Rothe. Reutter nahm den seit der Jahrhundertwende verstärkt aufgetretenen Hang zu Spiritismus auf die Schippe, dessen Verfechter oftmals eben Betrüger waren, die vor allem in Berlin leichte Beute machen konnten. „Diese glauben alles“, stellte der Gerichtsreporter Hugo Friedländer lapidar fest, der dabei die etwa 90.000 Spiritisten im Blick hatte, die um die Jahrhundertwende in der Reichshauptstadt lebten.

Die 1850 im thüringischen Altenburg geborene Anna Zahl konnte, so behauptete sie jedenfalls, bereits im Alter von zehn Jahren die Geister von Verstorbenen sehen. 1868 heiratete sie den Kesselschmied Hermann Rothe, mit dem sie mehrere Kinder bekam. Eines Tages soll ihr der tote Bräutigam ihrer Tochter im Wohnzimmer erschienen sein, und wo andere schreiend davongelaufen wären, blieb Anna standhaft und unterhielt sich kurzerhand mit dem Geist.

Die Möglichkeit der Kommunikation mit dem Jenseits ist für Spiritisten ein wesentlicher Bestandteil ihres Glaubens. Dass sie ein exzellentes Medium sei, wurde Anna Rothe im Spiritistenkreis schließlich bestätigt, und so entschloss sie sich, jeweils auch auf Anfrage mit der Geistwelt in Verbindung zu treten – nicht mehr nur im stillen Kämmerlein, sondern vor leibhaftigem Publikum.

Seltsame Klopfzeichen

Vorreiterinnen der spiritistischen Bewegung waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts die amerikanischen Fox-Schwestern aus Hydesville, in deren Haus sich am 31. März 1848 ein verstorbener Häftling mit Klopfzeichen bemerkbar gemacht haben soll. Von dort schwappte die Welle nach Europa und so auch nach Deutschland über, wo eine Zeitschrift wie Psychische Studien, die sich mit den „wenig gekannten Phänomenen des Seelenlebens“ befasste, schon seit 1874 erschien. Als am 25. Mai 1896 in Berlin der „Verband Deutscher Okkultisten“ gegründet wurde, war Anna Rothe in der spiritistischen Szene längst bekannt. Ihre Spezialität war der „Apport“, also das Erscheinen von Gegenständen als Grüße der Geistwesen aus dem Jenseits, die wie aus dem Nichts aus Rothes Hand erschienen oder von der Decke regneten.

Seitdem sie den ehemaligen Spirituosenvertreter Max Jentsch kennengelernt hatte, hatten ihre Séancen einen geschäftsmäßigen Charakter erhalten und die Besucher mussten Eintritt zahlen. Zuvor war Anna Rothe lediglich im ländlichen Raum im Umkreis ihres Wohnorts Chemnitz in Erscheinung getreten. Jentsch peitschte sie erst ins Ausland und dann nach Berlin, wo damals etwa 300 Medien wie Anna Rothe und etliche Wahrsager den abertausenden Spiritisten in der Stadt zu Diensten waren. Eine Subkultur, die später im Anna-Rothe-Prozess von dem Gerichtsreporter Hugo Friedländer beleuchtet wurde.

Zunächst verfiel sie in Trance, Geisterstimmen ertönten aus ihrem Mund

Das spiritistische Berlin war ein von der Wissenschaft und kirchlicher Seite vehement abgelehnter Hexenkessel, dessen Ritualen vor allem das gehobene Bürgertum und der Adel huldigten. Ein durchaus elitärer Zeitvertreib, nicht alle konnten sich eben das Eintrittsgeld für eine gepflegte Konversation mit den Geistern leisten. Ab den 1880er Jahren fanden nach amerikanischem Vorbild sogenannte Zirkel in privaten Kreisen statt, in denen mit den Verstorbenen kommuniziert wurde. Vor allem die spiritistische Publizistik mit diversen Zeitschriften wie die Psyche sorgte für die weitere Verbreitung des Themas.

Am 19. Oktober 1900 hielt Anna Rothe ihre erste Berliner Sitzung in ihrer Schöneberger Wohnung ab. Eindrücklich schilderte sie das Procedere später vor Gericht. Zunächst verfiel sie in Trance, einen durch Selbstsuggestion erzeugten Dämmerzustand. Geisterstimmen ertönten aus ihrem Mund und übermittelten Botschaften, dann schossen die ersten Blumengrüße durch die Luft oder schienen aus ihrer Hand zu wachsen. Zartbesaitete sollen in Ohnmacht gefallen sein, andere kreischten hysterisch, und die Skeptiker schmunzelten.

Auch Erich Bohn, der Präsident der Gesellschaft für Psychische Forschung, hegte schon länger Zweifel an dem Spektakel. Kein Wunder, war Anna Rothe doch einige Jahre zuvor in Zwickau „wegen groben Unfugs“ verurteilt worden. Als der Rechtsanwalt im März 1901 sein Buch „Der Fall Rothe. Eine criminalpsychologische Untersuchung“ veröffentlichte, war das Aufsehen groß. In Folge schlichen sich Kriminalbeamte inkognito in die Sitzungen von Anna Rothe ein, am 1. März 1902 kam es schließlich zum Showdown. Die Polizisten gaben sich zu erkennen und wollten der heftig Widerstand leistenden Anna Rothe an den verdächtigen Unterrock. Nachdem sich der Tumult gelegt hatte, wurden sie und ihr Impresario gen Moabit in das Untersuchungsgefängnis abgeführt.

Der Hauptverhandlung ein Jahr später wohnte auch Hugo Friedländer bei, der den Prozess in seinem Buch „Interessante Kriminalprozesse“ protokolliert hat. 61 vollendete und 9 versuchte Betrugsfälle, lautete die Anklage. Und obwohl Anna Rothe die apportierten Blumen selber eingekauft und dann tütenartig in ihrem Unterrock um den Leib getragen hatte, gab es immer noch Jünger, die zu ihr hielten. Betrug? Nein! Die Blumen habe doch ihr „Astralleib“ für die Geister gekauft, denn die können das ja nicht selber. Aber, polterten die Ankläger weiter, warum haben die Geisterstimmen denn allesamt „gesächselt“, auch wenn sie aus anderen Gegenden stammen sollten? Touché! Die Gegnerin lag am Boden.

Immerhin gestand der Sachverständige im Prozess Anna Rothe zu, dass sie bei ihren Séancen geglaubt habe, ein gutes Werk zu tun. Als Max Jentsch als ihr Impresario ins Spiel kam, könnte es dann von der hysterischen Selbstsuggestion zum Superstar der Spiritisten nur ein schmaler Grat gewesen sein, der am 28. März 1903 für Anna Rothe mit einer Gefängnisstrafe von eineinhalb Jahren endete.

In seinem 1910 erschienenen Buch „Köpfe“ verteidigte der Berliner Schriftsteller Maximilian Harden Anna Rothe. Zunächst witzelt er mit „von den Spirituosen zum Spiritismus“ sehr treffend über das ungleiche Gespann Rothe/Jentsch, dann wird sein Text schnell eine eindeutige Verteidigungsschrift für Anna Rothe. Man hätte sie seiner Meinung nach freisprechen müssen, weil Jentsch der „Ausbeuter“ der Frau gewesen sei. Tatsächlich sprach für sie, dass sie am Anfang ohne ihn kein Eintrittsgeld gefordert hatte. Und was ist überhaupt mit dem guten alten Shakespeare, der seinen Hamlet „Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt“ sinnieren ließ?

Was auch immer Anna Rothes Beweggründe gewesen sein mögen, geschadet hat sie ihrer wohlhabenden Klientel finanziell jedenfalls nicht, und so manch einer mag die Séance wirklich getröstet verlassen haben. Viel unmenschlicher erscheint da doch, dass ihr die Behörden die Teilnahme an der Beerdigung ihrer Tochter verwehrten, die am 19. Juni 1902 im Alter von nur 22 Jahren gestorben war. Das wird die von Maximilian Harden in seinem Buch als „kränklich aussehend“ beschriebene Frau, der die Ärzte in der Charité „Hysterie“ bescheinigten, zusätzlich geschwächt haben. Tatsächlich ist Anna Rothe nur neun Monate nach ihrer Haftentlassung am 16. Dezember 1904 mit 54 Jahren in Wilmersdorf gestorben.

Renaissance des Aberglaubens

Nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs erlebte die „Herrschaft des Aberglaubens“, wie der Vorwärts schrieb, eine entfesselte Renaissance. Zahlreiche Mahner wie etwa die Schriftstellerin Doris Wittner, die 1921 in der Berliner Volkszeitung besonders drastisch vor dem „okkultistischen Unfug“ warnte, der wie der Gebrauch narkotischer Gifte „zu einer die Volksgesundheit gefährdenden Tagesmode“ geworden sei, konnten die Faszination nicht verhindern.

Zeitgleich kam noch ein bis dato unbekanntes Phänomen hinzu: die „Kriminaltelepathie“. Trance-Medien boten an, bei der Verbrechensaufklärung zu helfen. Am 3. April 1929 verbot aber das Preußische Ministerium des Innern der Berliner Polizei per Erlass, „Hellseher, Telepathen und dergleichen zur Aufklärung strafbarer Handlungen heranzuziehen“.

Dass demnach ein derartig fulminanter Auftritt einer Hellseherin, wie er vergangenes Jahr in der dritten Staffel von „Babylon Berlin“ neben sonstiger Geisterseherei und dem Besuch einer Séance zu sehen war, im Berliner Polizeipräsidium stattgefunden haben soll, ist also reine Fiktion.

Schade eigentlich, Anna Rothe hätte das bestimmt gefallen.

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