Klassiker aus Norwegen neu übersetzt: Wiesen mit tausend Geheimnissen

Tarjei Vesaas schrieb 1957 einen Roman um einen Außenseiter der Arbeitsgesellschaft. Es lohnt sich, ihn in neuer Übersetzung zu entdecken.

Ein Holzhaus direkt an einem See im Wald

Gedanken um eine beseelte Natur: Hütte am See in Norwegen Foto: imago

Mattis ist 40, Hege ist 37 Jahre alt. Die beiden Geschwister wohnen in einer Holzhütte zwischen Wäldern und einem See, ein gutes Stück von einem Dorf entfernt – hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, würde man in deutscher Tradition assoziieren, aber dies hier ist die wilde Landschaft Norwegens. Es sind in Tarjei Vesaas’ nun neu ins Deutsche übersetztem Roman „Die Vögel“ die 1950er Jahre.

Hege strickt von morgens bis abends Pullover, um sich und ihren Bruder durchzubringen. Die Mutter starb früh, der Vater verlor sein Leben „bei einem Arbeitsunfall, an den man nur mit Grausen denken konnte“ (dass es ein Arbeitsunfall war, ist wichtig; das Thema der Arbeit durchzieht, wie durch ein umgedrehtes Fernrohr gesehen, das Buch). Seitdem leben Mattis und Hege allein.

Mattis ist der Außenseiter im Umfeld des „arbeitssamen Dorfes“. Bei den „Klugen und Starken“ – eins der Leitmotive, die Vesaas anschlägt – kommt er nicht mit. „Mattis, Dussel“, denkt er selbst.

Hege bemüht sich immer wieder, ihren Bruder dazu zu überreden, es mit Arbeit wenigstens zu versuchen. Eine Episode erzählt von so einem Versuch. Zusammen mit einem Bauern, einem jungen Mann und einer jungen Frau – einem Liebespaar, wie sich herausstellt (Mattis, der der Liebe hinterherschaut, ein weiteres Leitmotiv) – soll Mattis mit einer Hacke Rüben ausdünnen.

Tarjei Vesaas: „Die Vögel“. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-­Henkel. Guggolz Verlag, Berlin 2020. 279 Seiten, 23 Euro

Es fällt der Satz: „Das Stück Land war übel groß, fand Mattis.“ Dieses eine Wort – „übel“ – sagt schon alles (und wurde von Hinrich Schmidt-Henkel passend ins Deutsche übertragen). Mattis wird sich zuerst anstrengen, mit dem Arbeitstempo der anderen mitzuhalten, bald aber auf dem Feld zurückbleiben und schließlich die Arbeit ganz bleiben lassen.

Das Erbe ausgeschlagen

Das Interessante daran: Niemand in der Dorfgemeinschaft will Mattis etwas Böses. Die Menschen sind unsicher ihm gegenüber, aber außer heimlichem Spott hat Mattis nichts Schlimmes zu ertragen. Auch der Bauer wird nicht wütend und gibt Mattis auch seinen Lohn. Doch Mattis fällt eben aus der Arbeitsgesellschaft heraus. Er ist nicht in sie integrierbar. Und Hege, ohne die er nicht zurechtkommen würde, ist an ihn gebunden.

„Die Vögel“ sind in Norwegen ein Klassiker, zuerst erschien der Roman 1957. Tarjei Vesaas wurde 1897 als Sohn eines Bauern geboren, schlug das familiäre Erbe aus, weil er Schriftsteller werden wollte, reiste viel in Europa herum und ließ sich mit Ende dreißig in Vinje/Telemark unweit des väterlichen Hofes nieder. Neben den „Vögeln“ schrieb er Gedichte und Theaterstücke (sowohl seine lyrische als auch seine dramatische Seite sind in die Prosa eingeflossen) sowie noch einen zweiten berühmten Roman, „Das Eis-Schloss“. 1970 starb er.

In der Neuübersetzung ist ein Foto von ihm abgebildet. Man sieht einen glattrasierten Mann mit wie aus skandinavischem Granit gemeißelten Gesichtszügen über einem breiten Kinn, der einen an die Schwarzweißfilme von Ingmar Bergman denken lässt. Auf seiner Schulter sitzt eine Katze, der er sich zuwendet, als wolle er ihr etwas zuflüstern. Etwas Ironisches ist in seinen Zügen, aber auch etwas Dunkles – beides, sowohl der verborgene Humor als auch der Sinn fürs Tragische, findet sich in den „Vögeln“ wieder.

Studie über das Alleinsein

Der Roman lässt sich als eine Studie über Einsamkeit lesen oder, was Mattis betrifft, vielleicht eher: als Studie über das Alleinsein. Konsequent ist das Buch aus seiner Perspektive erzählt, wir bleiben die ganze Zeit über bei ihm. Ganz erfüllt ist seine innere Rede von aufblitzenden Sätzen und eigenwilligen Gedanken. „Hier herrschte überall Klugheit, wohin man auch sah“, denkt er einmal. Da ist er beim Angeln. Und auch die Fische sind klug, sie beißen nicht an. Im Flug der Vögel erkennt Mattis Zeichen, er weiß nur nicht, für was.

Tarjei Vesaas denunziert die nai­ve, in vielem von einer animistischen, also von einer beseelten ­Natur ausgehende Perspektive nicht. Er schreibt sie auch nicht zu etwas Heroischem, gegen die moderne Welt Gerichtetem hoch. Er lässt das Denken von Mattis in seinem Eigensinn stehen – und bringt es in den Naturbeschreibungen gelegentlich zum Glimmen. Einmal heißt es: „,Ich bin hier!', rief Mattis über die Wiese mit ihren tausend Geheimnissen.“ Dass eine Wiese „tausend Geheimnisse“ hat – wie schlicht und schön das ist!

Am Schluss heißt es über den See: „… die schwarze Tiefe biss nach seinen Füßen.“ Es gibt in diesem Roman eine Poetik der treffenden, genauen Benennung. Ein Wort kann nicht nur die Beschreibung, sondern den Gegenstand selbst verändern. Eine beißende Tiefe ist etwas anderes als etwa eine lauernde Tiefe zum Beispiel.

Drama einer Entsagung

Im Verhältnis zu seiner Schwester Hege wird zugleich das Enge dieser Existenz deutlich. „Du darfst mich nicht alleinlassen!“, denkt Mattis am Anfang des Romans, und in der Mitte sagt er es ihr: „Du darfst mich nicht alleinlassen.“ Das innere Entsagungsdrama dieses Frauen­schicksals macht Vesaas indirekt, doch auch sehr deutlich klar. Bei ihr geht es tatsächlich um Einsamkeit. Manchmal wird Hege ungeduldig ihrem Bruder gegenüber. Dann entschuldigt sie sich gleich wieder. Er kann ja nichts dafür.

Man liest diesen Roman teilweise, als ginge man durch ein Museum und spüre aufbewahrten Erfahrungen nach: So karg und eng waren also noch vor zwei, drei Generationen menschliche Leben. Immer wieder wird man aber auch an das alltägliche, wundersame Mirakel des Lesens erinnert: Man fühlt sich in eine Geschichte gezogen, bald in sie verstrickt, die sich rund um Figuren vollzieht, die doch sehr weit weg sind und einem doch ganz fremd sind.

Wie macht Vesaas das? Indem er, worauf auch Judith Hermann in ihrem Nachwort zur Neuausgabe hinweist, in vielen Sätzen Wendungen findet, die wie aufs Papier gehämmert wirken. So schlägt Hege einmal „ihre Wörter wie Nägel ein“. Schnepfen fliegen „in feinen Streifen über ferne Täler“, und ganz am Anfang heißt es: „die alten Holzwände atmeten den Tag in der Sonne aus“.

Der Sommer, in dem er ein Anderer wird

Das sind keine ornamentalen, irgendwie gekünstelten Beschreibungen, sondern kürzeste, direkteste Wege, einen Sachverhalt oder eine Szene aufscheinen zu lassen. (Gelegentlich mag man sich beim Lesen wie bei den guten Stellen Peter Handkes fühlen, nur gibt es bei Vesaas keine Andacht.)

Mit großem Ernst lässt Vesaas so die innere Dramatik der Handlung sich Schritt für Schritt entfalten. Und so wie längst Autos durch das Dorf fahren, das eben keineswegs aus der Welt gefallen scheint, behandelt er dabei typische Motive der literarischen Moderne.

Beschrieben wird ein Sommer, in dem Mattis ein „Anderer“ geworden zu sein glaubt. Aus der Unmittelbarkeit des Erlebens wird Mattis immer wieder durch die eigene Reflexion herausgerissen. In einer untergründig hochkomischen Szene sitzt er in einem lecken Ruderboot und denkt so viel nach, dass er das eindringende Wasser auszuschöpfen vergisst und beinahe untergeht – ein Bild für die Hilflosigkeit des Denkens.

Der Weg der Bildung

Insgesamt erscheint Mattis als so etwas wie der kleinere Bruder von jemandem, dem auf Erden nicht zu helfen ist. Seine Perspektive und die seiner Mitmenschen bleiben einander fremd.

Und dann kommt es unerbittlich: Auch die Liebe hilft nicht. Hege findet im letzten Drittel des Romans doch noch einen Partner – eine der Stellen, an denen man das Buch als seiner Entstehungszeit verhaftet empfindet; emanzipiert wirkt Hege in diesen Szenen jedenfalls keineswegs. Für Mattis wird damit seine Lage natürlich prekär; er stört jetzt endgültig.

Hege und ihr Liebhaber wollen ihn dazu bringen, selbstständig zu werden. Mattis soll Bäume fällen lernen – lernen, Bildung, der klassische gesellschaftliche Weg, um sich aus der Natur herauszuarbeiten.

Doch kein Weg für Mattis. Bis zum Schluss beharrt Tarjei Vesaas auf der Eigensinnigkeit dieser Figur und darauf, dass er in vielem in die Gesellschaft nicht integrierbar ist. Mit dem Eigensinn der Einzelnen ist immer zu rechnen. Wie schön, dass der Guggolz-Verlag, der im vergangenen Jahr schon „Das Eis-Schloss“ herausgebracht hat, einem die Möglichkeit eröffnet, sich diesen Autor zu entdecken.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.