Corona und Klimawandel: Die Apokalypse ist politisch

Die tiefgreifende Umgestaltung der Erde hat längst begonnen. „Weiter so“ kann nicht die Antwort sein. Ein Plädoyer für eine radikale Neuerfindung.

Ein Feuerwehrmann in Kaifornien steht auf der Straße, er hat seinen Helm abgesetzt und schaut verzweifelt

Finsternis bei Tag: Santa Rosa, USA, im September 2020 Foto: picture alliance/dpa

Alle sprechen von der Apokalypse, als bedeute sie „das Ende der Welt“. Aber wir sollten zur ursprünglichen griechischen Bedeutung von „Apokalypse“ als „Enthüllung“ von etwas zurückkehren. Was heute geschieht, von den kalifornischen Waldbränden bis zur andauernden Covid-19-Pandemie, ist glücklicherweise noch nicht das Ende der Welt, aber es ist eine warnende „Offenbarung“.

Die „Offenbarung“ könnte wie folgt lauten: Was, wenn bald einige Teile der Welt zu einem permanenten „Jahr ohne Sommer“ werden, während es in anderen Teilen keinen Regen mehr geben wird? Und was, wenn all das in ein und demselben Land geschehen wird, wie in Thomas Vinterbergs Sciene-Fiction-Film „It's All About Love“ (2003)?

Und wieder einmal hat die Realität das Science-Fiction-Szenario übertroffen. Während die Bay Area im Sommer 2020 von Blade-Runner-Himmeln durch die Waldbrände bedeckt war, verwandelten sich die Hitzewellen in Colorado in Schneestürme. Was uns hier begegnet, ist das, was ich in meinem neuen Buch „After the Apocalypse“ „eschatologische Tipping-Points“ nenne.

Der Begriff „Tipping-Point“, der heute von Klimawissenschaftler*innen weithin angenommen wird, bezieht sich in der Regel auf eine nichtlineare schnelle Veränderung von Teilen des Klimasystems, die irreversibel von einem Zustand in einen anderen „kippen“. Was ich vorschlage, ist, dass wir, wenn wir die Vielfalt der Bedrohungen, denen die Menschheit und der Planet heute ausgesetzt sind, wirklich erfassen wollen, den Begriff „Tipping-Point“ näher an die Eschatologie, an die Lehre von den letzten Dingen, heranführen müssen.

Kaskade von Tipping-Points

Kurz gesagt, neben der bloßen Berücksichtigung von Klimaereignissen sollten wir den Begriff „Tipping-Point“ erweitern und über die Vernetzung und die – bereits stattfindende – planetarische Kaskade von Tipping-Points nachdenken, zu denen neben der Klimakrise auch die immerwährende nukleare Bedrohung, Pandemien, der Virus des Rassismus, der Zerfall von Gesellschaften und Bürgerkriege auf der ganzen Welt gehören.

Dieser Text des Philosophen und Aktivisten Srećko Horvat wird im Rahmen des von Milo Rau, Akademie der Künste, Berlin, NTGent, IIPM und Kulturstiftung des Bundes initiierten Debatten-Livestreams „School of Resistance“ veröffentlicht. Der zweiwöchentlich online stattfindende Think Tank bietet eine Plattform für Expert*innen des Wandels: Künstler*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen und Philosoph*innen aus aller Welt. Neue Folge am 4. Oktober, 18 Uhr, unter anderem mit Gail Bradbrook, der Mitbegründerin von Extinction Rebellion.

Sowohl die aktuelle Covid-19-Pandemie als auch die Waldbrände in Kalifornien sind Teil einer tiefgreifenden Umgestaltung der Erde, die am Rande des Massensterbens steht. Und dies ist nicht nur eine Folge des so genannten Anthropozäns, sondern ein Ergebnis des Kapitalozäns.

Je mehr Abbau, Expansion und Ausbeutung, die drei Reiter*innen der Apokalypse, die als globaler Kapitalismus bezeichnet werden, desto geringer die Überlebenschancen. Mit anderen Worten: Die Apokalypse – auch wenn sie in unserer Instagram-Ära schnell zur Ware wird (vom Erhabenen zum Simulacrum) – ist ein politisches Ereignis par excellence.

Von Laki zur Französischen Revolution

Auch wenn Vulkanolog*innen normalerweise von dieser Art politischer Vulkanologie absehen, könnten wir den Ausbruch des Supervulkans Laki auf Island im Jahr 1783 als Beispiel für die Apokalypse als politisches Ereignis lesen. Ihre Auswirkungen trugen nicht nur zur Zunahme von Armut und Elend in ganz Europa bei – die Nachwirkungen des Ausbruchs könnten sehr wohl zu den Ereignissen beigetragen haben, die zur Französischen Revolution 1789 führten.

Erinnern Sie sich an den Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull in Island im Jahr 2010, dessen Asche zu über 100.000 Flugstreichungen führte und die Weltwirtschaft rund 3 Milliarden Pfund kostete? Stellen Sie sich nun die Episode von 2010 um mehrere hundert Mal stärker vor, und Sie werden eine Vorstellung von diesem vergangenen katastrophalen Ereignis und seinen Folgen bekommen.

Srećko Horvat ist ein kroatischer Philosoph, Autor und politischer Aktivist. Er ist Mitbegründer der Bewegung DiEM25 und Mitglied der Progressive Internationale. Sein kommendes Buch: „After the Apocalypse“ (Polity Press, 2021).

Der Ausbruch des Laki war der größte bekannte Lavastrom-Ausbruch im vergangenen Jahrtausend, der zum Tod von rund einem Viertel der isländischen Bevölkerung führte und in ganz Europa eine Umweltkrise auslöste. Die Auswirkungen des Vulkanausbruchs in Island erreichten bald die Schweiz, Polen, Italien und Frankreich, wo Benjamin Franklin, einer der „Gründungsväter“ der Vereinigten Staaten von Amerika, während seines Aufenthalts in Paris zur Unterzeichnung des Vertrags von Paris beobachtete, dass der „trockene Nebel“ Europa in einen bitteren Winter stürzte.

Drei Wochen nach der Eruption erreichte der Nebel Russland, Syrien, den Irak und vier Wochen später sogar China. Die Welt durchlebte Klimaextreme: Während Europa 1783 einen glühenden Sommer erlebte, wird dieses Jahr in Alaska als „die Zeit, in der der Sommer nicht kam“ in Erinnerung behalten.

Gefrorene Flüsse und Überschwemmungen in Europa

Als der Winter nahte, froren die Flüsse in ganz Europa zu, der Straßenverkehr überquerte die vereiste Oberfläche der Themse in London, während europäische Großstädte wie Wien, Paris und Bratislava einige der verheerendsten Überschwemmungen der Geschichte erlebten. In Prag stieg die Moldau in nur 12 Stunden um vier Meter an, ein Rekord, der nicht einmal während der katastrophalen Überschwemmungen im Jahr 2002 übertroffen wurde.

Dann kam der vulkanische Winter, einer der schlimmsten in den letzten 500 Jahren in Europa, und mit ihm Ernteausfälle, Verluste an Viehbestand und Hungersnot. Und selbst wenn dieses Ereignis noch einige Jahre in der zukünftigen Geschichte lag, führte alles zum Fall der Bastille.

Die Auswirkungen des Ausbruchs des Laki-Vulkans in Island waren nicht alleine räumlicher Natur, sie waren nicht nur an Orten auf der ganzen Welt zu spüren, sie reisten auch durch die Zeit, sie hatten Auswirkungen auf die politische Realität dieser Zeit und auf die zukünftige Geschichte selbst.

Ob der Ausbruch von Laki der Auslöser für die kommende Französische Revolution war oder nicht, können wir immer noch nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist jedoch, dass die Reaktion der Eliten, ihre Arroganz und ihr Missmanagement einer totalen Krise, einen fruchtbaren – oder eher verlassenen – Boden für eine soziale Revolution schufen.

Die ewige Gegenwart

Die Lehre aus dieser historischen Episode ist, dass wir, wenn wir unseren gegenwärtigen Moment, den man ebenso gut als „ewige Gegenwart“ bezeichnen könnte, vollständig erfassen wollen, dringend eine Perspektive der longue durée entwickeln müssen. Diese muss, solange die Menschen nicht ausgestorben sind, notwendigerweise die Klassenfrage berücksichtigen, nämlich die strukturelle Ungleichheit, die in der politischen Ökonomie des späten Kapitalozäns begründet liegt und zum Globozid führt.

„Wie kann ich dich retten? Es ist bereits geschehen“, sagt James Cole (Bruce Willis) in dem Film „12 Monkeys“, als ihn 1990 ein Psychiater in einer psychiatrischen Anstalt fragt: „Werden Sie uns retten?“ Man hält ihn für verrückt, weil er behauptet, er komme aus dem Jahr 2035, einer Zukunft, in der fast die gesamte Weltbevölkerung durch einen tödlichen Virus ausgelöscht wurde.

Unsere heutige Zeit als die Zeit nach der Apokalypse zu betrachten, erfordert vor allem eine ähnliche Verschiebung der Zeitlichkeit. Nicht nur, dass die Apokalypse als „Offenbarung“ bereits stattgefunden hat, es ist auch das Ende selbst – die Zerstörung der Biosphäre und das Massenaussterben –, das eingetreten ist, wenn wir nicht in der Lage sind, die „Offenbarung“ der sich rasch entfaltenden planetarischen Ereignisse zu verstehen und die Welt in der verbleibenden Zeit radikal neu zu erfinden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.