Jagoda Marinić über realen Wandel: Sanfte Radikalität

Jagoda Marinić gehörte zum „utopischen Teil“ der Gesellschaft. Zu denen, die schön erklären, wie es besser ginge. Dann bekam sie von der Stadt Heidelberg den Auftrag, „Change“ in der Realität hinzubekommen. Als erstes änderte sie sich selbst.

»Klar seid ihr willkommen. Wie alle anderen auch«: Heidelberger Schüler überqueren auf dem Weg zum Sportunterricht den Neckar. Foto: Anja Weber

Von JAGODA MARINIć

Wandel ist ein großes Wort. Wer sich in diesen Zeiten Changemaker nennt, erhöht seinen Marktwert, strahlt »Leadership« aus und berichtet auf Hochglanz-Kongressen von seinen brillanten Strategien. Zu einer dieser Strategien zählt gemeinhin: »Bleib nie länger als drei Jahre. Wenn du länger bleibst, hast du das System zu gut verstanden, um es noch zu stören.»

Das stimmt, zum Teil. Es könnte aber auch heißen: »Wenn du nur drei Jahre bleibst, hast du das System nur gestört, aber noch nicht stabilisiert.«

Natürlich stört man nie so kolossal wie in den ersten Jahren, in denen man kaum etwas von den Menschen weiß, denen man das Glück des Wandels bescheren will. Diese Prise Hochmut gehört dazu, dieses »Ich schweb´ hier mal über eure frisch asphaltierte Straße, ich weiß, was Beton ist!« Ohne diesen Hoch-Mut, ginge es nicht. Der eigentliche Wandel aber beginnt, wenn am Ende der Straße eine Menge Menschen stehen, die nicht vor Begeisterung über deine großen Ideen platzen, sondern dich wütend anmachen und sich beschweren: »Denkst du, vor dir war niemand da?«

Wie kann man diese Gesellschaft in Bewegung setzen?

Ich will die Gesellschaft, in der ich lebe, gestalten. Ich habe nicht die Geduld, auf Zeit zu setzen. Deutschland ist in vielem träge. Daher beschäftigt mich die Frage: Wie ziehst du die Menschen am Ende der Straße mit? Und wie hörst du auf, erhaben über dem Boden zu schweben, weil deine Ideen zwar großartig und unverwechselbar sind, aber auch so weltfremd, dass sie den substanziellen Kern einer Gesellschaft vielleicht nicht berühren, geschweige denn diese Gesellschaft in Bewegung setzen?

Ich liebe Weltentrücktheit, das ist hier nicht die Frage. Die Frage ist: Bist du bereit, einen Teil davon aufzugeben, weil dir der Wandel mehr am Herzen liegt als dein Ideal, das du nur mit wenigen teilen kannst? Obama sagte einmal, sinngemäß: »Es ist wichtig, dass es die Denker und Theoretiker gibt, die ausschließlich denken. But I am deep in the mud.« Ich sitze tief im Schlamm. Seit ich in Heidelberg das Interkulturelle Zentrum gegründet und die Konzeption für das International Welcome Center mitentwickelt habe, weiß ich genau, was er damit meint.

Dabei hatte ich eine wirklich privilegierte Ausgangssituation, um Wandel zu gestalten: Die Kommune hatte 2012 eine Stelle ausgeschrieben für die Projektleitung des Interkulturellen Zentrums. Eine Person sollte her, die für die Stadt Heidelberg ein Konzept und eine Trägerschaft erarbeiten sollte. Ich wurde vom Gemeinderat gewählt. Ein Jahr hatte ich Zeit.

»Diese Stadt braucht keine Migrantenschrotthalde«: die Bühne im Interkulturellen Zentrum in Heidelberg Foto: Anja Weber

Ich gehörte bis dahin zum utopischen Teil der Gesellschaft

Ich gehörte bis dahin eher zum utopischen Teil der Gesellschaft: Publizistin, Rednerin, Schriftstellerin. Eine von jenen also, die auf die zahlreichen Vorträge in der Bundesrepublik eingeladen werden, um den anderen, die täglich ihre Arbeit machen, zu erzählen, wie es besser geht. Es reizte mich, die Seite zu wechseln, meine theoretischen Überzeugungen zu überprüfen.

Mein Thema ist die vielfältige Stadtgesellschaft der Zukunft. Lässt sich etwas wie friedliches Zusammenleben aktiv gestalten? Wie entsteht aus den politischen Floskeln »Zusammenhalt« und »gemeinsames Identitätsgefühl« etwas Gelebtes? Zumal in einer Stadt wie Heidelberg, in der jeder Dritte Migrationsgeschichte hat. Ich sprach in Lösungswege suchenden Bundesministerien über Begriffe für die Einwanderungsgesellschaft, in Kulturhäusern über Vielfalt. Immer mit viel Applaus. Nur kam dieser Applaus von jenen, die ohnehin dachten wie ich. Was mich »on the ground« erwartete, habe ich nicht kommen sehen. Doch es ist essenziell, den »ground« einer Demokratie zu verstehen, wenn man Impulse für den Wandel setzen will.

Eine Kommune ist ein lebendiges, atmendes Geschöpf. Ich stelle mir eine Stadt inzwischen vor wie einen menschlichen Körper: Jeder »Eingriff« hat Auswirkungen auf andere Stellen des Körpers. Die Harmonie herzustellen, bedeutet, dass du diesen Körper studierst, das Eigenleben der Organe verstehst sowie ihr Zusammenspiel, die Zellen beobachtest, manches veränderst, anderes in Frieden lässt.

»Wer Wandel will, muss viele finden, die dem Wandel trauen«: Jagoda Marinic Foto: Anja Weber

Eine Kommune ist ein lebendiges, atmendes Geschöpf

Ich setzte im ersten Jahr mehrere öffentlichkeitswirksame interkulturelle Programme auf. Wenn ich morgens sah, dass sie in der Lokalpresse gut positioniert waren, dachte ich erst: »Yes, first mission accomplished.« Die Leute nehmen es wahr. Doch kaum betrat ich das Büro, erwartete mich eine aufgeregte Kollegin mit hochrotem Kopf: »Herr Soundso hat angerufen. Total aufgebracht ... ausfällig. Du sollst dich melden!« Ich schloss die Tür zum Büro. »Was wollen die alle«, dachte ich, »immer gegen das Neue.«

Es dauerte natürlich länger als ein Jahr. Dabei waren die ersten zwei Jahre ein einziges Treten auf fremde Territorien. Öffentlicher Raum ist begehrt und Mangelware. Wenn immer ich meinte, Etappensiege feiern zu können, rief wieder irgendeiner an: »XY ist stinksauer!« Irgendwann sagte ich trotzig: »Wisst ihr was? Ruft mich an, wenn es etwas Neues gibt.«

Es gibt eine Schmerzgrenze auch im Bodenkontakt. Bei einem Anlass sagte ein Bürger zu mir: »Lassen Sie es bleiben, diese Stadt braucht keine Migrantenschrotthalde.« Nach diesem Satz ließ er mich stehen, als hätte ich ihn beleidigt. »Wie bringst du so einen Menschen auf deine Seite?«, fragte ich mich, nachdem meine Wut verebbt war. Dieser anfangs so beleidigende Mensch war später übrigens einer der ältesten Gäste, die sich auch an Wochenenden Zeit nahmen, ein interkulturelles Projekt im öffentlichen Raum zu besuchen. Einer, der mithalf, als es darum ging, das Interkulturelle Zentrum zu institutionalisieren.

Wandel ist für viele schwer zu ertragen

Als ich den Job annahm, ging ich davon aus, »der Wandel« und das Projekt seien gewollt. Mit der Zeit verstand ich: Selbst wenn Städte oder Länder »Wandel wollen«, heißt das noch lange nicht, dass sie den Aggregatzustand »Wandel erzeugen« ertragen. Die politische Idee eines begeisterten Dezernenten muss noch lange nicht heißen, dass die Mehrheit mitgehen wird.

Beim Einkaufen fuhren mich manchmal Unbekannte an: »Ah, Sie sind doch die, die unsere Steuergelder den Migranten geben will.«

Ich rotzte zurück: »Keine Sorge, ich verwende nur das Steuergeld der Migranten für Migranten. Gibt ja genug hier.« Trotz Jahrzehnten Einwanderungsgeschichte sind es viele in Deutschland nicht gewohnt, Geld für Diversitätsthemen auszugeben. Es gab Verantwortungsträger, die sich zurücklehnten und sagten: »Ich habe schon viele Projekte nach drei Jahren wieder in der Schublade landen sehen.« Das klang meist nicht einmal wie eine Drohung, eher wie Gelassenheit, weil sie nicht an Mehrheiten für innovative Projekte glaubten, die aus Nischen kam. Ich musste also daran arbeiten, dass Verantwortungsträger verstehen, dass sie ihre Wählerinnen und Wähler enttäuschen, wenn man ihnen dieses Projekt verweigert.

Altdeutsche Postkartenidylle Heidelberg Foto: Anja Weber

Eine Mehrheit für eine reale Forderung

Ich hatte die Jahre zuvor in der progressiven Nische der Menschen mit Migrationsgeschichte verbracht. Da denkt man – oft zu Recht – nicht so. Da ruft man den Leuten auf den Kopf zu, wie rückständig sie sind, weil man – auch oft zu Recht – keine Geduld mehr hat. Man erhebt sich über Verletzungen, indem man jene verletzt, die verletzt haben.

Ministerien und Kultureinrichtungen nutzen diese Wut gerne als Feigenblatt: Man lässt sich gerne ein paar Vorwürfe machen von den Wütendsten, weil man weiß, hinter die Wütendsten stellt sich in naher Zukunft keine Mehrheit. Ich aber wollte eine Mehrheit für eine reale Forderung. Und finanzielle Mittel. Nicht erst in dreißig Jahren.

Das Projekt, das ich umsetzen sollte, stand bereits seit zwanzig Jahren als Forderung im Raum. Es wurde nie auf die politische Tagesordnung gehoben. Ich wusste, wenn ich es vergeige, würde man dem Projekt keine zweite Chance geben. Knapp hundert interkulturelle zivilgesellschaftliche Vereine hingen an der Idee. Der Ausländerbeirat. Ein Bürgermeister für Integration, der sich die Verwirklichung des Projekts zum Ziel gesetzt hatte und ein Amt für Chancengleichheit, das im Vorfeld die zentralen Bedarfe analysiert hatte, um das Ganze überhaupt auf den Weg zu bringen.

160.000 Einwohner, darunter 39.000 Studierende. Fünftgrößte Stadt Baden-Württembergs und Sitz des umliegenden Rhein-Neckar-Kreises. Stark im wissensintensiven Dienstleistungsbereich und in Forschung, unter anderem an der Universität Heidelberg, 1386 gegründet. 40 Prozent der Leute sind jünger als 30. Führende Partei im Gemeinderat sind die Grünen (32 Prozent) vor CDU (15 Prozent).

Das Einwanderungsland Deutschland braucht Orte der gelebten Vielfalt

Was mich antrieb: Das Wissen darum, dass Deutschland, dieses Einwanderungsland, Orte der gelebten Vielfalt braucht. Integration wurde in Deutschland jedoch immer aus der Defizitperspektive finanziert, das heißt: Nur der schwache Migrant erhält Geld.

Es gibt kaum eine Art, Mittel zu verwenden, wenn man von den Ressourcen der Menschen ausgeht, also Räume schaffen will, in denen Mittel aufgewandt werden, die Menschen helfen, sich als Kompetenzträger zu präsentieren. Ein alter Einwanderer sagte mir eines Tages, warum er das Projekt unterstützt hat: »Ich hatte immer den Eindruck, man will mir in Deutschland gerne die Beine abhacken, damit man mir Krücken geben darf. Ich wollte aber immer zeigen, was ich kann.« Dieses Paradigma vom Defizit zu brechen, das war für mich ein zentrales Anliegen, das ich mit diesem Projekt verfolgte.

Ich wusste anfangs nicht, wie ich selbst wohlgesonnene Bürgerinnen und Bürger begeistern könnte, wenn sie schon nach einer Lesung der Zeit-Journalistin Alice Bota aus ihrem Buch Wir neuen Deutschen besorgt fragten: »Heißt das denn, in den Schulen wird dann polnisch und nicht mehr deutsch gesprochen?« Bota hatte auf der Bühne den Gedanken geäußert, Schulen könnten die Muttersprachen der Kinder stärker einbeziehen. Mehrsprachigkeit – auch so ein Thema, für das schwer Mehrheiten zu gewinnen sind.

Changemaker Jagoda Marinic Foto: Anja Weber

Projekte, um den Ängsten der Mehrheitsgesellschaft zu begegnen

Ich sammelte diese Angstreaktionen der Mehrheitsgesellschaft wie früher Autokarten und schaffte Projekte, um diesen Ängsten zu begegnen. Ich versuchte sie auswendig zu lernen, mit ihnen zu spielen, sie zu ranken, zu verstehen, wie sie gestrickt sind, warum, und welche Erlebnisräume geschaffen werden müssen, um die Angst in den Hintergrund treten zu lassen. Nur so könnte eine Stimmung entstehen, in der Menschen den Wandel nicht als Störung, sondern als unerwartete Zugabe erleben.

Ich musste mich verabschieden von der liebgewonnenen Vorstellung, Underdog zu sein. Natürlich hätte ich so ein Haus beim Aufbau zur Plattform für die Wütendsten machen können. Doch Strategie heißt auch, zu wissen, wie man seine Idee verwirklicht bekommt und welche Themen und emotionalen Schichten dafür warten müssen.

Sanfte Radikalität, das ist für mich die Entscheidung, eine Idee oder ein Projekt wirklich in die Welt zu bringen, statt Radikalität nur dafür zu nutzen, jene anzuprangern, die anders denken. Wer Wandel will, muss zu jenen finden, die für seine Sache zu begeistern wären. Wenn erst einmal viele zusammenstehen, und dem Wandel trauen, entsteht ein Raum, in dem auch die Wut und die Verletzten ihren sicheren Ort finden. Weil sie von dieser Mehrheit endlich geschützt und nicht bekämpft werden.

Blick auf Neckarbrücke Foto: Anja Weber

Willkommenskultur statt Abschreckung

Die Stadt Heidelberg und der Gemeinderat entschieden sich nach der Aufbauphase dafür, das Interkulturelle Zentrum (IZ) als städtische Einrichtung zu institutionalisieren. Einstimmig, keine Gegenstimmen. Das IZ wurde an einem der urbansten und zentralsten Standorte der Stadt realisiert, in einer ehemaligen Tabakfabrik. Doch nicht nur das: Mit dem IZ zog auch die damalige Ausländerbehörde in neue Räume auf das Gelände. Aus den drei Säulen Kulturarbeit, Zivilgesellschaft und Behörde entstand das International Welcome Center, es ist eines der zentralen Instrumente der Stadt, Vielfalt zu organisieren, zu fördern und ihr ein Gesicht zu geben.

Ausländer stehen bei ihren Behördengängen nicht mehr in den hässlichen Fluren, die sich die alte Bundesrepublik zur Abschreckung ausgedacht hatte. Sie sitzen in einem Wartebereich, es gibt Kaffee, Ausstellungen und abends Kulturveranstaltungen. Das Internationale Welcome Center ist heute eines der Vorzeigeprojekte der Stadt. Wenn sich jetzt Ausländer schlecht behandelt fühlen, können sie die Stadtverwaltung an ihren eigenen Zielen messen. Es wurden weitere Strukturen geschaffen, die gegen Diskriminierung kämpfen.

Es gibt viele Begegnungen, die mir gezeigt haben, dass es sich lohnt, manchmal zurückzustecken und politische Lager zu überwinden, wenn man ein größeres Ziel verfolgt. Von einer möchte ich noch erzählen: Ich war in Hamburg auf einer Podiumsdiskussion, als ich im eher bürgerlichen Publikum einen jungen Mann im Streetlook entdeckte. Nach der Veranstaltung stellte er sich vor: Seine Großeltern waren türkische Gastarbeiter. Seine Freunde in Heidelberg hätten ihm, es gäbe da jetzt einen Ort, wo Jungs wie er, aber auch seine Eltern »so wirklich willkommen« sind, »was machen dürfen«. Er wollte mich einfach mal kennenlernen. Mir die Hand schütteln.

»Ja«, sagte ich, »klar seid ihr willkommen. Wie alle anderen auch.«

JAGODA MARINIć ist Multiperspektivistin. Sie schreibt Romane, Essays und Kolumnen und hält international Vorträge zu Themen wie Diversität und Feminismus. In Heidelberg gründete sie für die Stadtverwaltung das Interkulturelle Zentrum, das sie bis heute leitet.

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