Historie der Religionen weltweit: Getrieben von religiösen Motiven

Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg hat eine nicht ganz unproblematische Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert vorgelegt.

Figuren von Buddha und Mann im Anzug

Figuren von Buddha und Bhimrao Ramji Ambedkar, Sozialreformer und Autor der indischen Verfassung Foto: Florian Lang

„Die Kritik der Religion“, so Karl Marx 1843, „endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Michael Stausberg: „Die ­Heilsbringer“. C. H. Beck Verlag, München 2020, 783 Seiten, 34 Euro

Mehr als 150 Jahre später geben Soziologen und Philosophen bekannt, dass das säkulare Zeitalter an sein Ende gekommen sei, die Menschheit sich also in einem „postsäkularen“ Zeitalter befinde, Religionen mithin wieder in allen Bereichen der globalisierten Welt eine entscheidende Rolle spielen – was allemal auch auf das eher unerwartete Auftreten des politischen Islams, des Islamismus zurückzuführen ist.

So hat Jürgen Habermas schon 2001, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, moderne Gesellschaften als postsäkulare Gesellschaften bezeichnet – was die Frage aufwirft, wann denn jemals säkulare Gesellschaften existierten.

Erstaunlich buntes Panorama

Eine soeben erschienene, neue Publikation ist in der Tat dazu geeignet, Habermas’ These gegen die Ansicht seines damaligen Kontrahenten, des kanadischen Philosophen Charles Taylor – er erklärte die Moderne für „säkular“ –, zu stützen. Erhebt doch der von dem norwegischen Religionswissenschaftler Michael Stausberg verfasste Band „Die Heilsbringer“ nicht weniger als den Anspruch, eine Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert vorzulegen.

Der Autor löst diesen Anspruch durch 47, in Worten: siebenundvierzig biografische Vi­gnet­ten ein; Kurz­porträts, die so gegensätzliche Gestalten wie Ma­ry Baker Eddy, die Begründerin der „Christlichen Wissenschaft“, Adolf Hitler und Lew Tol­stoi, aber eben auch den Begründer der Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, sowie ­Mutter Teresa umfassen. Dass all diese Personen in irgendeiner Weise von reli­giösen Motiven getrieben wurden beziehungsweise bei ihren Anhängerinnen religiöse Gefühle auslösten – das nachzuweisen gelingt Stausberg durchaus. Stausberg geht in seinem Buch induktiv vor: ohne einen vorgefassten Begriff von „Religion“, einen Begriff, den er erst am Ende seines Werks entfaltet.

Zuvor aber wird das Lesepublikum Zeugin eines erstaunlich bunten Panoramas teils irgendwie bekannter, aber auch gänzlich unbekannter Persönlichkeiten: Wer hat denn schon einmal von der Göttin und Heiligen Anandamayi Ma – sie lebte von 1896 bis 1982 – gehört oder gelesen, wer hätte gedacht, dass der Filmregisseur Stanley Kubrick ein „homo religiosus“ war?

Das Panorama der von Stausberg präsentierten Persönlichkeiten ist überwältigend, wenngleich die einzelnen Gestalten nicht alle gleich gut ausgeleuchtet sind. Das gilt nicht zuletzt für die von Stausberg nicht ohne Sympathie geschilderten Begründer des politischen Islams, Sayyid Qutb und Hassan al-Banna, die beide 1949 beziehungsweise 1966 in Gamal Abdel Nassers Ägypten hingerichtet wurden. Beide wurden 1906 geboren, waren Literaten und Dichter, aber nur Qutb verbrachte einige Zeit im Westen, in den USA. Dort stellte er mangelnden religiösen Tiefgang sowie eine in seinen Augen abscheuliche sexuelle Freizügigkeit fest, was ihn zu einem entschiedenen Feind der westlich-liberalen Kultur machte.

Bei alledem unterschlägt Stausberg, dass sowohl Qutb als auch Banna überzeugte Anti­semiten waren – eine ­Facette ihrer Persönlichkeit, die nicht hätte verschwiegen werden dürfen, will man den modernen Islamismus verstehen.

Sehnsucht nach Spiritualität

Bei der Lektüre des Buches fällt zudem auf, wie viele indische Persönlichkeiten behandelt werden – was nicht zuletzt mit der westlichen Sehnsucht nach Spiritualität zu tun hat, eine Sehnsucht, die die schon erwähnte Anandamayi Ma und Bhag­whan Shree Rajneesh zumal für jugendliche Anhänger der Popkultur attraktiv machten.

Freilich waren – im Falle Indien – Spiritualität, Kritik des Kolonialismus und erklärte Reli­giosität auch in der welthistorischen Gestalt eines Mannes vereinigt: in Mahatma Gandhi, dessen Engagement Stausberg keineswegs unkritisch schildert, war doch Gandhi bei all seinem antikolonialen Engagement kein Gegner des skandalös ungerechten und menschenverachtenden hinduistischen Kastensystems.

Umso mehr gebührt dem Autor Dank dafür, den großen, hierzulande und weltweit viel zu wenig bekannten ersten Justizminister des unabhängigen Indiens, Bhimrao Am­bed­kar (1891–1956), angemessen zu würdigen, und das mit der Schilderung einer Szene, die tatsächlich ergreift: Haben sich doch im Oktober 1956 in der zen­tral­in­dischen Stadt Nagpur etwa 400.000 weiß gekleidete Menschen zusammengefunden, um sich kollektiv vom Glauben an die Götter des Hinduismus abzukehren und zu Buddha zu bekehren.

Bei dieser Gelegenheit verkündete Ambedkar: „Indem ich meine alte Religion verwerfe, die für Unterdrückung und Ungleichheit stand, bin ich heute neugeboren … Ich bin kein Verehrer der Hindu-Götter und -Göttinnen mehr …“ Dass die indische Nationalflagge in ihrer Mitte keine Spindel – wie Gandhi das wollte –, sondern ein Rad aufweist, geht ebenso auf Ambedkar zurück, wie es für ihn typisch war, im Unterschied zu Gandhi immer nur in westlicher Kleidung aufzutreten. Ambedkars Leben und Wirken sind ein Beispiel dafür, dass die postkoloniale Kritik an der sogenannten Verwestlichung keineswegs immer stichhaltig ist.

Ironie mit Hitler

Aber wie gerät dann auch Adolf Hitler in die Religions­geschichte des 20. Jahrhunderts? Nun, ein Zweifel ist nicht möglich: Adolf Hitler, jener di­let­tie­rende Halb­in­tel­lektuelle, der sich unter anderem an den Musik­dramen Richard Wagners berauschte, glaubte auf seine Weise an Gott – was Passagen aus „Mein Kampf“ zweifelsfrei belegen. Heißt es doch dort: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“

Dazu glaubt Stausberg ironisch anmerken zu sollen, dass Hitler damit den Deutschen als auserwähltem Volk Züge des Judentums angedichtet habe: Volkszugehörigkeit als Abstammung sowie Fantasien von Landnahme. Eine Ansicht, die Stausberg schon vorher dazu geführt hat, den nun wirklich in jeder Hinsicht areligiösen Begründer des politischen Zionismus, Theodor Herzl, in seine Anthologie aufzunehmen.

Freilich findet Stausberg religiöse Motive auch bei solchen Gestalten, bei denen man derlei wirklich nicht vermutet hätte – etwa bei Mao Zedong, dem er eine Verbundenheit zu drei Motiven des Konfuzianismus unterstellt: das Ideal des einfachen Lebens, die Bedeutung von Disziplin sowie die Notwendigkeit kontinuierlicher Selbstkritik.

Kontingenzbewältigung und Niklas Luhmann

In den abschließenden Worten dieses lesenswerten Buches heißt es denn auch: „Religion lässt sich daher nicht auf ein bestimmtes Wirk­lich­keits­ver­ständ­nis festlegen. Unter Religion kann man vielmehr organisierte Strategien verstehen, das Unkontrollierbare durch Wort und Tat beherrschbar zu machen, das Unberechenbare planbar, das Unverfügbare steuerbar, das Absolute nahbar, das Unerreichbare greifbar.“

In soziologischen Begriffen, etwa jenen Niklas Luhmanns, geht es mithin um Semantiken oder Praktiken der Kontingenzbewältigung, während ein idealistischer Philosoph wie Schleiermacher von „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ und später vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ sprach. Man mag darüber sinnieren, ob das auch für die Beatles – ihnen widmet der Verfasser 25 Seiten – oder Pierre de Coubertin gilt.

Stausberg schließt mit den Worten: „Das Kreativitätspotenzial des Re­ligion­machens ist im 20. Jahrhundert noch lange nicht ausgeschöpft worden“– eine nach der Lektüre dieses Buches eher beunruhigende Per­spektive.

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