Olympia 2021 in Tokio: „Eine Absage ist möglich“

In Japan kämpft die Anti-Olympia-Bewegung gegen Gentrifizierung und die Verharmlosung der Reaktorkatastrophe 2011.

Demonstranten in der Innenstadt von Tokio

Demo an jedem 23. des Monats: Anti-Olympia-Aktivisten in Tokio Foto: Ganseforth

taz: Frau Ganseforth, in dieser Woche hat IOC-Präsident Thomas Bach Tokio besucht. Es gab eine Demonstration gegen die Ausrichtung der Spiele im Juli 2021. Wie stark ist die Anti-Olympia-Bewegung in Japan?

Sonja Ganseforth: Wie die meisten sozialen Bewegungen in Japan ist die Anti-Olympia-Bewegung relativ klein und medial auch nicht gut repräsentiert. Allerdings ist sie international recht gut vernetzt, etwa mit denen in Los Angeles und Paris, wo ja 2024 und 2028 die Sommerspiele stattfinden sollen.

Kann so eine Bewegung die Spiele 2021 in Tokio kippen?

Nein, diese Bewegung wird das wohl nicht können. Das heißt aber nicht, dass ich fest damit rechne, dass die Spiele stattfinden können. Auch wenn jetzt schon Testveranstaltungen mit größeren Zuschauermengen durchgeführt werden und es auch positive Nachrichten zu möglichen Impfstoffen gibt, halte ich es immer noch für durchaus nicht unwahrscheinlich, dass die Spiele doch nicht nächsten Sommer in Tokio stattfinden können.

Oder noch mal eine Verschiebung?

Nach derzeitigem Stand ist eine erneute Verschiebung ausgeschlossen.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio forscht unter anderem zur japanischen Anti-Olympia-Bewegung.

Ist aber nicht auch der Umgang mit der Coronapandemie ein sozialer Aushandlungsprozess? Bundesliga in Deutschland und Baseballliga in Japan finden ja weiterhin statt.

Gewiss, aber bei Olympischen Spielen sind ja noch mehr Kräfte beteiligt: das Internationale Olympische Komitee, die Stadt Tokio, viele Sponsoren, die japanische Regierung. Und die überlegen auch, ob Olympia als Superspreading-Event gut für sie wäre.

Wie darf man sich die Arbeit der Anti-Olympia-Bewegung vorstellen?

Neben Vortragsveranstaltungen und anderen Protestaktionen gibt es einen regelmäßigen Termin; am 23. jedes Monats trifft man sich an einer zentralen und beliebten Stelle in Tokio. Dort werden Reden gehalten, Schilder präsentiert, Slogans gerufen.

Warum der 23.?

Am 23. Juli 2021 soll die Eröffnungsfeier stattfinden.

Wie viele Menschen kommen da zusammen?

Nicht besonders viele. Manchmal 30, manchmal 100. Aber es gibt noch mehr Aktionen, etwa die Demo zum Besuch von Thomas Bach, die Sie erwähnt haben. Und ein Jahr vor der ursprünglich geplanten Eröffnung, im Juli 2019, fand eine Protestwoche statt: mit Demonstrationen, Vorträgen und anderen Veranstaltungen, zu der auch eine ganze Reihe von Anti-Olympia-Aktivisten aus anderen Ländern gekommen war. Das war vielleicht eine der prominentesten Aktionen.

Wer ist da aktiv?

Viele Intellektuelle sind dabei, das merken Sie schon daran, dass es oft Vorträge und Studienveranstaltungen gibt, die vermutlich kaum eine größere Öffentlichkeit erreichen. In der Regel kommen da maximal 40 Leute. Diese Vorträge werden dann auch dokumentiert und als selbst verlegte oder gedruckte Berichte bei den Veranstaltungen gegen eine kleine Spende ausgegeben. Dazu gibt es eine ganze Reihe von akademischen und halbakademischen Veröffentlichungen von Kritikern.

Für deutsche Ohren klingt das nach siebziger Jahre.

Es sind tatsächlich viele eher ältere Menschen unter den Aktivisten, die in den späten sechziger und siebziger Jahren politisiert wurden und sich schon lange in sozialen Bewegungen engagieren.

Was sind die Themen? Korruption, Gentrifizierung, Umweltzerstörung?

Es sind natürlich viele Themen, die Widerspruch hervorrufen. Ganz oft werden Korruptionsvorwürfe und die Verschwendung von Steuergeldern genannt. Da wird ja das ursprüngliche Budget massiv überschritten, die Gastgeberstädte verschulden sich und stehen am Schluss mit überdimensionierten, wartungsintensiven Neubauten da. Dem Anspruch, kompakte, nachhaltige Spiele abzuhalten, wird man wohl auch hier nicht gerecht werden können. Nun wurde sogar wegen der massiven Hitze im Juli der Marathonlauf gegen den Willen der Stadt auf die nördlichere Insel Hokkaidō verlegt.

Olympische Spiele gehen meist mit Vertreibung von sozial Schwachen aus den Innenstädten einher.

Ja, das spielt auch hier eine wichtige Rolle. Gerade nahe dem Nationalstadion wurden zum Beispiel Obdachlose aus Parks vertrieben und Sozialbauten abgerissen, damit dort Sportstätten entstehen. Mit Hilfe solcher Sportmegaevents werden Städte umstrukturiert. So wurde auch der legendäre Tsukiji-Fischmarkt weiter an den Stadtrand verlegt, zunächst um Platz für ein Verkehrsdepot für Olympia zu schaffen. Es ist das, was von einigen Kritikern „celebration capitalism“ genannt wird: In der allgemeinen Feierlaune werden in Public-private-Partnerships öffentliche Gelder in private Hände gegeben und auch strittige Gesetzesregelungen durchgesetzt, zum Beispiel eine Verschärfung der Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen.

Ist das nicht ein Anknüpfungspunkt, um mit mehr Leuten als nur Alt-68ern in Verbindung zu treten?

Durchaus. Es gibt eine ganze Reihe von verbündeten Gruppen, zum Beispiel Attac Japan. Außerdem gibt es eine lebendige Obdachlosenbewegung, die gerade im Protest gegen Olympia sehr engagiert ist. Gemeinsam mit anderen solidarischen Aktivisten leisten sie zum Beispiel Widerstand durch zivilen Ungehorsam, wenn Obdachlose aus Parks vertrieben werden, etwa nahe dem Nationalstadion. Und sie kämpfen derzeit vor Gericht gegen solche Räumungen und gegen den Abriss von Sozial­wohnungen.

Warum ist die Anti-Olympia-Bewegung dann so klein?

Wie gesagt: Soziale Bewegungen sind in Japan seit etwa den siebziger Jahren recht schwach, auch wenn gerade die Nuklearkatastrophe in Fukushima für einige Zeit doch wieder größere Massen mobilisiert hat. Viele Menschen reagieren sehr verhalten. Ein wichtiger Grund ist, dass die Radikalisierung der Japanischen Roten Armee öffentliche Proteste und politisches Engagement diskreditiert hat.

Es heißt, 80 Prozent der japanischen Bevölkerung rechneten damit, dass die Spiele abgesagt werden. Heißt das, dass die Mehrheit dagegen ist?

In einer Umfrage im August war über die Hälfte der befragten Unternehmen dagegen, dass die Spiele im Sommer 2021 stattfinden, fast 30 Prozent wollten, dass die Spiele ganz gecancelt werden. Man sieht wohl auch die erhofften Einnahmen schwinden, wenn nicht wie erwartet eine große Zahl von Zuschauern aus dem Ausland einreisen kann. Auch in der Bevölkerung macht sich mittlerweile große Skepsis breit, ob sich die Spiele durchführen lassen und ob man das in dieser Pandemiesituation verantworten kann.

In Japan sind Anti-Olympia- und Anti-AKW-Bewegung nahe beieinander, warum?

Das gibt es erstens oft personelle Überschneidungen: Viele Olympiagegner waren schon vorher in der recht lebendigen Anti-AKW-Bewegung aktiv. Aber es gibt auch einen inhaltlichen Zusammenhang: Es gilt bei den Kritikern als besonders problematisch, während eines nuklearen Notstandes, der in Fukushima ja immer noch besteht, ein solches Mega-Event abzuhalten.

Japans Ministerpräsident Yoshihide Suga hat gesagt, die Spiele zeigten, „dass Japan begonnen hat, sich von dem großen Erdbeben im Osten Japans im März 2011 zu erholen“.

Auch innerjapanisch werden die Spiele oft als „Recovery Games“ beworben. Das knüpft an die Olympischen Spiele 1964 in Tokio an, die vielen wohl als goldene Zeit in Erinnerung sein dürften. In den von der Dreifachkatastrophe 2011 betroffenen Gebieten im Nordosten Japans wird dies aber oft kritisch gesehen, da diese Normalisierungsrhetorik eher die weiterhin bestehenden Probleme zu vertuschen scheint.

Rom 1960, Tokio 1964 und dann München 1972 – es heißt ja, dass da drei postfaschistische Gesellschaften sich mittels Olympia als moderne und zivile Länder zeigen wollten.

Japan hatte sich damals der Welt tatsächlich als erneuertes Land präsentiert, das die japanische Variante des Faschismus und die verheerende Zerstörung im Zweiten Weltkrieg überwunden hatte. Stattdessen wurden technische Errungenschaften wie der Shinkansen-Schnellzug gezeigt, und Tokio wartete mit einer Monorail zum Flughafen Haneda auf.

Nun soll Olympia wieder einen Aufschwung bringen?

Die Spiele sollen dazu dienen, mit neusten japanischen technischen Errungenschaften die Welt zu beeindrucken, zum Beispiel im Bereich der Robotertechnik. Es geht aber auch um den Wiederaufbau der 2011 zerstörten Gebiete. Hier sollen dann auch einige Wettkämpfe stattfinden, zum Beispiel Baseball und Softball in Fukushima. Und Nahrungsmittel aus diesen Gebieten sollen bei den Spielen bevorzugt serviert werden, um Bedenken hinsichtlich einer eventuellen radioaktiven Kontamination auszuräumen.

Welche Rolle spielt Corona in diesen Debatten? Es gab ja zum Test Sportveranstaltungen vor großem Publikum.

Viele Kritiker sehen auch diese Testveranstaltungen, bei denen auch verschiedene technische Lösungen ausprobiert werden, sehr negativ. Da ist auch die Rede von Menschenversuchen, die das Leben der Sportler und Zuschauer gefährden.

Japan hat ja eine lange olympische Tradition, zuletzt Winterolympia 1998 in Nagano und eine gescheiterte Bewerbung von Nagoya für 1988. Gab es da auch Proteste?

Es gibt Beobachter, die einen Grund für die gescheiterte Bewerbung Nagoyas für die Olympischen Spiele 1988 auch in der mangelnden Popularität der Spiele und einer reicht breiten Protestbewegung sehen. Und auch im Vorfeld der Winterspiele in Nagano 1998 gab es Proteste, die insbesondere die Umweltzerstörung und die explodierenden Kosten problematisierten, doch kritische Stimmen wurden häufig mundtot gemacht und kritische Nachfragen waren unerwünscht. Einige der damaligen Kritiker unterstützen heute die Aktivisten in Tokio.

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