30 Jahre Einheit in Hildesheim: Bis zur Unkenntlichkeit normal?

Mit 16 Jahren kam unsere Autorin 1990 aus der DDR nach Hildesheim. Später rieten ihr manche, wegzugehen, aber sie blieb – und hat das nicht bereut.

Illustration: Illustration Michael Szyszka

HILDESHEIM taz | Ach, Verzeihung. Für den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung hat Hildesheim nicht viel Aufmerksamkeit übrig. Die kleine Stadt im Süden Niedersachsens schaut derzeit lieber in die Zukunft. Am 28. Oktober fällt in Berlin die Entscheidung darüber, wen Deutschland als europäische Kulturhauptstadt 2025 nominiert: Chemnitz, Hannover, Magdeburg, Nürnberg – oder eben Hildesheim. Und da wird bis zur letzten Minute konzipiert und gewienert, da wird ein „Kulturhauptstadtbier“ gebraut, die ultimative Frisur 2025 gesucht und schnell nochmal der Dom ausgefegt. Zum Feiern bleibt da keine Zeit.

Dabei ist dem europäischen Gedanken des Grenzenüberwindens der deutsch-deutsche ja immer schon eingeschrieben, im „kleinen Grenzverkehr“ – eine Regelung, die Westbürgern bereits seit 1972 Tagesausflüge in den Sozialismus erlaubte und der DDR Devisen einbrachte. Mal Ostluft schnuppern, mal an echte Plattenbau-Wände klopfen, mal in einer volkseigenen Speisegaststätte ein Jägerschnitzel bestellen und dann staunen, dass damit eine panierte Wurstscheibe gemeint ist, serviert an Spaghetti mit Tomatensauce.

Die Grenze zur DDR verlief 70 Kilometer Luft­linie von Hildesheim entfernt. Nach dem Mauerfall war die Nähe besonders praktisch: Aus ein paar Hildesheimern wurden quasi über Nacht Landbesitzer in Brandenburg, in Mecklenburg, und auf ihren Konten trudeln bis heute EU-Agrar­beihilfen ein. Doch auch die Gegenbesuche begannen. Nun standen die Trabis Schlange, tagsüber vor Hildesheims Supermärkten, abends vor dem Jazzclub, vor den Bars.

Auch ich kam nach Hildesheim, im Herbst 1990, mit 16 Jahren, nach der Ausreise meiner Familie aus der DDR anderthalb Jahre zuvor. Nach einer Odyssee durch halb Norddeutschland, durch Aufnahmelager, provisorische Unterkünfte, So­zialwohnungen. Von nun an besuchte ich das einzige Gymnasium der Stadt, das Russisch bis zum Abitur anbot. So wie alle, die damals aus dem Osten kamen und bislang weder mit Französisch noch Latein oder Spanisch in Berührung gekommen waren.

Die Person: Kathi Flau, 46

Job: Redakteurin für Lokales, Reportage und Kultur

Zeitung: Hildesheimer Allgemeine Zeitung

Erscheinungsort: Landkreis Hildesheim

Auflage: etwa 30.000

Der größte Coup Ihrer Zeitung? Wir sind die älteste noch erscheinende Tageszeitung Deutschlands, erstmals erschienen am 24. Juni 1705

Region: Rosen und Rüben, städtisches Kulturerbe und Ländliches drum herum

Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? Jazzclub, Kulturfabrik, Theater, das gibt es in Hildesheim, Open-Air-Konzerte oder Volksfeste in Hannover

Autokennzeichen: HI

„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann“ … fallen mir mehr Reportagethemen ein als je zuvor. Die Dringlichkeit des guten Erzählens ist umso höher, je offensichtlicher die Meinung die Fakten dominieren will.

Die falsche Pullovermarke

Die Russisch-Klasse war nach außen unser Erkennungszeichen und nach innen unser Zuhause: Hier sprachen wir unsere eigene Sprache. Wir wussten nicht, was unsere westdeutschen Mitschüler meinten, wenn sie sagten, uns würde man unsere Herkunft sofort ansehen, wir liefen so „ossimäßig“ herum. Irgendwann ahnten wir, mehr als dass wir es wussten: Der Identität, die wir uns in Wirklichkeit schaffen wollten, kann die falsche Pullovermarke gar nichts anhaben.

Ich wollte Journalistin werden, ging zur Schülerzeitung und schrieb meine erste Geschichte über verfallende Hochhäuser in Magdeburg, von denen nach der Wende keiner so genau wusste, wem sie eigentlich gehörten. Dass ich „ganz zufällig“ auf das Thema gestoßen sei, erzählte ich in der Redaktion, wahrscheinlich aber hat es mich damals nicht zufällig in den Osten zurückgezogen, dahin, wo ich wusste, wovon ich sprach. Ich fühlte: Es war wichtig, irgendwohin zu gehören, in eine Gruppe, eine Klasse, eine Stadt, eine Moderichtung – selbst wenn diese Gruppe, Klasse, Stadt oder Moderichtung das Uncoolste auf der ganzen Welt war. Lieber uncool als völlig verloren.

Und Hildesheim – Knotenpunkt der Langeweile, Herz der Ereignislosigkeit – schien dafür die perfekte Kulisse zu sein: „Die Zeiten, in denen unsere Stadt eine wichtige Kulturmetropole war, sind seit vielen Jahrhunderten vorbei“, heißt es in der Hildesheimer Bewerbung um den Titel der Kulturhauptstadt. „Heute sind wir ziemlich durchschnittlich. Und manchmal scheint es, dass wir bis zur Unkenntlichkeit normal sind.“ 100.000 Einwohner, Uni, Theater für Niedersachsen, tausendjähriger Rosenstock, drum herum: Felder, auf denen Rüben wachsen. Daher der Titel der Bewerbung: „Rosen, Rüben und der Sinn des Lebens“.

Nimmt man sie nämlich ernst, diese Geschichten, diese Menschen, verwandelt sich Hildesheim plötzlich. In einen Ort, an dem cool oder uncool kein Kriterium mehr ist

Dass Mariendom und Michaeliskirche zum Unesco-Weltkulturerbe zählen, darauf ist man in der Stadt zwar durchaus stolz: schon toll, aber auch etwas angestaubt – sie sind kein Produkt, kein Phänomen, kein Verdienst unserer Zeit. Da wird lieber erwähnt, dass Hollywood-Schauspielerin Diane Kruger aus Hildesheim kommt. Die ist wenigstens nicht bis zur Unkenntlichkeit normal.

„Geh raus, geh weg!“

„Bleib bloß nicht in dieser Stadt“, warnte mein Lieblingsprofessor an Hildesheims berühmter Schreibschule, an der ich Literatur und Kulturjournalismus studierte. „Du bist nicht hier, um anschließend über Kaninchenzüchter zu schreiben. Kein Local Hero werden, hörst du! Geh raus, geh weg, geh nach Berlin, geh nach Leipzig, geh sonst wohin.“ Nur bleiben, das war in seinen Augen die schlechteste, die eigentlich undenkbare Option.

In meinen nicht. Ich mochte die Redaktion der Lokalzeitung, für die ich nebenher frei arbeitete, ich mochte den Lokaljournalismus. Die kleinen Geschichten, die ich von Sportplätzen holte, aus Kiosken, vom Weinfest, aus dem Stadtarchiv, aus Kirchen, aus dem kleinen Jazzclub mit maximal 170 Besuchern, aus Angel- und, ja, Kaninchenzüchtervereinen. Vieles, was ich sah und erlebte, fand ich schräg, aber irgendwie auch gut: Taubenwettbewerbe. Ortsratssitzungen. Tombolas. Handgeschriebene Leserbriefe. Und die Tatsache, dass ich diese Leser meistens kannte, persönlich, zumindest aber ihrer Funktion oder dem Namen nach. Ich sah überhaupt nicht ein, warum ihre Geschichten weniger bedeutsam sein sollten als die der Leute aus den Metropolen.

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Im Gegenteil: Durch sie habe ich Hildesheim erst richtig kennengelernt. Durch Tülay, die resolute Wirtin der Bahnhofskneipe, mit der sich selbst der Betrunkenste morgens um drei nicht anzulegen wagt. Durch Georgios, den ältesten Griechen der Stadt. Durch Maria, die Kellnerin, die eigentlich aus New York kommt. Durch Werner, den Tierpfleger des Wildgatters, der seit mehr als 30 Jahren Schweine und Rehe hütet und Generationen von Schulklassen durch die Gehege geführt hat. Sie machen diese Stadt aus, sie sind es eigentlich, die ihre Geschichten schreiben, wir von der Zeitung erzählen sie nur weiter.

Und jetzt, zack, kommt der Trick: Nimmt man sie nämlich ernst, diese Geschichten, diese Menschen, verwandelt sich Hildesheim plötzlich. In einen Ort, an dem cool oder uncool gar kein Kriterium mehr ist, bloß noch das mögliche Ergebnis einer Betrachtung durch Außenstehende, einer Bewertung nach zählbaren, kleinkarierten Maßstäben. Es verwandelt sich in ein Zuhause.

Eine Stadt, die an sich arbeitet

Das nun dennoch als Kulturhauptstadt wahrgenommen werden will. Von anderen Städten, von Deutschland, von ganz Europa. Das an sich arbeitet. Was war und ist, soll neu gedacht werden. Trug bislang schon die Lage der Stadt im ehemaligen Zonenrandgebiet etwas Bezeichnendes in sich, nämlich den Stempel der ostnahen, etwas behäbigen Provinz, die man besser heute als morgen verlässt, dreht Hildesheim nun den Spieß versuchsweise um. Und fragt: Zentrum und Peripherie – sind das zukünftig überhaupt noch die richtigen Kategorien, wenn wir über unser Zusammenleben nachdenken?

Die Stadt bewirbt sich nicht als Stadt, sondern als Region. „Hier sind Dinge möglich, die in der Metropole unmöglich sind“, heißt es da. „Die kurzen Wege, die direkten Verbindungen, die überschaubare Größe, die Fähigkeit zur Mobilisierung, die kollektive Wachsamkeit, der Raum für Experimente, die Freiheit für etwas Neues.“

Identität ist, was aus diesen Komponenten neu entstehen soll. Identität muss geschaffen werden. Das gilt für Menschen, Städte, Länder, für die Provinz wie für die Metropolen Europas, für Osten wie Westen – na gut, für den Osten sogar noch ein bisschen mehr. Als Zeit Online im Februar vergangenen Jahres unter dem Titel „Fünf für Europa“ die ostdeutschen Bewerberstädte vorstellte, da nannten sie diese „Orte aus den neuen Ländern“. Im Jahr 29 nach der Wiedervereinigung!

Dass es in den Konzepten dieser Städte um Selbstbehauptung und um das Bewusstsein für die eigene Geschichte angesichts des gesellschaftlichen Risses geht, liegt dank solcher Teilungs­vokabeln auf der Hand: Die Ossis sind halt immer noch Ossis – aber nicht, weil sie nach wie vor die falschen Pullover anhätten, sondern weil sie im Selbstverständnis Deutschlands immer noch auf der grau schraffierten Fläche zwischen Ostsee, Niedersachsen und Tschechien zu Hause sind, da, wo die Uncoolen wohnen. Da, wo ein Arbeitnehmer im Schnitt immer noch 490 Euro brutto pro Monat weniger verdient als sein Kollege im Westen. Da, wo die Frage nach der Identität mit dem Blick in die Lohntüte zwangsläufig lauten muss: Bin ich weniger wert?

Fließend Westdeutsch sprechen

Da, wo ich vor 30 Jahren herkam. Und während ich Westdeutsch inzwischen fließend spreche – Führerschein sage statt Fahrerlaubnis, Astro- statt Kosmonaut –, hat sich mein Russisch ins Rudimentäre verflüchtigt. Die meisten Wörter habe ich vergessen, weil ich sie nie mehr brauchte. Nicht vergessen habe ich allerdings, dass Pullover weich und warm zu sein haben. Und weiter gar nichts.

Wie’s aussieht, feiere ich am 3. Oktober hier eher allein. Und ob es am 28. in Hildesheim etwas zu feiern gibt – man wird sehen. Wenn ja, wird sich wohl einen Moment lang Ungläubigkeit in den Jubel mischen: Wir? Ernsthaft?

Gewinnt Hildesheim, wird die Nacht lang. Und was, wenn der Titel woandershin geht? Dann feiern die Menschen anderswo. Vielleicht in Chemnitz. Vielleicht in Magdeburg. Und dann wird wieder von den „neuen Bundesländern“ zu lesen sein, als wäre die Wiedervereinigung nicht 30 Jahre, sondern 30 Tage her. Was man sonst sagen sollte? Als wertneutrale Bezeichnung wäre die Himmelsrichtung korrekt: Länder des Ostens. Ostdeutschland. So, wie man Süd- oder Norddeutschland sagt. Vieles ginge, nur die „neuen Bundesländer“, das ist falsch, ganz falsch. Неправильно, auf Russisch.

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