Welttag der Suizidprävention: Das größte Geheimnis

Wenn Menschen Suizid begehen, bleiben Familie und Freund*innen zurück. Unsere Autorin verlor ihre Mutter und war jahrelang allein damit.

Eine Kerze steht im Fenster

„Später zünde ich eine Kerze an, für Vincent und für meine Mutter“ Foto: Reilika Landen/plainpicture

Es ist April im Jahr 2020. Das Wörterbuch meines Smartphones kennt das Wort suizidieren nicht. Es kennt das Wort Suizidant*in nicht. Und das hat Gründe.

Es war April im Jahr 2006, als der Ex-Mann meiner Mutter, mein Vater, vor mir stand und sagte: „Pack deine Sachen, wir müssen gehen!“ Ich stand verwirrt in einem Geschäft, in welchem ich neben dem Fachabitur arbeitete, zog auf dem Weg in das nächstgelegene Café Gedanken in Endlosschleife hinter mir her. Und hier, in einer Einkaufspassage, sollte sich alles, alles ändern. Ich setzte mich auf einen Barhocker, Menschen gingen mit Einkaufstüten an mir vorbei. „Die Monika ist tot“, sagte mein Vater, ganz unvermittelt, hilflos, überfordert.

Mama!“, schrie ich, aber es blieb im Kopf. Das war das Schlimmste. Es blieb einfach im Kopf.

Ich weiß noch, dass ich so geschockt war, so plötzlich gebrochen, dass mir das kurze und spontane Weinen nicht unangenehm war. „Ich will jetzt gehen“, sagte ich zu meinem Vater. Alles, was dann passierte, weiß ich noch, als wäre es erst gestern gewesen: die Straßen, die Menschen, die Straßenbahn: Die Monika ist tot. Es war Frühling, ich war 19 Jahre alt und plötzlich Halbwaise. Das Wort kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Der Gedenktag

Jährlich suizidieren sich 800.000 Menschen. Mit einem Suizid alle 40 Sekunden ist dies eines der größten Gesundheitsprobleme der Welt. Darauf macht der Internationale Tag der Suizidprävention am 10. September aufmerksam. Als Zeichen der Anteilnahme kann um 20 Uhr eine Kerze ins Fenster gestellt werden. Weitere Informationen unter suizidpraevention.wordpress.com

Wo es Hilfe gibt

Wenn Sie selbst traurige Gedanken haben oder vielleicht sogar an Suizid denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Das können Freund:innen oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können. Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung bei Sorgen und Krisen: 0800-111 111 oder 0800-111 222 oder 116 123. Wenn Sie lieber schreiben als sprechen wollen: Unter www.telefonseelsorge.de können Sie auch mit einem oder einer Seelsorger:in chatten.

Wer war ich ohne sie?

Mama! Ein Wort, meistens unachtsam gerufen. In meinem Fall häufig eine fassungslose Anklage. Dennoch war auch für mich dieses Wort Teil meines Alltags und der Beleg einer beidseitigen Beziehung. Und ausgerechnet ich verlor an diesem Tag die Adressatin und das Wort verlor damit seinen eigentlichen Sinn: Es war für mich nur noch eine Hülse. Mein aktiver Wortschatz wurde beschnitten. Ich hatte eine Identität verloren. Wer war ich ohne sie? Was ist eine Tochter ohne die Mutter? Gibt es so etwas überhaupt?

Ich schwitze Angst, während ich diesen Text schreibe. Draußen herrscht Covid-19, hier drinnen herrschen die Erlebnisse von mir, damals 19. Ich erinnere mich an Fassungslosigkeit, Wut, Empörung. Aber auch: Erleichterung. Endlich hatte sie es geschafft! Es war ja schließlich nicht ihr erster Versuch. Und es wäre nicht das erste Mal, dass darüber so gut wie gar nicht gesprochen, schlimmer noch, dass dem Suizid ein Vielleicht danebengestellt wurde. Denn ihr Tod konnte mir nur Wahrscheinlichkeiten anbieten. „Der Suizid ist das größte Geheimnis“, diesen Satz werde ich viel später erst kennen und verstehen lernen.

Dreizehn Jahre später. Ich beginne mich als das zu begreifen, was ich in diesem Kontext auch bin: die Hinterbliebene einer Suizidantin. Dreizehn Jahre später sitze ich an dem Tisch von Ursula Großkreutz. Sie ist seit 2013 die Gruppenleiterin von Agus e. V. in Düsseldorf, dem Verein Deutschlands, welcher sich um Hinterbliebene von Sui­zi­dant*innen kümmert. Das Herz tobt, der Kopf pulsiert. Bevor es zu diesem Treffen kam, telefonierten wir. Ich bin Journalistin, sagte ich, und meine Mutter hat Selbstmord begangen.

„Also erst mal“, sagt Großkreutz, „heißt es nicht Selbstmord!“ „Warum?“, will ich wissen. Großkreutz überlegt und sagt: „Der Begriff ‚Mord‘ ist ein rechtswissenschaftlicher. Ein Mord ist ein krimineller Akt“, sagt sie. „Und das ist der Suizid nicht.“ Über Begrifflichkeiten und anderes spricht Großkreutz auch in der Selbsthilfegruppe, zu der sie durch ihr eigenes Schicksal gekommen ist. Ihr Sohn, Vincent, suizidierte sich 2007. Er wurde 23 Jahre alt.

Ein Hauptthema in der Selbsthilfegruppe ist Schuld. „Das ist das Erste, was abgebaut werden muss“, so Großkreutz. Besonders vonseiten der Gesellschaft sei das ein Problem. Und das, obwohl die Zahlen deutlich sprechen. In Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch Suizid als an Verkehrsunfällen, Drogen, AIDS und Mord zusammen.

Im Alter von 15 bis 24 ist Suizid die häufigste Todesursache. Im Jahr 2018 waren es 9.396 und damit über 25 Menschen pro Tag, im Jahr 2006 lag die Zahl bei 9.765. „Es ist wichtig“, sagt Großkreutz, „dass wir klar über den Suizid reden und der Gesellschaft vermitteln, dass der Hintergrund meistens eine Krankheit, Terror im Kopf, und nicht irgendeine Laune ist. Dann ist der Suizid manchmal der letzte selbstbestimmte Akt. Und: Er ist das größte Geheimnis.“

Stigmatisierung produziert Unvermögen

Auch psychische Erkrankungen in Deutschland nehmen immer mehr zu. Die meisten meiner Freund*innen, mich eingeschlossen, sind oder waren bereits in Therapie oder hatten einen stationären Aufenthalt in Psychiatrien oder psychosomatischen Kliniken hinter sich. Für uns: Normalität. Für die Gesellschaft: Stigma.

Für mich war nach dem Tod meiner Mutter die einzig möglich erscheinende Verarbeitung Verdrängung. Dann kam die panische Angst in diversen Gewändern daher. Es gab den einen Punkt, an dem sie sich bis zur Unaushaltbarkeit geschraubt hatte. An diesem Tag telefonierte ich die Liste an The­­ra­peut*innen ab.

Stigmatisierung produziert Unvermögen, selbst in professionellem Kontext. Ich löste mit Unterstützung von Freun­d*innen die Wohnung meiner Mutter auf und fehlte in der Schule. Ich war 19 und musste mich selbst entschuldigen. „Meine Mutter ist gestorben“, sagte ich. Eine Lehrerin fragte: „Aha, woran denn?“ Erschrocken und plötzlich wach sagte ich: „Sie hat sich das Leben genommen.“ Noch heute weiß ich, wie sie mich ansah und sagte: „Ich dachte, Mütter machen so was nicht.“ „Das dachte ich auch“, sagte ich. Vielleicht glaubte ich das wirklich, vielleicht war es auch nur Schlagfertigkeit.

Es ist heutzutage noch schwierig für mich, eine angemessene Antwort zu finden, wenn jemand, der mich und meine Geschichte nicht kennt, nach meiner Mutter fragt. Bei ersten Dates, auf Partys, an Spieleabenden. Ich zögere dann, weniger aus Angst vor meiner Reaktion, mehr aus Angst vor der Reaktion der anderen. Meine Mutter hat sich suizidiert. Oft sind die Ge­sprächs­part­ner*innen geschockt und ratlos, teils auch peinlich berührt, sodass ich automatisch beginne zu relativieren. Beispielsweise indem ich hinzufüge, dass sie ihrer Mutterrolle bereits sehr früh nicht gerecht wurde. Das Sprechen über ihren Suizid an sich, wenn er einmal mit im Raum ist, finde ich oft sogar heilsam. Besonders dann, wenn Menschen bedachte Fragen stellen, beispielsweise, wie es für mich heute ist, darüber zu sprechen, oder wie ich es damals erlebt habe.

Keine Privatsache

„Ich wünsche mir, dass sich die Menschen so weit öffnen, dass sie individuell nachfragen und wirklich Interesse haben, bevor sie ein schnelles Urteil fällen“, sagt Großkreutz. „Dass wir so einen Dialog führen können, wie wir ihn jetzt führen, das wünsche ich mir!“ Woran liegt das, frage ich mich? Das ähnliche Schicksal? Sicher nicht. So ein Gespräch habe ich in meiner Familie nicht geführt.

Später zünde ich eine Kerze an, für Vincent und für meine Mutter. Für zwei von etwa 10.000 Menschen, die sich jährlich suizidieren. Und dann denke ich an Ursula Großkreutz, an mich und all jene, die jemanden kennen, der_die sich suizidierte. Ich denke an diese Gesellschaft und an ihre Verantwortung. Psychische Erkrankung und Suizid sind keine Privatsache, auch wenn sie als Themen in der heutigen Leistungsgesellschaft wenig Platz finden. Ich wehre mich gegen ihre Privatisierung.

Nach dem Tod meiner Mutter wurde sehr schnell so getan, als hätte es sie und den Suizid nie gegeben. Aber: Es gab sie. Ich bin der lebende Beweis. Sprechen wir darüber.

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33, arbeitet als freie Journalistin sowie als pädagogische Mitarbeiterin in der Bildungsarbeit und studiert Sozialarbeit in Krefeld.

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