Anti-AKW-Geschichte als Roman: Als die Zukunft noch strahlend war

Der „Schnelle Brüter“ in Kalkar ist ein Mahnmal des untergegangenen Atomzeitalters. Er steht im Zentrum von Christoph Peters' „Dorfroman“.

Anti-Atom Demonstranten am Schnellen Brüter in Kalkar, 1977

40.000 protestieren gegen den Schnellen Brüter: Kalkar 24.9.1977 Foto: Klaus Rose/Imago

Das Kernkraftwerk Kalkar zählt zu den sympathischen, weil gescheiterten Projekten der deutschen Atomära. Trotz massiver Proteste seit 1973 errichtet, ging es nie ans Netz. Explodierende Kosten und die spätestens nach dem GAU von Tschernobyl kippende politische Stimmung ließen es 1991 als Investitionsruine enden. Dass der Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf erfolgreich war, würdigte vor zwei Jahren ein Film von Oliver Haffner: Den Kampf gegen den „Schnellen Brüter“ am Niederrhein verewigt jetzt der „Dorfroman“ von Christoph Peters.

Beides sind Arbeiten mit klarem Gegenwartsbezug. Ob beabsichtigt oder nicht, sie schärfen uns ein, dass der Klimaprotest seine Vorläuferin in der Antiatomkraftbewegung der siebziger und achtziger Jahre hat, und werfen damit ein vorteilhaftes Licht auf jene Generation, die damals die meisten Aktivist:innen stellte, heute aber übel beleumundet ist. Die Boomer sollen so schlimm sein? Haffner und Peters erinnern an okaye Boomer.

Dennoch trennen Film und Buch Welten, nicht nur medial. Wo „Wackersdorf“ letztlich Renitenz und Zusammenhalt einer ländlichen Region feierte – gegen ein Außen, die bauwütige bayerische Staatsregierung –, kreist „Dorfroman“ um die Entzweiung einer technokratisch belagerten Provinz.

Gespalten wie Plutonium 239

Peters, der 1966 geborene und heute in Berlin lebende Autor, bekannt vor allem durch seine famosen deutsch-japanischen Geschichten, wuchs in Kalkar-Hönnepel auf, genau zu der Zeit, als in dem Landstrich mit Ackerbau und Viehzucht der „Brüter“ hochgezogen wurde. Er erzählt, was er erlebte: Wie ein sozialliberal abgesegnetes Unternehmen die stabil geglaubte Dorfgemeinschaft spaltete, als sei sie Plutonium 239.

Plötzlich kauft ein Bauer, langjähriger Kunde des Vaters, Maschinen bei der Konkurrenz, zerbricht selbst Mutters Kaffeeklatsch. Dann geht der Riss zwischen Gegnern und Befürwortern des AKWs auch noch durch Peters’ eigene Familie. Gibt es vergleichbare Literatur aus Wackers-, Brok- oder Mörfelden-Walldorf? Die Innenansicht eines Standorts dürfte neu sein; umso besser, dass Peters sie verdreifacht. Ausgangspunkt ist eine Fahrt des Ich-Erzählers aus der Hauptstadt nach Hülkendonck (Orts- und Personennamen werden dezent verfremdet), wo die Eltern immer noch leben. Beide sind über 80, er schon leicht dement, lange werden sie nicht mehr unbetreut wohnen können.

Geschichte und Gegenwart

Den beunruhigenden Gegenwartsstrang verschränkt Peters mit zwei Vergangenheitsebenen. Mitte der siebziger Jahre ist der Erzähler im Grundschulalter und völlig eins mit dem tief katholischen Elternhaus, teilt mit ihm auch den Glauben an den Fortschrittsgaranten „Brüter“, die Weisheit der Experten. 1981/82 aber begehrt das 15-jährige Ich auf, schließt sich den verrufensten AKW-Gegnern an, einer Scheunenkommune auf dem Gelände von Bauer Praats. „Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben!“ als Roman.

Zumal Peters mit dem Seitenwechsel seine eigene Emanzipationsgeschichte erzählt, hätte sie schnell in Schwarz-Weiß-Malerei abgleiten können: Demonstranten gut, brave Katholiken schlecht. Stattdessen gelingt ihm Balancekunst, lässt er einen grundvernünftigen, wenn auch lilabehosten Protest wiederaufleben, ohne aufs Herkunftsmilieu herabzuschauen.

Im Gegenteil. Es bereitet ihm diebisches Vergnügen, die Welt eines siebenjährigen Katholikenjungen pur wiederzugeben, bloß nicht „aufgeklärt“ dazwischenzuquatschen. Eine Welt, in die manchmal Exotisches dringt („am Strafraum lauert Allan Simonsen, der Däne“), in der Evangelische eher nicht in den Himmel kommen, ständig die Ermordung durch die Baader-Meinhof-Bande droht und selbst Rinder die kommunistische Gefahr bemerken. Am amüsant Reaktionären bleiben die Reminiszenzen aber nicht kleben.

Vielmehr leistet Peters die differenzierte Beschreibung, die man von einem politischen Roman erwarten darf. Ambivalent gezeichnet ist schon die Mutter, eine Religionslehrerin, die SPD-Kanzler Brandt für einen sowjetischen Spion hält, sich aber über die Geschlechtertrennung in den Kirchenbänken hinwegsetzt. Die findet, dass es Frauen nicht steht, wenn sie rauchen, aber dem Pastor den Kommunionsunterricht aus der Hand nimmt. Nennen wir’s Mikrorevolte.

Kein Finsterling

Selbst der Vater taugt nicht recht zu dem Finsterling, den sein Teenagersohn aus ihm macht – auch wenn er als Kirchenvorstand für den Verkauf des Gemeindelands an die Brütergesellschaft mitverantwortlich war. Die Gründe seines Votums sind nun mal unskandalös, der Monteur für Landmaschinen spricht für viele Handwerker im Ort: „Es gibt keine Kanalisation, keine Straßenlaternen, und wenn man nicht von den Buren abhängig sein will, muss man fünfzehn, zwanzig Kilometer fahren, um eine Arbeit zu finden.“

Dass der wirtschaftliche Aufschwung durchs Kraftwerk ein Strohfeuer bleibt, erfahren auch der Erzähler und wir erst im Nachhinein; „Dorfroman“ verzichtet auf Besserwisserei. Also ein versöhnlicher Blick auf den Herkunftskomplex? Nicht ganz. Peters’ merkliche Verachtung, noch Dekaden später, gilt der katholischen Amtskirche. Dass dieser Verein beim Landverkauf vor keinem Winkelzug zurückschreckte und beim Kassieren die Vernunft im Munde führte, hätte im Grunde schon gereicht, den Heranwachsenden in die Arme der Reformation zu treiben.

Aber die Ökos waren sowieso unwiderstehlich, unterstreicht der Roman. Einfach, weil ihre Argumente die habituellen Macken entschuldigten. In einer großartigen Szene lauscht das jugendliche Ich einem Horror von Plenum: Gewaltfreie, Autonome und Feministinnen scheint überhaupt nichts zu einen, außer der fatalen Vorliebe fürs Adverb „echt“.

Kernschmelze und Polizeischikanen

Aber eine Kernschmelze wäre noch schrecklicher, besonders eine vor der Haustür. Eine Technologie, bei der selbst ohne Unfall Müll mit jahrtausendelanger tödlicher Strahlung übrig bleibt, kann nicht die Zukunft sein. („Haus ohne Klo“, sagt man in Japan.) Die Beobachtung von Polizeischikanen, geschickt kontrastiert mit der Freund-und-Helfer-Sicht des Siebenjährigen, nimmt den Erzähler erst recht für die Kommunard:innen ein.

Auch hängt für ihn plötzlich alles zusammen, Atomkraft, toter Rhein, Waldsterben, Verlust der Artenvielfalt. Für die Umwelt wollte er immer schon kämpfen, als kindlicher Bernhard-Grzimek-Fan wie als pubertierender Schmetterlingsfänger. Der mentale Weg ins Protestcamp ist so gesehen kurz, deshalb wirkt der Gleichklang mit Juliane, der sieben Jahre älteren Aktivistin, völlig glaubhaft. Noch realistischer, dass der arg junge Mann seine große Liebe mit einem Eins-a-Problembewusstsein beeindrucken will. Kommt mir sehr bekannt vor, der Versuch, bis auf seinen Erfolg.

Christoph Peters: „Dorfroman“, Luchterhand Verlag, München, 2020, 416 Seiten, 22 Euro

Die ersten Besprechungen haben in Julianes apokalyptischer Weltsicht, ihrer Erbitterung über einen viel zu langsamen ökologischen Wandel, die Haltung von Fridays for Future wiedererkannt. Ja, „im Grunde muss die Menschheit ganz weg von diesem Planeten. Wir sind eine Krankheit“ markiert eine Zeitschleife. Im Gedächtnis bleibt einem die verzweifelnde Heldin jedoch auch als Kontrastfigur. In den Polizeiknüppeln, die ihrer Psyche den Rest geben, spiegeln sich die Schläge des Vaters, eines Richters, der auch 1933 gut funktioniert hätte. Wie anders das Elternhaus des Erzählers.

Als zwischen Vater und Sohn politisch längst die Fetzen fliegen, schauen sie immer noch zusammen Fußball, ungläubig beobachtet von der Mutter. Es ist die vielleicht schönste und tückischste Erinnerung dieses wunderbaren Buches, denn wegen ihr fährt das Ich mit noch schlechterem Gewissen zurück nach Berlin. Nur sein Problem? Schön wär’s.

Redaktionelle Anmerkung: In einer früheren Fassung dieses Textes wurde behauptet, der Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf sei „durch den Tod von Franz Josef Strauß“ letztlich erfolgreich gewesen. Diese Behauptung war ein redaktioneller Fehler und ist keineswegs dem Autor des Textes anzulasten. Nicht die Politik, sondern die Industrie beschloss des Ende von Wackersdorf.

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