Sogenannte Clan-Kriminalität: 213 Tatverdächtige in Berlin

Wer zu vermeintlich kriminellen Clans gezählt wird, unterscheidet sich stark von Bundesland zu Bundesland. Und die Kategorien sind höchst umstritten.

Polizeifahrzeug vor dem Geschäft Razzia

Fett im Geschäft: Der Tabak- und Alkohol-Laden „Razzia“ auf der Hermannstraße in Neukölln Foto: Sascha Steinach/imago

BERLIN taz | Die jüngste Razzia gegen die sogenannte „Clan-Kriminalität“ in Berlin ist erst wenige Tage alt. Die Razzia davor ist nicht viel länger her. Denn fast wöchentlich begeben sich Dutzende Berliner Polizist*innen in verschiedene Bezirke, sperren Straßen ab und durchsuchen Shisha-Bars, Wettbüros oder Privatwohnungen, in denen Aktivitäten im Umfeld dieser „Clan-Kriminalität“ vermutet werden.

Oft sind Ordnungs- und Finanzämter, Steuerfahndung, Lokalpolitiker*innen und ein Medientross anwesend. So erzählt zum Beispiel der Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) regelmäßig vor Kameras von seiner „Null Toleranz Politik“. Die Botschaft: Der Staat duldet kein Vergehen – egal wie klein es sein mag – aus den entsprechenden Milieus. Die Beamt*innen finden tatsächlich manchmal Schusswaffen oder harte Drogen – manchmal aber auch nur unverzollten Shisha-Tabak, importierte Getränkedosen ohne Pfand oder weniger. Einige Journalist*innen verfassen dennoch jedes Mal vage gehaltene Artikel, die sich wie Pressemeldungen der Polizei lesen.

Zwei bisher unveröffentlichte Anfragen der Linken-Abgeordneten Anne Helm und Niklas Schrader, die der taz vorliegen, liefern nun Fakten aus der Senatsverwaltung für Inneres. Demnach wurden seit August 2019 in der Hauptstadt insgesamt 213 Personen als Tatverdächtige mit Clan-Bezug gezählt, darunter 16 Minderjährige. 38 weitere Personen wurden dem erweiterten Umfeld zugeordnet. Zum Vergleich: Im ländlich geprägten Niedersachsen wurden im Laufe des vergangenen Jahres 1.646 Beschuldigte mit Clan-Bezug gezählt. Woher kommt diese statistische Diskrepanz?

Um eine Erklärung dafür zu finden, muss eine andere Frage gestellt werden: Wie wird überhaupt gezählt? In der Antwort der Senatsverwaltung heißt es: Für die Erstellung der Statistik „erfolgt durch die Polizei Berlin eine umfangreiche Einzelfallprüfung anhand der Definition Clankriminalität.“ Diese Definition umfasse eine „Ausrichtung auf patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur“, „eine mangelnde Integrationsbereitschaft“, oder „das Provozieren von Eskalationen“.

Fokus auf die Herkunft

Für Schrader, Sprecher für Innenpolitik der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, stellt die Statistik selbst ein Grundproblem dar: „Ich halte es für mehr als bedenklich, wenn die Polizei durch diese Art der Datenerfassung ihren Fokus auf die Herkunft und auf die Familienzugehörigkeit legt“, sagt er. Die Statistik leiste Stigmatisierung und rassistischer Diskriminierung Vorschub. „Kriminalistisch relevant ist der Bezug zu Straftaten und sonst nichts.“ In der rot-rot-grünen Koalition sorgt das Thema für Diskussionen.

Ist die Zahl 213 eher hoch oder eher niedrig? Ist sie verhältnismäßig mit Blick auf die „Null Toleranz Politik“, die vor allem Berliner SPD-Politiker*innen vorantreiben?

Auch hier ist ein Blick auf die Erhebungsmethodik wichtig, um einzelne – vor allem urban geprägte – Regionen in Deutschland vergleichen zu können. Vier Bundesländer definieren sich als Zentren der „Clan-Kriminalität“: Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin. Die jeweiligen Innenminister würden beim Thema gerne enger kooperieren – dem stehen unterschiedliche Zählweisen und Ermittlungsstrategien in den jeweiligen Bundesländern im Weg.

Niedersachsen geht nach Namen

In Niedersachsen schauen die Sicherheitsbehörden vor allem auf den Familiennamen einer tatverdächtigen Person. Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat eine Liste mit Nachnamen definiert, die auf eine vermeintliche Zugehörigkeit zu einem Clan hindeuten sollen. Das heißt: Kommt jemand mit dem „falschen Namen“ irgendwie in Berührung mit der Polizei, landet die Person fast automatisch in der Niedersächsischen Clan-Statistik.

Einen Schritt über die Landesgrenze sieht es schon anders aus: In Bremen konzentrieren sich die Behörden laut eigenen Angaben auf 50 bis 100 Individuen, um die Ermittlungen mehr zu fokussieren. Zumindest Quantitativ sieht es dort so aus wie in Berlin. Schrader vermutet trotz der Beteuerung des Senats, Einzelfallprüfungen durchzuführen, dass auch in der Hauptstadt „allein der falsche Name ausreichen kann, um in den polizeilichen Fokus zu geraten.“

In Berlin braucht es – zumindest offiziell – für eine Aufnahme in die Clan-Statistik einen triftigen Grund. Die Hürden sind auf Papier hoch: In Deutschland ist die Erhebung ethnischer Merkmale aus historischen Gründen umstritten. Die deutsche Geschichte lehrt, dass die systematische Datenerhebung der Ethnie egal in welchem Kontext durchaus in einer ultimativen Katastrophe münden kann. Einige Innenminister setzen sich über diese Bedenken hinweg.

In Berlin wacht laut Senatsverwaltung zusätzlich die Datenschutzbeauftragte über die Clan-Statistik. Die Verarbeitung der Daten unterliege „erhöhten Anforderungen“ und müsse „verhältnismäßig“ sein. Die Senatsverwaltung stellt aber auch fest: Ob die Voraussetzungen für die Datenschutzrichtlinien „im Einzelfall erfüllt sind, entscheidet die Polizei“.

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