Berlins Linksparteichefin zu Lockdown: „Wir müssen nicht alles mitmachen“

Katina Schubert hält einen erneuten Lockdown für einen Irrweg. Sie plädiert für „evidenzbasierte Maßnahmen“ und will Kulturangebote offen lassen.

Markt mit Masken im Angebot

„Wir müssen sehr vorsichtig mit pauschalen Maßnahmen sein“, sagt Katina Schubert Foto: dpa

taz: Frau Schubert, wir stehen vor einem erneuten Lockdown in Deutschland und Berlin. Ist das auch das Eingeständnis, dass die Politik versagt hat? Schließlich hieß es immer, ein Lockdown müsse auf jeden Fall vermieden werden …

Katina Schubert: Von einem Versagen kann man nicht sprechen. Aber es stimmt: Die Situation ist schwierig, weil die Infektionszahlen sehr stark steigen. Wir müssen jetzt über Gegenmaßnahmen diskutieren, die evidenzbasiert sind – bei denen wir also davon ausgehen können, dass sie geeignet sind, die Infektionszahlen stark und nachhaltig zu senken.

Das ist etwas völlig ­anderes als die Vorlage, die am Mittwoch von den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin diskutiert wurde: Danach sollen nahezu alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen werden, außer Geschäften, Schulen und Kitas. Da gehen Sie nicht mit, es ist Ihnen zu ­rabiat?

Ja, das ist problematisch. Es würde bedeuten, dass die Menschen zwar arbeiten gehen sollen, aber ihre Freizeit zu Hause verbringen müssen. Für ein Pärchen in einer Fünfzimmerwohnung mag das kein Problem sein; für Menschen in engen Wohnverhältnissen ist es aber schwierig. Und wir wissen, dass sehr viele Infektionen in privaten Haushalten passieren. Für mich ist völlig offen, ob eine Kontaktbeschränkung, wie sie jetzt geplant wird, die Infektions­zahlen senken kann.

Viele Virologen argumentieren, dass man die privaten Kontakte reduzieren müsse.

Private Kontakte kann man auch beschränken, ohne deswegen an die Wohnung gefesselt zu sein. Man kann trotzdem zu Veranstaltungen gehen an Orten, an denen das Hygienekonzept stimmt, die Abstandsregeln beachtet werden, wo es ein Wegeleitsystem gibt. Diese Orte sind wahrscheinlich sogar sicherer als eine Zweizimmerwohnung für eine fünfköpfige Familie.

Sie wollen also kulturelle Angebote wie Theater, Ausstellungen und Konzerthäuser offen lassen, unter den bekannten und offenbar erfolgreichen Corona-Auflagen.

Katina Schubert, 58, geboren in Heidelberg, ist seit 2016 Landesvorsitzende der Berliner Linken und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.

Es braucht diese Ausweichmöglichkeiten. Genauso wichtig ist es, die Bevölkerung dafür zu gewinnen, weiter mitzumachen und sich an die Abstands- und Hygie­neregeln zu halten.

Auch für Bars und Kneipen gibt es Hygienekonzepte. Sollten sie ebenfalls offen bleiben?

Es ist falsch, deren Öffnungszeiten und Angebote völlig runterzufahren. Viele Betreiber haben massiv investiert in Lüftungssysteme, haben Pläne entwickelt, wie ausreichend Abstand gewahrt werden kann. Wenn wir die jetzt schließen, gehen sie pleite. Wir müssen sehr klug agieren, sonst kommt auf uns eine massive Insolvenzwelle zu, die in Berlin, wo der Dienstleistungsbereich für 85 Prozent der Arbeitsplätze sorgt, zu erheblichen sozialen Verwerfungen führen wird. Also müssen wir sehr vorsichtig mit solchen pauschalen Maßnahmen sein.

Sie wollen einen evidenzbasierten Lockdown?

Ich habe nicht von einem Lockdown gesprochen, sondern von evidenzbasierten Maßnahmen.

Das heißt zum Beispiel konkret: Die Sperrstunde ist Quatsch?

Es ist zumindest nicht bewiesen, dass sie nutzt. Die Zahlen sind nicht rückläufig. Wir hatten im Sommer die Diskussionen um die Partys. Die Jugendlichen wurden diffamiert als Infektionstreiber. Jetzt finden die Partys nicht mehr statt, und die Infektionszahlen steigen dennoch. Deswegen sage ich: Zentral ist, dass wir die ganze Bevölkerung dazu bewegen, bei der Bekämpfung der Pandemie mitzumachen. Abstand halten, Mund-Nasen-Schutz tragen, lüften, die Corona-Warn-App nutzen und da auch mal reingucken und erkennen: Corona ist eine reale Gefahr und nicht bloß etwas, was in der Zeitung steht. Es macht Sinn, sich aufzuschreiben, wen man getroffen hat – sodass, wenn die App Rot zeigt, man die Leute anrufen kann. Und zwar unabhängig davon, wann das Gesundheitsamt es schafft, sich zu melden.

Die Ministerpräsidenten der Länder und Kanzlerin Merkel haben sich am Mittwoch auf einen zweiten Lockdown geeinigt, um die Coronapandemie einzudämmen. Bis auf Schulen, Kitas und Einzelhandel sollen alle öffentlichen Einrichtungen im November geschlossen werden, auch Kinos, Kneipen, Theater, Fitnessstudios, etc. Umsetzen müssen die Maßnahmen aber die einzelnen Länder. Am Donnerstagnachmittag will der Senat darüber reden. Es wird mit einer langen Sitzung gerechnet.

Schon beschlossen ist die Ausweitung der Maskenpflicht im öffentlichen Raum. Bisher galt sie an zehn Straßen, ab Samstag wird sie auf insgesamt 33 Straßen und Plätze ausgeweitet. Darunter sind der Pariser Platz am Brandenburger Tor, der Alexanderplatz, Potsdamer Platz, Hermannplatz, das Kottbuser Tor und die Plätze am Hauptbahnhof. (taz, dpa)

Sie sagen also: Sperrstundenpolitik, wie sie SPD-Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci zuletzt betrieben hat, trägt nicht dazu bei, dass die Leute ein Coronatagebuch führen und mitziehen bei der Pandemiebekämpfung?

Das ist nicht das drängende Instrument, nein. Es braucht Aufklärungskampagnen in vielen Sprachen, auch Influencer in den sozialen Medien, auch um die jungen Leute zu erreichen.

Aber kann man überhaupt noch evidenzbasierte Maßnahmen treffen, wenn die Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung längst an ihre Grenzen gestoßen sind? Muss man da nicht doch die Keule auspacken?

Noch mal: Die bisherigen Maßnahmen sind nicht der Gamechanger, sie brechen die Welle nicht. Natürlich kann man sagen, ihr bleibt jetzt alle zu Hause. Aber vermutlich ist das Virus schon so tief in der Gesellschaft, dass sich die Menschen dann eben zu Hause anstecken. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen wissen, wie sie damit umgehen, wenn sie infiziert sind.

Kann der Senat dem massiven Druck, der von den Ministerpräsidenten anderer Länder ausgeübt wird, überhaupt widerstehen? Kann Berlin signifikante Ausnahmen von den geplanten strengen Regelungen zulassen?

Berlin muss schauen, was für Berlin wichtig ist, genauso wie etwa Thüringen sich das auch herausnimmt. Wir müssen nicht alles mitmachen. Natürlich muss man alle dazu anhalten, Kontakte einzuschränken. Aber das ist auch nicht überall möglich, etwa für Obdachlose auf der Straße. Sie können dort gar nicht überleben, wenn sie sich vereinzeln. Wir müssen uns um vulnerable Gruppen mehr kümmern – Wohnungslose, Menschen und Beschäftigte in Pflegeheimen und Flüchtlingsunterkünften – und dafür sorgen, dass dort mehr getestet wird. Und zwar ohne dass sich die Menschen dazu gedrängt fühlen. Wir müssen die Quarantäneunterkünfte aufrechterhalten, damit positiv Getestete dort ihre Krankheit wirklich auskurieren können.

Dies wäre der zweite Lockdown. Schon der erste hatte schwere soziale Folgen.

Wir hatten eine Zunahme von Gewalt in Familien und Gewalt gegen Frauen. Wir hatten Vereinsamung, etwa bei Singles, die allein lebten. Und auch Familien mit Kindern, insbesondere Alleinerziehende, hatten massive Probleme, den Alltag zu bewältigen, auch weil die Schulen und Kitas geschlossen waren. Das dürfen wir nicht einfach so wiederholen, wenn wir eine Akzeptanz in der Bevölkerung für unsere Maßnahmen erhalten wollen, die notwendig sind, um die Kurve abzuflachen.

Schulen und Kitas müssen offen bleiben?

So lange, wie es geht. Wir brauchen da schlaue Konzepte und auch mehr Personal. Unser Vorschlag: Wir sollten jetzt verstärkt Studierende anwerben, die diese Zeit als Praxissemester anerkannt bekommen. So können wir sicherstellen, dass die Gruppen in Schulen und Kitas als Einheit bestehen bleiben und sich nicht vermischen. Nur so können Infektionswege nachvollziehbar bleiben.

Sollte man in den Schulen nicht besser jetzt schon zum Mischbetrieb aus Homeschooling und Präsenzunterricht zurückkehren?

„Es ist falsch, die Öffnungszeiten und Angebote von Bars und Kneipen völlig runterzufahren. Viele Betreiber haben massiv in Lüftungssysteme investiert“

Ich glaube, vorher steht die Frage der Personalverstärkung, der Auseinanderdividierung von Gruppen, möglicherweise braucht man ein rollierendes System. Aber nur noch die Hälfte der Zeit in der Schule heißt doch auch: Die andere Hälfte müssen wieder die Eltern organisieren. Und das heißt auch, dass die Kinder auf der Strecke bleiben, die von zu Hause nicht so viel Unterstützung bekommen. Das wollen wir nicht.

Wie geht man in den nächsten Monaten mit Demonstra­tio­nen und politischen Kundgebungen um?

Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut, und es kann nicht eingeschränkt werden. Ich glaube, das sollte eine der Lehren aus der Lockdownzeit sein.

Also eine Maskenpflicht?

Maskenpflicht, Abstandspflicht, ja, aber keine Begrenzung der Versammlungsfreiheit.

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