Auf Kollisionskurs

In der türkischen Bucht von Kas liegt eine kleine griechische Insel. Kastelorizo ist im Streit um Seerechte in der Ägäis zum Zankapfel geworden. Der Fährverkehr ist eingestellt. Die Bewohner von Kas fürchten einen Krieg

m Hafen von Kastelorizo ankert am 7. September ein grie­chisches Kriegsschiff. Die türkische Küste ist zum Greifen nah Foto: IFoto: Mehdi Chebil/Polaris/laif

Aus Kas Jürgen Gottschlich

Wir sind Freunde. Wir kennen uns doch alle, wie sich Nachbarn eben kennen“, sagte einer der Männer. „Ja wir sind zwar Nachbarn“, sagt ein anderer, „aber wir sind im Krieg.“ Kopfschütteln bei den einen und heftiges Nicken bei den anderen. Die Gruppe aus zehn älteren Herren, die um einen Tisch vor dem zentralen Taxistand von Kas sitzen und hier ihre Zeit totschlagen, ist sich uneinig.

Es ist heiß an der türkischen Mittelmeerküste in diesen Septembertagen. Das Thermometer steigt ab Mittag regelmäßig über 35 Grad Celsius, was das Städtchen am Meer in eine Art Dämmerzustand versetzt. Rund um den Hafen liegt das Zentrum der 60.000-Einwohner-Stadt. Am begrünten zentralen Platz dominieren die Restaurants, Teehäuser und Boutiquen, in den dahinter liegenden kleinen Gassen findet sich eine Mischung aus Galerien, Kleinkunstläden, Cafés und Bars. Es ist nicht viel los in Kas: Coronabedingt sind vieleTouristen nicht angereist. Da sorgt ein ausländischer Reporter, der etwas über Meis wissen will, wie die griechische Insel Kastelorizo im Türkischen heißt, für ein wenig Abwechslung.

Einer der Herren, mit wettergegerbtem Gesicht, grauem Bart und buschigen Augenbrauen, der sich als Ahmet vorstellt und sein Leben lang mit einem kleinen Boot in der Bucht von Kas gefischt hat, schwärmt von vergangenen Zeiten. „Ich bin mit meinem Boot immer rübergefahren nach Meis und habe dort einen Schluck getrunken“, erzählt er. „Wir sind doch wie Brüder. Es gibt sogar eine Moschee dort“, sagt er. Leider kann man sich selbst davon nicht mehr überzeugen. Die kleine Fähre, die vor der Coronapandemie zwischen Kas und Kastelorizo hin und her pendelte, fährt schon seit März nicht mehr. Keine Griechen kommen mehr zum Einkaufen nach Kas und keine Touristen besichtigen die griechische Insel direkt vor der türkischen Küste.

Doch auch ohne Corona wäre der Verkehr zwischen Kas und Kastelorizo wohl eingestellt, aus politischen Gründen. Zwar hat es in den griechisch-türkischen Beziehungen immer einmal wieder kritische Phasen gegeben, aber so angespannt wie jetzt war das Verhältnis schon lange nicht mehr. Seit die Türkei am 10. August damit begonnen hat, in dem Seegebiet zwischen Kas und Rhodos mit dem Forschungsschiff „Oruc Reis“ nach Gasvorkommen unter dem Meeresboden zu suchen, steht Kastelorizo unversehens im Mittelpunkt der Aus­ein­andersetzung zwischen Griechenland und der Türkei. Denn während die Türkei darauf pocht, auf ihrem Festlandssockel, der mindestens 200 Seemeilen weit ins Meer hineinragt, die Bodenschätze des Meeres ausbeuten zu können, definiert Griechenland seine Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) auf dem Meer anhand der griechischen Inseln vor der türkischen Küste.

Damit kommt das winzige Eiland Kastelorizo ins Spiel. Nach griechischer Auffassung haben auch kleine Inseln eine Ausschließliche Wirtschaftszone von 200 Seemeilen, weshalb der Türkei zwischen Kastelorizo und der nächstgelegenen griechischen Insel Rhodos 130 Kilometer westlich nur eine schmale Küstenzone bliebe, Griechenland aber über eine durchgängige AWZ bis nach Zypern verfügte.

Blick von einem alten Bunker auf Kastelorizo auf die türkische Küste Foto: Mehdi Chebil/Polaris/laif

Die völkerrechtliche Grundlage für die Festlegung dieser Ausschließlichen Wirtschaftszonen zur Ausbeutung des Meeres ist das 1994 in Kraft getretene UN-Seerechtsabkommen. Danach müssen zwischen benachbarten Staaten strittige Gebiete entweder durch direkte Verhandlungen oder durch ein Schiedsverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geklärt werden. Bis dahin ist die Ausbeutung der umstrittenen Gebiete nach UN-Recht zu unterlassen.

Entsprechend sind die Forschungsaktivitäten in dem Gebiet, die die Türkei wochenlang mit dem Schiff „Oruc Reis“ unternommen hat, illegal. Doch die Situation ist kompliziert. Zum einen hat die Türkei das UN-Seerechtsabkommen bis heute nicht unterzeichnet. Zum anderen vermuten Seerechtsexperten, dass die griechischen Ansprüche vor dem Internationalen Gerichtshof wohl nicht standhalten würden.

„Das ist doch wohl ein schlechter Witz“, sagt Nurettin Kaya. Wir sitzen auf seinem Ausflugsboot im Hafen von Kas, von wo aus man die Häuser in dem einzigen Dorf auf Kastelorizo gut sehen kann. Der Tourismusunternehmer und Tauchlehrer zeigt empört auf die griechische Insel, die wie ein Stöpsel vor der Bucht von Kas liegt. „Dieser Fleck mit gerade einmal 300 Bewohnern, diese kleine Insel nur drei Kilometer vor unserer Haustür, soll der Grund dafür sein, dass das gesamte Meer den Griechen gehört?“ Nicht nur Nurettin Kaya ärgert sich über diese „Anmaßung“ der griechischen Regierung. „Wir sind hier immer gut miteinander ausgekommen“, erzählt er. „Mit den Leuten hier oder auf Kastelorizo hat der Streit überhaupt nichts zu tun. Es ist die Politik, die unser Zusammenleben zerstört“.

Kaya befürchtet, dass die Situation weiter eskalieren könnte. Seine Heimatstadt Kas ist ein bekanntes Mekka für Taucher. Die bis zu 3.000 Meter hohen Gipfel des Taurusgebirges fallen hier teilweise fast senkrecht ins Meer. Kas ist an den Hang gebaut, alle Wege münden am Hafen. In normalen Zeiten hat Nurettin Kaya im Sommer Hunderte ausländische Kunden, die zum Tauchen nach Kas kommen. Schon wegen der Coronapandemie waren es dieses Jahr nur eine Handvoll Enthusiasten. Sollte jetzt aber auch noch scharf geschossen werden, würde wohl gar niemand mehr kommen.

Zwei türkische Fregatten kreuzen seit zwei Wochen in der Umgebung von Kastelorizo. Athen hat dafür einige Soldaten auf das eigentlich entmilitarisierte Eiland geschickt. Wie viele genau weiß niemand, es gibt nur einige Handyvideos, die zeigen, wie Soldaten eine zivile Fähre in Rhodos besteigen, die anschließend nach Kastelorizo ablegt. Der Griechenlandkorrespondent der halbstaatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Haber Ajansi, Tevfik Durul, wollte es genauer wissen. Als er von Athen kommend mit dem Schiff von Rhodos nach Kastelorizo fuhr, veröffentlichte eine rechte griechische Webseite seinen Pass, den offenbar die Polizei weitergegeben hatte. Schnell war die Rede von einem türkischen Spion. Das Ergebnis: Durul konnte auf Kastelorizo keinen Schritt ohne Begleitung tun und niemand redete mit ihm.

„Wenn die Griechen so dumm sind, wird die türkische Armee keinen Rückzieher machen“

Nurettin Kaya, Tauchlehrer

Seitdem versucht die nationalistische türkische Presse es mit dem Schlauchboot. Reporter von A-Haber, ein Propagandasender für Präsident Recep Tayyip Erdoğan, filmten Kastelorizo vom Boot aus und behaupteten anschließend, die Soldaten würden bereits Schützengräben ausheben.

Der Tauchlehrer Nurettin Kaya, der, wie er sagt, mit Nationalismus nichts zu tun haben will, ist der Meinung, dass es sich Griechenland selbst zuzuschreiben hat, wenn es zum Krieg kommen sollte. „Wenn die griechische Regierung so dumm ist, sich darauf einzulassen, wird die türkische Armee sicher keinen Rückzieher machen“, glaubt er. „Man sollte sich hinsetzen und miteinander reden“, ist seine Meinung, „aber die griechische Regierung läuft ja vom Verhandlungstisch davon.“

Diese Auffassung vertritt auch der türkische Außenminister Mevlüt Cavuşoğlu. Er beklagt, dass Griechenland die Vermittlungsbemühungen Deutschlands und der Nato unterlaufe und sich einem Dialog verweigere. Letztes Beispiel dafür seien technische Gespräche auf Militärebene, die Nato-Generalsekretär Stoltenberg vermittelt hatte, um die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen den beiden Nato-Partnern zu verringern. Kaum hatte Stoltenberg bekannt gegeben, dass diese stattfinden würden, machte die griechische Regierung einen Rückzieher.

Eine leichte Entspannung schien am vergangenen Sonntag einzutreten, als das türkische Forschungsschiff „Oruc Reis“ in Antalya einlief. „Einen „Schritt in die richtige Richtung“ nannte das der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis. Allerdings erklärte die Türkei am Montag, von einem „Rückzug“ könne keine Rede sein. Das Schiff befinde sich lediglich wegen Wartungsarbeiten im Hafen von Antalya.

Eine Fähre verbindet Rhodos mit Kastelorizo. Davor steht ein Militär-Lkw Foto: M. Chebil/Polaris/laif

Statt auf Verhandlungen setzen Athen und die griechisch-zypriotische Regierung in Nikosia auf Sanktionen. Beide verlangen, dass die EU bei ihrem nächsten Gipfeltreffen am 24. September möglichst deutliche Strafmaßnahmen gegen die Türkei verhängt. Zypern blockiert deshalb sogar EU-Sanktionen gegen den Belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko.

Kanzlerin Angela Merkel als derzeitige EU-Ratspräsidentin versucht weiterhin, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bekommen. Doch der französische Präsident Emmanuel Macron unterläuft diese Bemühungen, indem er die griechische Regierung militärisch unterstützt und versucht, die übrigen EU-Südländer für einen möglichst harten Kurs gegen die Türkei zu gewinnen.

Innenpolitisch hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan deshalb leichtes Spiel, wenn er Europa als parteiisch brandmarkt und darauf pocht, dass die Türkei „die Macht hat, um die unmoralischen Seekarten zu zerreißen“ und dafür zu sorgen, dass „unser Land gerecht an dem Reichtum unter dem Meeresboden“ beteiligt wird. Die Opposition kann dagegen erst einmal wenig tun, außer zu beklagen, dass der Präsident es geschafft habe, sich praktisch alle Nachbarn zum Feind zu machen und die Türkei international zu isolieren. „Lange kann die türkische Wirtschaft, die bereits in der Krise ist, diese nationalistische und militante Politik Erdoğans nicht mehr ertragen“, schreibt der bekannte liberale Publizist Hasan Cemal. Doch wird das Erdoğan stoppen?

Die harte Haltung der Regierung Mitsotakis erschwert es auch der Zivilgesellschaft, an frühere Friedensinitiativen zwischen Griechen und Türken anzuknüpfen. Es gibt keine Aufrufe kritischer Intellektueller. Ein Friedenskonzert, wie es die beiden berühmten Barden Mikis Theodorakis und Zülfü Livaneli vor über 20 Jahren nach dem Konflikt um die Felseninsel Imia in der Ägäis in Szene gesetzt hatten, ist nicht in Sicht.

Lediglich einzelne Kolumnisten erörtern mögliche Wege aus der Krise. Barçin Yinanç, die sich seit Langem für eine türkisch-griechische Zusammenarbeit engagiert, schreibt, EU und Nato sollten doch versuchen, zunächst einmal, wie im UN-Seerechtsabkommen vorgesehen, ein Moratorium durchzusetzen, währenddessen sich beide Seiten verpflichten, keine Schritte zur Ausbeutung der Bodenschätze in den umstrittenen Seegebieten zu unternehmen.

Für Kemal, der vor 40 Jahren aus der Metropole Istanbul nach Kas gekommen ist und dort die Mavi-Bar eröffnete, an dem Platz am Hafen, wo sich damals türkische, griechische und nordeuropäische Aussteiger die Zeit vertrieben, ist das alles eine Katastrophe. Der heute gut 60-Jährige steht immer noch hinter der Theke und erinnert sich wehmütig daran, „als hier in Kas alle friedlich versammelt waren“. Er ist wütend auf die Politiker beider Seiten, die das „kaputtgemacht“ hätten. Sein Wunsch ist es, dass „wir bald wieder nach Kastelorizo fahren und unsere griechischen Freunde zu uns kommen können“.