Corona-Entwicklung in Deutschland: Warnung vor neuem Lockdown

Bund und Länder einigen sich auf Maßnahmen, die selbst der Kanzlerin nicht weit genug gehen. Die Zahl der Neuinfektionen steigt erstmals auf über 6.600.

Zwei Männer und eine fraue mit Masken nehmen Platz vor einer blauen Wand mit Bundesadler

Sorge hinter Masken: Müller, Merkel und Söder bei der Pressekonferenz nach dem Gipfel im Kanzleramt Foto: Stefanie Loos/AFP POOL/dpa

BERLIN dpa/rtr/afp/taz | Angesichts steigender Corona-Infektionen haben sich Bund und Länder nach achtstündigen Verhandlungen auf neue Einschränkungen geeinigt. Kanzlerin Angela Merkel und die 16 Ministerpräsidenten beschlossen am Mittwoch im Kanzleramt Kontaktbegrenzungen für alle Regionen, in denen die Zahl der Corona-Neuinfektionen über 50 Fälle pro 100.000 Einwohner in einer Woche hinausschießt. Schon bei einer Zahl ab 35 Fällen sollen erste Maßnahmen greifen. Sowohl Merkel als auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) warnten davor, dass die Coronalage – wie in einigen Nachbarstaaten – außer Kontrolle geraten könnte.

„Sollte ein zweiter Lockdown kommen, würde dies den Wohlstand des Landes fundamental gefährden“, warnte der CSU-Chef. „Deutschland kann sich einen zweiten Lockdown nicht leisten“, sagte Merkel mit Hinweis darauf, dass der Bund bereits in diesem Jahr 200 Milliarden Euro Schulden aufnehme, um die Coronafolgen bewältigen zu können. „Wir sind bereits in der exponentiellen Phase“, warnte die Kanzlerin.

Das zeigt auch die Zahl der Neuinfektionen. Sie erreichte am Donnerstagmorgen einen neuen Rekordwert. Die Gesundheitsämter meldeten nach Angaben des Robert-Koch-Instituts 6.638 Neuinfektionen binnen 24 Stunden – rund 1.500 mehr als am Mittwoch. Bislang waren Ende März mit knapp 6.300 Neuinfizierten die meisten registriert worden. Allerdings sind die jetzigen Werte nicht mit denen aus dem Frühjahr vergleichbar, weil mittlerweile wesentlich mehr getestet wird – und damit auch mehr Infektionen entdeckt werden.

Am Mittwoch vergangener Woche hatten die Gesundheitsämter dem RKI 4.059 Neuinfektionen mitgeteilt. Damit war zum ersten Mal seit April die 4.000er Marke überschritten worden. Auch die Zahlen der Intensivpatienten und der Coronatoten sind in den letzten Tagen wieder deutlich gestiegen.

Merkel unzufrieden

Es bleibt somit fraglich, ob die Beschlüsse von Bund und Ländern angesichts der aktuellen Lage ausreichend sind. Merkel zeigte sich in den Beratungen im Kanzleramt nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur mit den Beschlüssen unzufrieden. „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, sagte die CDU-Politikerin nach übereinstimmenden Angaben von Teilnehmern. „Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.“

Nach der Sitzung betonte Merkel, ob die Beschlüsse reichen oder nicht, werde man sehen. „Deshalb ist meine Unruhe mit dem heutigen Tag noch nicht weg.“ Beunruhigt sei sie vom exponentiellen Anstieg der Infektionen. „Den müssen wir stoppen. Sonst wird es in kein gutes Ende führen.“ Merkel machte deutlich, dass sich ihre Unzufriedenheit vor allem auf die umstrittenen Beherbergungsverbote bezieht.

Konkret vereinbarten die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten dies:

MASKENPFLICHT: In Städten und Regionen mit stark steigenden Corona-Zahlen soll die Maskenpflicht erweitert werden. Sie soll ab 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner in sieben Tagen auch überall da gelten, wo Menschen dichter beziehungsweise länger zusammenkommen.

PRIVATE FEIERN: In Regionen mit einem Wert über 35 Neuinfektionen soll es eine Begrenzung von 25 Teilnehmern im öffentlichen und 15 Teilnehmern im privaten Raum geben. Ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen sollen private Feiern auf maximal 10 Teilnehmer im öffentlichen Raum sowie auf höchstens 10 Teilnehmer aus höchstens zwei Hausständen im privaten Raum begrenzt werden.

KONTAKTBESCHRÄNKUNGEN: Übersteigen die Neuinfektionen den 50er Wert, dürfen sich künftig nur noch maximal 10 Personen im öffentlichen Raum treffen. Sollten die neuen Maßnahmen den Anstieg nicht zum Stillstand bringen, wird dies auf bis zu 5 Personen oder die Angehörigen zweier Hausstände verringert.

SPERRSTUNDE: Ebenfalls bei 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen soll eine Sperrstunde um 23.00 Uhr für die Gastronomie verhängt werden. Bars und Clubs sollen geschlossen werden.

VERANSTALTUNGEN: Wird der 50er Wert überschritten, wird die Zahl der Teilnehmer bei Veranstaltungen auf 100 Personen begrenzt. Ausnahmen bedürfen eines mit dem zuständigen Gesundheitsamt abgestimmten Hygienekonzepts.

BEHERBERGUNGSVERBOTE: Die Beherbergungsverbote für Urlauber aus innerdeutschen Risikogebieten waren vor den Beratungen am umstrittensten. Bund und Länder fanden auch im Kanzleramt keine Einigung und vertagten das Thema erst einmal bis zum 8. November. Bis dahin soll diese Maßnahme auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

Bund und Länder forderten aber eindringlich alle Bürger auf, nicht erforderliche innerdeutsche Reisen in Gebiete hinein und aus Gebieten heraus zu vermeiden, die die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage übersteigen.

Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Hamburg wollen wohl zunächst bei der Regelung bleiben. Die Schweriner Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) denkt aber über Lockerungen nach. Sie kündigte an, zu prüfen, ob auf die mindestens fünftägige Quarantäne und die Pflicht zu einem Test danach künftig verzichtet wird.

Die meisten Bundesländer hatten am vergangenen Mittwoch beschlossen, dass Bürger aus Orten mit sehr hohen Corona-Infektionszahlen bei Reisen innerhalb von Deutschland nur dann beherbergt werden dürfen, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen Coronatest vorlegen können. Greifen soll dies für Reisende aus Gebieten mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen.

Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten waren erstmals seit Juni wieder persönlich zusammengekommen und berieten nicht nur per Videokonferenz. Das Treffen stand unter dem Eindruck massiv steigender Infektionszahlen in Deutschland und zum Teil noch dramatischerer Entwicklungen bei vielen europäischen Nachbarn.

Ausgangssperren in Frankreich

So verhängt Frankreich erstmals seit dem Frühjahr wieder Ausgangssperren: In Corona-Hotspots wie Paris, Marseille, Lyon und fünf weiteren Städten dürfen die Menschen ihre Häuser zwischen 21 Uhr und 6 Uhr morgens ab diesem Wochenende nur noch im Ausnahmefall verlassen, wie Präsident Emmanuel Macron am Mittwochabend im Fernsehen ankündigte.

In den Niederlanden gilt ab Mittwochabend ein „Teil-Lockdown“ – Bars, Cafés und Restaurants müssen schließen und dürfen Speisen und Getränke nur noch zum Mitnehmen anbieten. Zwischen 20.00 Uhr und 7.00 Uhr dürfen kein Alkohol und Cannabis mehr verkauft oder öffentlich konsumiert werden. Die Niederländer dürfen nur noch drei Besucher pro Tag bei sich zu Hause empfangen. Zudem gilt künftig in öffentlichen Räumen eine Maskenpflicht.

Auch in Tschechien sind Bars und Restaurants seit Mittwoch geschlossen. Zudem gilt ein generelles Alkoholverbot im öffentlichen Raum. Treffen werden auf maximal sechs Teilnehmer beschränkt, der Unterricht in den Grundschulen findet – ebenso wie bereits in den weiterführenden Schulen und Universitäten – nur noch digital statt.

„Nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf“

Der Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Michael Meyer-Hermann, warnte bei dem Treffen im Kanzleramt eindringlich vor einem Kontrollverlust bei den Infektionen. „Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff noch zu drehen“, sagte er laut Teilnehmern im Kanzleramt. Deutschland stehe an der Schwelle zu einem exponentiellen Wachstum.

Merkel rief nach dem Treffen die Menschen in Deutschland zu einer gemeinsam Kraftanstrengung auf: „In dieser entscheidenden kritischen Phase des Herbstes ist es ganz, ganz wichtig, dass alle auch mitmachen weiter.“ Die Kanzlerin betonte: „Auch ökonomisch können wir uns eine zweite Welle, wie wir sie im Frühjahr hatten mit solchen Folgen, nicht leisten.“

Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) betonte, Deutschland befinde sich jetzt in einer sehr entscheidenden Phase: „Es steht jetzt viel auf dem Spiel.“ Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sah zwar Fortschritte durch die Beschlüsse. „Aber ob das reicht, ist meiner Meinung nach offen. Wir sind dem zweiten Lockdown eigentlich viel näher, als wir das wahrhaben wollen.“ Die zweite Coronawelle sei bereits da. Die Situation jetzt sei fast gefährlicher als im Frühjahr, weil nun der Winter bevorstehe, warnte Söder, der zugleich dazu aufrief, durch die Beschränkungen wieder „vor die Welle“ zu kommen.

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