Gewaltszenarien in den USA: Systemwechsel statt Bürgerkrieg

Der Rechtsruck bei den US-Republikanern hat nicht mit Donald Trump begonnen. Ein Klima der Einschüchterung prägt die Partei.

Illustration: Auf dem Boden liegt ein Kreuz, eine US-Fahne, ein Fell mit Hörnern. Und es steht ein großes Q dazwischen

„Nein, die Vereinigten Staaten stehen nicht am Rande eines Bürgerkrieges“ Foto: Katja Gendikova

Je dramatischer die Worte, desto tiefer die Erschütterung. Der Wunsch, diesen Eindruck zu erwecken, hat schon zu vielen sprachlichen Fehlgriffen geführt. Wie sich derzeit am Beispiel der USA zeigt. Ob Bürgerkrieg, Aufstand oder Putsch: Kein Begriff schien in den letzten Tagen zu vollmundig, um die Lage dort zu beschreiben – in Kommentaren und Moderationen innerhalb und außerhalb des Landes. Falsch sind diese Begriffe allesamt.

Nein, die Vereinigten Staaten stehen nicht am Rande eines Bürgerkrieges, und es droht dort auch kein Putsch. Das ist jedoch keineswegs beruhigend. Denn die Demokratie in den USA ist tatsächlich gefährdet. Allerdings aus Gründen, die nicht in eine knappe Überschrift passen.

Beispiel Bürgerkrieg. Ein solcher setzt in einem modernen Staat voraus, dass – mindestens – eine von zwei Voraussetzungen erfüllt ist: ein Machtkampf innerhalb der Armee, möglichst zwischen annähernd gleich starken Kräften, oder ausländische Militärhilfe in nennenswertem Umfang für diejenigen, die einen Umsturz planen. Von beidem kann in den USA keine Rede sein.

Kaum eine andere Institution genießt vergleichbar hohe Anerkennung über Parteigrenzen hinweg wie das US-Militär – und zwar unabhängig davon, wie die Mehrheit der Bevölkerung zu einem konkreten Kriegseinsatz im Ausland steht. Ein Dienst an der Waffe gilt als patriotisch, und Patriotismus ist ein in den USA durchweg positiv besetzter Begriff. Hinzu kommt, dass die Armee besonders viele Chancen für Integration und Aufstieg bietet. Auch das bindet widerstreitende Kräfte innerhalb einer Gesellschaft.

Rechtsextremisten bekämpfen

Ja, es gibt Rechtsextremisten in der US-Armee – ebenso wie in vielen anderen Organisationen. Übrigens gibt es die auch in der Bundeswehr. So schräg der Vergleich in vielerlei anderer Hinsicht wäre, so stimmig ist er in dieser: Rechtsextremismus zu tolerieren birgt zum einen die Gefahr, dass er sich ausbreitet. Und zum anderen die, dass Waffen und anderes Material für Anschläge entwendet werden. Deshalb muss er bekämpft werden.

Weiter gehende Fantasien wären jedoch absurd. Die Gebirgsjäger werden nicht demnächst mit Waffen im Anschlag die Zufahrt zur Feldherrnhalle in München kontrollieren, die Infanterie bewacht nicht den Kurfürstendamm – und die US-Armee wird sich nicht über den Potomac hinweg beschießen. Wenn es in der gegenwärtigen Krise der Vereinigten Staaten lediglich darum ginge, derlei zu verhindern: Sie wäre bereits bewältigt. Rechte Milizen könnten gar nicht so schnell unter ihre Betten kriechen, wie sie das gerne täten, wenn das US-Militär sich ernsthaft räusperte.

Aber es geht eben nicht alleine darum. Nicht nur um Bürgerkrieg und nicht nur um das Militär und andere Sicherheitskräfte, wenn von politischer Gewalt in den USA die Rede ist. Ohne Mühe vorstellbar, sogar wahrscheinlich, sind Szenarien, in denen Leute ermordet werden, die von Rechtsextremisten als Feinde betrachtet werden. In denen Läden geplündert, Autos angezündet und Städte insgesamt „unsicher gemacht“ werden. Derlei genügt, um die Bevölkerung zu verstören. Und das politische und zwischenmenschliche Klima zu vergiften. Schlimm genug.

Institutionen funktionieren

Aber wenn das halbleere Glas als halbvoll beschrieben werden soll, dann lässt sich im Hinblick auf die USA in den vergangenen Tagen und Wochen sagen: Die Institutionen haben funktioniert. Die Gerichte haben Recht gesprochen, und zwar unabhängig davon, ob Richterinnen und Richter von Donald Trump ins Amt berufen worden waren oder nicht. Die Wahlaufsicht in den einzelnen Bundesstaaten hat ihre Aufgabe erfüllt. Zur Lichtgestalt wurde Brad Raffensperger, Innenminister von Georgia, der schamlosen Drohungen von Präsident Donald Trump standgehalten hat. Wäre er allerdings alleine und nicht einer von vielen, dann gäbe es kein brauchbares Wahlergebnis. Das alles ist nicht wenig.

Wenn das halbvolle Glas hingegen als halbleer beschrieben werden soll, dann muss festgestellt werden, dass die Sicherheitskräfte auf gewaltsame rechtsextreme Demonstrationen unfassbar schlecht vorbereitet waren. Schlimmer noch: Die Anzeichen mehren sich, dass zumindest einige Sicherheitskräfte gemeinsame Sache mit den Demonstranten gemacht oder diese wenigstens augenzwinkernd haben gewähren lassen. Möglicherweise waren sogar Kongressmitglieder den Gewalttätern behilflich.

Ja, Donald Trump hat seine Basis aufgehetzt. Aber er war und ist offenbar kein Einzeltäter. Über die interessanteste Frage in diesem Zusammenhang wird bislang kaum geredet: wer eigentlich im Hintergrund die Fäden hinter derlei Aktionen zieht. Als sicher kann gelten, dass dies weder der viel beachtete Mann mit Hörnern ist noch der Mann, der sich des Schreibtischs der demokratischen Politikerin Nancy Pelosi mithilfe seiner Füße bemächtigt hat. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass diese Leute die taktischen und intellektuellen Fähigkeiten zu einer solchen Aktion haben? Nein, das kann niemand glauben.

Koordinierte Aktionen

Aber wer hat dann die Demonstrationen geplant, die derzeit weltweit Schlagzeilen machen? Wer koordiniert Proteste, die – angeblich – in den nächsten Tagen in allen 50 Bundesstaaten der USA stattfinden sollen? Derlei komplexe Aktionen werden nie – niemals – allein über soziale Medien verabredet. Wer steckt dahinter? Warum ist der Stand der Ermittlungen offenbar so unzureichend, dass die Öffentlichkeit davon noch nichts erfahren darf und die Sicherheitsbehörden dazu schweigen?

Es sieht inzwischen so aus, als sei es nicht mehr als ein glücklicher Zufall, dass es nicht zu einem Massenmord an Kongressabgeordneten gekommen ist. Aber selbst in einem solchen Fall hätte das nicht zum Ausbruch eines Bürgerkrieges führen müssen. Das Konzept der „designated survivors“, der Notfallüberlebenden für den Fall eines Terroranschlags mit weit reichenden Folgen, wirkt im tiefsten Frieden bizarr. Die Idee dahinter ist jedoch wirkmächtig: Niemand ist unersetzlich. Das System ist stärker als alle Einzelnen.

Warum sich dann überhaupt aufregen? Ist doch alles gut gegangen. Ein paar Irre, die demnächst vor Gericht gestellt werden, sind in ein öffentliches Gebäude getrampelt. Ein Präsident, an dessen Zurechnungsfähigkeit gezweifelt werden darf, gibt sein Amt in der nächsten Woche ab. Seine Partei wird damit beschäftigt sein, die eigenen Wunden zu lecken. Die neue Führung nimmt alle wichtigen Aufgaben in Angriff und lässt die Vergangenheit hinter sich.

Schön wär’s. Dauerhafte Verunsicherung und die Angst vor Anschlägen verändern eine Gesellschaft. Nicht von heute auf morgen, sondern langsam, schrittweise, schleichend. Einige republikanische Kongressabgeordnete haben angeblich nur deshalb nicht für eine Amtsenthebung von Donald Trump gestimmt, weil sie Angst um die Sicherheit ihrer Familien und ihre eigene hatten. Das ist – oder wäre – verständlich. Auch verzeihlich.

Angst um die Familien

Und wie sieht es aus, wenn eine Neuordnung von Wahlkreisen, die Minderheiten benachteiligen, geplant ist und Widerspruch dagegen lebensgefährlich wird? Oder wenn die Registrierung von Wählerinnen und Wählern an Bedingungen geknüpft wird, die weiße Mittelschichtler privilegieren? Werden dann wieder einige von denen, die mitreden und entscheiden dürfen, Angst haben – um sich selbst und ihre Familien? Sollte das in Texas oder Florida so sein, dann wird das keine weltweiten Schlagzeilen machen. Dann interessiert das niemanden.

Die wirklich bedrohliche Frage der letzten Tage lautet deshalb: Warum distanziert sich die republikanische Partei noch immer mehrheitlich nicht von Donald Trump? Lediglich aus Angst vor einem Mann, der seine Macht verloren hat, der möglicherweise demnächst pleite ist und sich im Bundesstaat New York voraussichtlich unter anderem wegen Steuerhinterziehung verantworten muss? Ach nein, doch wohl kaum. Sondern eher, weil der oder die einzelne republikanische Abgeordnete fürchtet, Amt und Würde zu verlieren, wenn er oder sie sich dem Mehrheitswillen entgegenstemmt.

Die Öffnung der republikanischen Partei zum Rechtsextremismus hat nicht mit Donald Trump begonnen. Leider. Sondern sehr viel früher, allerspätestens mit der Gründung der Tea-Party-Bewegung 2009, der es gelungen ist, bestimmenden Einfluss auf die Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten der Partei zu nehmen. Sie hat die US-Republikaner gekapert – wer sich gegen sie stellte, hatte keine Chance.

Was bedeutet: Der Rechtsruck der republikanischen Partei beginnt und endet nicht mit Donald Trump. Und wer immer es ist, der oder die hinter der Tea Party, der Präsidentschaft von Donald Trump und dem „Sturm“ auf das Kapitol steckt: Ein Bürgerkrieg oder ein Putsch wird für den Erfolg nicht gebraucht. Angst, Verunsicherung und Wut genügen. An derlei Gefühlen herrscht kein Mangel.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

Am 3. November 2020 haben die USA einen neuen Präsidenten gewählt: Der Demokrat Joe Biden, langjähriger Senator und von 2009 bis 2017 Vize unter Barack Obama, hat sich gegen Amtsinhaber Donald Trump durchgesetzt.

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