Was
ist
heute noch spontan?

In der Coronapandemie ist die spontane Ausgestaltung des Lebens oft nicht mehr möglich, selbst Alltagshandlungen wie Einkäufe müssen genau geplant werden. Aber es sind auch neue Facetten der Spontaneität entstanden

Von Stefanie Schweizer

Schnell nach Feierabend im Supermarkt was Kleines kaufen – das macht man zurzeit nicht. Lebens­mit­tel­ein­käufe werden genau geplant. Es gilt abzuwägen, zu welcher Uhrzeit man auf möglichst wenige Menschen trifft. Man geht lieber seltener einkaufen, dafür aber gleich richtig. Unverzichtbar ist dabei die Maske, ohne die es nicht geht. Muss man bedenken. Effektives Einkaufsverhalten ist gefragt, denn man will die Zeit mit Abstand zwischen den Warenregalen möglichst kurz halten.

Die Coronaregeln beherrschen fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens, sie werfen Fragen auf: Ist etwas gerade erlaubt? Mit wie vielen Haushalten darf man sich treffen? Und wo können Treffen stattfinden, wenn Cafés und Restaurants geschlossen sind? Oh, die Paketbotin trägt Maske, muss ich meine auch aufsetzen? Kann ich mal eben zum Nachbarn, um mir Mehl zu borgen, oder macht man das jetzt gerade nicht?

Die Pandemie beschränkt die Möglichkeit für Spontaneität in vielen Bereichen, eröffnet in anderen aber auch neue. Die Ambivalenz, die sich hinter dieser Dynamik verbirgt, offenbart sich exemplarisch im Homeoffice. Steigende Infektionszahlen zwingen Ar­beit­neh­me­r*in­nen vom Innenstadtbüro an den Schreibtisch im eigenen Ess- oder WG-Zimmer, in der Küche oder mit viel Glück im heimischen Büro. Doch bietet das auch die Möglichkeit, mehr und auch mal spontan Sport zu treiben, weil im Homeoffice freiere Zeiteinteilung möglich ist. Zwischen zwei Calls kann man eine Wäsche in die Maschine geben, den Müll runterbringen oder sich auf der Couch ausruhen. Das ist erleichternd, keine Frage, aber ist das die Spontaneität, die viele Menschen während der Pandemie vermissen?

Spontaneität, das ist, neulateinisch, „die Freiwilligkeit, die Selbsttätigkeit, die Selbstbestimmung im Gegensatz zur Rezeptivität“, so steht es im Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Die Freiheit also, dem persönlichen Antrieb zu folgen. Spontan zu sein gilt meist als positives Gegenstück zu einer Lebensweise, die von Regeln und Pflichten bestimmt wird.

Auch bei der Wahl von Partner*innen sowie Freun­d*in­nen gilt Spontaneität als positive Eigenschaft, die sich so man­che*r ins Datingprofil schreibt. Ob eine Person dann tatsächlich spontan handelt, hängt von verschiedenen Faktoren und den Anforderungen der jeweiligen Situation ab. Die Neuropsychologin und Neurowissenschaftlerin Annerose Engel hat sich im Zuge ihrer Arbeit am Universitätsklinikum Leipzig sowie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften mit dem Thema Spontaneität auseinandergesetzt. Spricht man mit ihr über die neurologischen Vorgänge, die spontanes Handeln bestimmen, unterscheidet sie zwischen intern und extern gesteuerten Handlungen. „Extern gesteuerte Handlungen passieren in Reaktion auf unsere Umwelt und intern gesteuerte Handlungen sind die Handlungen, die wir intern steuern, also frei wählen“, sagt Engel.

War das Leben vor Corona tatsächlich so viel spontaner?

Eben jenen von innen heraus gerichteten Aktivitäten widmete sie sich in einer Studie, in der sie musikalische Improvisation als intern gesteuerte Handlung untersucht. Es zeigt sich, dass geplante und spontane Aktivitäten eine unterschiedliche Qualität haben. „Die spontanen – ungeplanten – Improvisationen waren variabler sowohl im Timing als auch in der Lautstärke. Das macht sie vielleicht auch ausdrucksstärker und interessanter als die geübten und überlernten Melodien“, so fasst Engel es zusammen.

Diese Differenz ist mit Sicherheit ein Grund dafür, warum spontane Aktivitäten und Ereignisse in der Regel positiv konnotiert sind: Sie repräsentieren den selbstermächtigten Ausbruch aus der Routine – unabhängig davon, ob man nun die Note Fis ein drittes Mal erklingen lässt oder sich spontan mit Freun­d*in­nen auf ein Getränk trifft. Und fühlt sich nicht gerade Letzteres auch immer ein bisschen unbeschwerter und unkomplizierter an, als nach ewigem Hin und Her einen Monat im Voraus einen Termin festzulegen?

Wer im Coronajahr 2020 einen Kalender führte, musste oft Korrekturen für Termine und Pläne vornehmen. Vieles wurde gestrichen, fiel aus, wurde auf nächstes Jahr verschoben. Auf Social-Media-Kanälen melden sich Menschen zu Wort, deren Terminkalender sich für spontanes Spazierengehen oder ungeplante Radtouren lichtet. Andere sehnen sich mit Erinnerungsfotos unter dem Hashtag #takemeback zu Erlebnissen aus dem Jahr 2019 zurück. Damals, als alle noch spontan ins Lieblingscafé gehen konnten.

Aber war das Leben der Menschen vor Corona tatsächlich so viel spontaner? Die meisten Ereignisse des Alltags sind festgelegt, Spontaneität manifestierte sich auch vor der Pandemie eher in kleinen Alltagsinseln als in einem permanenten Lebensgefühl.

Die sich ständig verändernden Regeln zur Eindämmung der Pandemie fordern von jeder und jedem auch ein hohes Maß an Flexibilität – was gestern noch ging, geht heute schon nicht mehr. Es hinterlässt bei vielen das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Wie sehr das aufs Gemüt schlägt, hängt davon ab, wo man sich auf dem Spektrum der Spontaneität verortet. „Ein Mensch, der ein größeres Bedürfnis nach Kontrolle hat, wird vermutlich weniger Spontaneität brauchen, um glücklich zu sein. Menschen, die impulsiver sind und Abenteuer mögen, werden wahrscheinlich mehr Spontaneität brauchen“, erklärt Engel. Der Alltag letzterer Personen gerät mit Corona ins Ungleichgewicht.

Pfeile auf den Fußböden in Münchens Geschäften: Einfach geradeaus laufen war gestern

Bestand zuvor durch Spontanaktionen im Wechsel mit Routine ein Ausgleich zwischen Aufregung und Regeneration, so schlägt die Waage nun oft in eine Richtung aus. Für die einen verhindert Corona Spontaneität, anderen zwängt die Pandemie ungewollt Spontaneitätsdruck auf. Menschen, die etwa einer Risikogruppe angehören oder mit Risiko­pa­tien­t*in­nen zu tun haben, müssen private Besuche und Kontakte abwägen und planen; in manchen Fällen entscheiden sich die jeweiligen Personen vor einem Treffen für eine zweiwöchige Selbstisolation. Diese langfristige Planbarkeit hingegen wünscht sich so manche Familie, wenn ein Coronafall in der Schule kurzfristig neue Auflagen nötig macht.

„Gegensätze sind im Leben immanent. Wir leben ständig mit solchen vermeintlichen Widersprüchen. Erlebnisse können schön und traurig sein. Und wir können eben auch alte Möglichkeiten für Spontaneität vermissen und gleichzeitig neue Notwendigkeiten für Spontaneität anstrengend finden“, erklärt die Psychologin Friederike S. Bornträger, die fachliche Beratung für die Arbeitswelt anbietet.

Rückblickend lässt sich demnach der spontane Charakter einiger Prä-Corona-Aktivitäten in Frage stellen: Waren all die Grillabende wirklich so ungeplant? Zwar war früher noch keine Onlinereservierung für den Freibadbesuch nötig, aber hatte man nicht doch die Wetter-App zwei Tage vorher im Blick, um an heißen Tagen als erste*r im Becken zu sein?

Die Gegensätze des Alltags, wie Friederike S. Bornträger sie beschreibt, zeigen sich auch, wenn es ums Reisen geht. Eine Art des Reisens etwa hat einen ganz anderen Charakter, als es ihr Name vorgibt: Wer ein Schnäppchen machen will, bucht last minute. Laut einer Analyse der Flugsuchmaschine Skyscanner liegt der günstige Buchungszeitraum für Flüge ab Deutschland aber ganze neun Wochen vor Reisebeginn. Das widerspricht der Vorstellung vom spontanen Last-Minute-Urlaub, in der man Sachen packt, das Ticket bucht und abhebt. Und wer sich an so manche Schlange beim Mietwagenverleih am Flughafen erinnert, dem dämmert, dass spontane Reisen auch schon vor Corona zu einem romantischen Klischee idealisiert wurden.

Fotos: Alessandra Schellnegger/SZ Photo Creative/mauritius images

Jetzt zeigen die Absatzzahlen der Caravaningbranche, dass die Coronapandemie Reisespontaneität neu aufleben lässt: 4.900 Reisemobile sind im besten Quartal der Branche laut des Caravaning-Industrie-Verbands allein im Oktober 2020 zugelassen worden. Das sogenannte Van-Life steht für Spontaneität an sich.

Für Psychologin Bornträger zeigt sich in dem wehmütigen Wunsch nach spontanen Erlebnissen und Aktivitäten eine tiefe menschliche Sehnsucht: „Die Autonomie, die in Spontaneität steckt, gehört genauso zu den psychologischen Grundbedürfnissen, wie die Verbundenheit zu anderen Menschen, die man sich früher, ohne groß nachdenken zu müssen, erfüllen konnte. Zum Beispiel, indem man einfach mal jemanden besuchte, kurz in den Club ging oder zur WG-Party einlud.“ Den eigenen Bedürfnissen unter immer wieder neuen Bedingungen nachzugehen, erfordere Kreativität. Ein wichtiger erster Schritt dafür ist, die sich durch die Pandemie eröffnenden Zeiträume zu erkennen, um spontanen Impulsen nachzugehen. Diese Lücken sind für manche Personen einfacher zu finden als für andere: Eine Studentin kann zwischen zwei Onlinevorlesungen spontane Spaziergänge, Sporteinheiten oder einem Einkauf machen, während sich diese Möglichkeit für berufstätige Eltern mit zwei Kindern weniger häufig ergibt.

Die Coronapandemie nimmt dem Menschen Möglichkeiten für spontanes Handeln. Aber zugleich entwickeln sich auch neue Facetten spontanen Handelns, die am Ende vielleicht das Miteinander stärken. Denn das Virus mit seinen Auswirkungen fungiert als Barometer für Stimmungslagen. Dahinter verbirgt sich das Potenzial, Mitgefühl für die Situation anderer zu entwickeln und damit, ganz spontan, seine Position zu manchen Dingen zu ver­ändern.