Menschen mit Mundschutz

Die Fotos stammen aus der Serie „One“. Sei zeigt Menschen mit Mundschutz zwischen 5 und 106 Jahren Foto: Thomas Kierok/Laif

Impfstoff gegen Corona:Alle Welt wartet

Während Covid-19 überall wütet, sichern die reichen Länder sich vorab Impfstoffe. Doch vielleicht gibt es eine Lösung.

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29.8.2020, 10:44  Uhr

Der Parkplatz des Krankenhauses gleicht einer Zeltstadt. Planen schirmen Patient*innen notdürftig ab, überall zieht der Wind rein. Eine Sackkarre steht neben ein paar grauen Gasflaschen, die nach Baustelle aussehen. Es ist die Covid-19-Station einer südafrikanischen Kleinstadt im Osten des Landes. Wer hier liegt, der kämpft mit dem Leben, dem raubt Covid-19 die Luft.

Gefilmt hat diese bizarre Szene eine junge Frau, deren Vater in der provisorischen Zeltstadt starb. Das war Anfang August. Den Parkplatz bezeichnet seine trauernde Tochter als Leichenschauhaus.

Das Video ging viral. Es zeigt ein Land, das im Gesundheitsnotstand ist, so wie viele Länder momentan.

Seit Monaten werden laut Johns-Hopkins-Universität täglich 200.000 bis 300.000 neue Infektionen weltweit nachgewiesen. Über 800.000 Menschen sind bisher insgesamt an dem Virus gestorben, weit mehr als durch eine starke Grippeepidemie. Täglich kommen Tausende hinzu, die traurige Kurve der Verstorbenen weltweit wird nicht flacher.

Forscher, Konzerne und Regierungen arbeiten deshalb unermüdlich an Therapien und dem ersehnten Impfstoff. Mehr als 170 Forschungsprojekte sind es auf der ganzen Welt. Als wäre der Impfstoff das Wettrennen zum Mond, hat Russland jüngst stolz den ersten Wirkstoff zugelassen, allerdings völlig unzureichend getestet. „Furchtbar“ sei dieses „russische Roulette“, kommentierte der Kölner Infektiologe Gerd Fätkenheuer im Kölner Stadt-Anzeiger. US-Präsident Donald Trump holte nach und erteilte vergangene Woche eine Notfallgenehmigung für eine auf Plasma gestützte Behandlungsmethode. Ihr Nutzen: unbekannt.

Die Entwicklung geht so schnell wie nie. Zehntausende Menschen lassen Impfstoffe an sich testen – in Großbritannien, Brasilien, den USA, China, Deutschland und vielen anderen Ländern. Sechs Wirkstoffe befinden sich in der finalen Phase III, dem Massentest vor einer Zulassung, darunter der Stoff der Mainzer Firma BioNTech. Drei weitere sind in Phase II, mit dabei das Tübinger Unternehmen CureVac.

Expert*innen sprechen von einer nie dagewesenen Kooperation zwischen Staaten und Unternehmen, einer Reaktion in Rekordzeit. Coronatests und Forschungen waren auch deshalb so schnell möglich, weil Informationen über das Virus, etwa sein genetischer Bauplan, frei geteilt wurden. Die Menschheit hat aus vergangenen Seuchen gelernt. Aus Ebola, Mers, Sars, der Schweinegrippe und HIV.

Und trotzdem schimmert überall noch nationaler Egoismus durch. Baldige Hilfe ist möglich, aber die entscheidende Frage über Leben und Tod in vielen Ländern ist: Wer bekommt wie schnell einen Impfstoff? Diejenigen, die ihn am Dringendsten brauchen? Oder die am meisten zahlen?

Frau mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok/Laif

Fragt man Salim Abdool-Karim, was mehr zählt, Not oder Profit, dann lacht er. Abdool-Karim ist Epidemiologe, Professor an der US-amerikanischen Eliteuniversität Cornell, Südafrikaner und ein Veteran im Kampf gegen tödliche Viren. An diesem Morgen im August sitzt er in seinem Büro in Durban, das Interview findet per Video statt. Abdool-Karim ist an der Universität stellvertretender Rektor der Forschungsabteilung. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und winkt freundlich in die Kamera.

Anfang der 2000er Jahre war er einer der Pioniere im Kampf gegen HIV. Damals lebten mehr als 4 Millionen Menschen mit dem Virus, fast 20 Prozent der Bevölkerung Südafrikas. Die meisten so arm, dass sie sich die teuren Medikamente nicht leisten konnten.

Erst als ein Rechtsstreit zwischen der südafrikanischen Regierung und 39 multinationalen Pharmakonzernen 2001 beigelegt werden konnte, wurden die Medikamente günstiger. Generika, vor allem aus Asien, ersetzten nun die teuren Originale.

Abdool-Karim kämpfte damals als Mediziner und Aktivist. Er sprach offen über die Profitsucht der Konzerne. Heute sitzt er als Berater der südafrikanischen Regierung im Coronakrisenstab.

613.000 Infizierte, überlastete Krankenhäuser und mehr als 13.000 Tote. Das ist die Größenordnung der Aufgabe, die Abdool-Karim zu stemmen hat. Gemeinsam mit anderen Expert:innen versucht er, das Land durch die Krise zu führen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Südafrika etwas abbekommt vom begehrten Impfstoff, und zwar so schnell wie möglich.

Denn wer in Südafrika an einem schweren Verlauf von Covid-19 erkrankt, für den ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben wegen des schlechten Gesundheitssystems wesentlich höher als in Deutschland oder anderen EU-Staaten. Die Geschichte des viralen Videos aus Südafrika steht exemplarisch für Hunderttausende Schicksale in fast allen Entwicklungsländern.

Wer Geld hat, sichert sich einen Impfstoff. Ein wildes Wettbieten um die ersten Impfstoffe ist im Gange: Die EU kauft vorab 405 Millionen Dosen eines möglichen Impfstoffs beim Tübinger Hersteller CureVac, bis zu 400 Millionen Dosen beim britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca, der einen von der Universität Oxford entwickelten Impfstoff produzieren will. Der US-amerikanische Pharmariese Pfizer und das deutsche Unternehmen BioNTech zeichneten ein Abkommen mit den USA über 100 Millionen Impfdosen für 1,95 Milliarden Dollar.

„Uns bleiben vermutlich nur die Reste“, sagt Abdool-Karim. „Die USA und Europa haben bereits erste Verträge unterschrieben und sich einen Zugang gesichert.“ Gewinnt also der Profit? So einfach ist die Sache nicht. Denn Vorabverträge können auch Sinn ergeben. Die Frage einer gerechten Verteilung und des Zugangs dazu beschäftigt auch Institutionen wie die WHO und die EU-Kommission.

Mann mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok/Laif

15,6 Milliarden Euro sammelte die EU-Kommission für den globalen Kampf gegen das Coronavirus. Die Pandemie sei nur vorbei, wenn sie überall vorbei sei, sagte Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin: „Das heißt, dass jede Person auf der Welt Zugang zu Tests, Behandlungen und Impfstoffen hat, egal, wo sie lebt, woher sie ist und wie sie aussieht.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel so wie auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versicherten, der Impfstoff „sei ein globales Gut für alle Menschen“. Macron verkündete: „Gesundheit kann man nicht kaufen und verkaufen.“

Warum die EU sich aber trotzdem exklusiv Impfstoffe sichert, erklärt die EU-Kommission in einem Strategiepapier: Das an die Konzerne gezahlte Geld dient als Anzahlung für spätere Impfstoffe, damit die Entwicklung, Tests und Zulassung beschleunigt und parallel Produktionsstätten aufgebaut werden können. So gehe alles viel schneller und davon profitiere die ganze Welt, schreibt die Kommission auf Anfrage.

Mittlerweile verhandelt die EU-Kommission Vorverträge über Impfstoffe für alle Staaten der Union gebündelt. Alle Hersteller, die so oder durch andere Fördertöpfe finanziert werden, müssen versprechen, auch Entwicklungsländern Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Was genau in diesen Verträgen steht, wie konkret sich Pharmakonzerne zur günstigen Abgabe von Impfstoffen an Entwicklungsländer verpflichten – all das ist völlig intransparent.

Und vor allem heißt das nicht, dass die Impfstoffe nach Bedarf verteilt werden. Die EU-Kommission schreibt auf Anfrage, man wolle nicht benötigte Impfdosen an Entwicklungsländer spenden. Heißt übersetzt: Erst kommen wir, dann die anderen.

Mann mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok/Laif

Das zeigt auch das Beispiel Gavi, eine globale Impfallianz privater Geldgeber, Staaten und Organisationen wie der WHO, der Gates Stiftung und der Weltbank. Gavi hat den Auftrag, den Zugang zu Impfstoffen etwa gegen Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten auch für Länder des globalen Südens zu sichern und hat bereits mehrere Kooperationen angekündigt, etwa mit AstraZeneca. Oder in Form eines Programms mit Namen ACT-Accelerator. Es sieht vor, Dosen eines Corona-Impfstoffes von Unternehmen mit öffentlichen und privaten Geldern einzukaufen und dann günstiger an einkommensschwache Länder abzugeben.

Von dieser Kooperation könnten 92 Länder profitieren. Auch Südafrika. Allerdings könnten nur rund 20 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung Zugang zu dem Impfstoff erhalten. Was aber immerhin für Risikogruppen und medizinisches Personal ausreicht. Mehr Dosen sind in dem Programm nicht vorgesehen. Und dann? Salim Abdool-Karim sagt, man müsse bei der Verteilung Prioritäten setzen: Alte, Kranke und wichtiges Personal müssten zuerst versorgt werden. Der Rest müsse warten. Vielleicht Jahre. Angesichts der Erfahrungen Südafrikas mit HIV ist Abdool-Karims Sorge verständlich.

„Wir dürfen jetzt nicht die gleichen Fehler machen wie damals bei HIV“, sagt eine, die ihr Leben einem Ziel gewidmet hat: dem universellen Zugang zu wichtigen Medikamenten für alle Menschen. Ellen ’t Hoen heißt sie, heute ist sie bei der in Amsterdam ansässigen Organisation Medicines Law & Policy. Seit 30 Jahren arbeitet die Anwältin für ihr Ziel. Eines der häufigsten Hindernisse für einen fairen Zugang zu Medikamenten waren in der Vergangenheit die Eigentumsrechte von Pharmaunternehmen. Das niederländische Königshaus verlieh ’t Hoen im Jahr 2020 für ihre Arbeit den Orden von Oranien-Nassau, eine Art Bundesverdienstkreuz.

Anfang der Nullerjahre starben in Entwicklungsländern täglich 8.000 Menschen an Aids. Seit 1999 gab es antivirale Medikamente gegen HIV, die vielen das Leben hätten verlängern können. In den Industrieländern waren sie erhältlich, in Entwicklungsländern lange nicht. Indien produzierte zwar Generika, weil es dort noch keinen Patentschutz gab, durfte sie aber nicht exportieren. Besonders Südafrika litt darunter.

Ellen 't Hoen, Anwältin von Medicines Law & Policy

„Wir dürfen jetzt nicht die gleichen Fehler machen wie damals bei HIV“

Auch wenn HIV und Sars-Cov-2 in vielerlei Hinsicht verschieden sind und es bei HIV um Therapien, nicht um Impfungen ging: Die Geschichte könnte sich bei Covid-19 im Zeitraffer wiederholen, fürchtet ’t Hoen. Aber, und deshalb lohnt sich der Vergleich zwischen HIV und Sars-Cov-2: ’t Hoen und ihre Mitstreiter*innen haben im Kampf gegen HIV und andere Seuchen die grundlegenden Strukturen für die heutige Kooperation gegen Sars-Cov-2 geschaffen.

Darauf baut Carlos Alvarado Quesada auf, der Präsident und Gesundheitsminister von Costa Rica, der zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai einen Technologie-und Patente-Pool zur Bekämpfung von Covid-19, abgekürzt C-Tap, vorgeschlagen hat.

Die Idee ist radikal: Um Covid-19 zu bekämpfen, braucht es nicht nur Impfdosen und die Lizenz, sie herzustellen. Es braucht auch die nötigen Technologien und rechtssichere Abkommen, sie zu verwenden, dazu das Wissen über Produktionsabläufe, mögliche Therapien, die Logistik, die Software und natürlich das Personal, um alles zu verwalten. Bündelte man die nötigen Informationen dazu weltweit und für alle, müsste alles doch viel schneller gehen.

Bisher haben 40 Länder ihre Unterstützung angekündigt, von den Industrieländern allerdings nur Norwegen, Luxemburg, Niederlande und Belgien. Das könnte sich aber bald ändern: Man befinde sich noch im Aufbau, Gespräche mit der Industrie und mit Industrieländern liefen. „Wir hoffen, wir können bald mehr dazu sagen“, sagt ein WHO-Sprecher.

Frau mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok/Laif

Dass C-Tap absolut Sinn ergibt, für Menschen und Konzerne, zeigt das Beispiel HIV. Im August 2008 kamen 25.000 Menschen zur 17. Welt-Aids-Konferenz in Mexiko zusammen. Prominente sangen Lieder und es gab zur Eröffnung flammende Appelle, die Seuche endlich gemeinsam zu bekämpfen. Die Reden erinnern an die Appelle heute bei Covid-19.

Am Rande der Konferenz verhandelte Ellen ’t Hoen mit den Pharmariesen der Welt, mit dem Ziel, wichtige Medikamente für Menschen in Entwicklungsländern bezahlbar zu machen. ’t Hoen war damals Leiterin der Politikabteilung bei Ärzte ohne Grenzen. Im Jahr 2010 wurde sie erste Leiterin des Medicines Patent Pool von Unit­aid, einer internationalen Organisation, die für bezahlbare Medikamente gegen HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose arbeitet. Der Pool ist heute eine der Grundlagen für C-Tap.

Erst 2011 brachte das US-Unternehmen Gilead als erstes Pharmaunternehmen Patente für ein Anti-HIV-Medikament in den Pool ein. Auch weil es ein gutes Geschäft war: Gilead bekam 3 bis 5 Prozent Lizenzgebühren und einen riesigen Markt. Andere Pharmaunternehmen folgten, heute sind 13 Medikamente gegen HIV, drei gegen Hepatitis C und eines gegen Tuberkulose in Entwicklungsländern bezahlbar.

Vor allem aber brachten die Konzerne auch neue, bessere Wirkstoffe ein, die noch nicht genehmigt waren, inklusive des Wissens über ihre Herstellung. „Die Generikahersteller konnten loslegen, sobald die Wirkstoffe genehmigt waren“, sagt ’t Hoen. Diese Beschleunigung rettete Leben – deshalb müsse das Prinzip jetzt auch bei Covid-19 angewandt werden, sagt die Anwältin.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

’t Hoen ist nicht gegen geistiges Eigentum. „Patente sind keine Frage der Moral, ihre Verwendung schon“, sagt sie. Sie sicherte mit dem Medicines Patent Pool beide Seiten ab: die Industrie, die Lizenzgebühren erhielt, und die Generikahersteller, die trotz Gebühren günstig und rechtssicher Medikamente herstellen konnten. Zwar ist die Zahl der Menschen, die mit HIV leben, seit 2009 auf heute circa 38 Millionen angestiegen. Dafür werden 25 Millionen Menschen mit Medikamenten behandelt.

Der Rest bekommt keine, weil die Infrastruktur fehlt oder Krieg herrscht. Im Jahr 2009 bekamen nur rund 6 Millionen Menschen Medikamente, bei damals 33,3 Millionen Infizierten weltweit. Immer noch sterben fast 700.000 Menschen jährlich an durch Aids ausgelösten Krankheiten. Das sind aber immerhin rund 40 Prozent weniger als 2010.

Derzeit ist allerdings wegen Covid-19 vielerorts die Versorgung mit Medikamenten gegen HIV, die das Virus unterdrücken, unterbrochen. Sollte sich das nicht ändern, könnte eine halbe Million Menschen an Aids erkranken und sterben – wegen Maßnahmen gegen Covid-19.

Ist der Patentpool nun ein Erfolg? ’t Hoen seufzt am Telefon. „Die Antwort hängt davon ab, an welchem Wochentag Sie mich fragen. Manchmal glaube ich, wir haben enorme Fortschritte gemacht. Manchmal glaube ich, wir brauchen ein ganz anderes System für medizinische Entwicklungen“, sagt sie. Vor allem aber hätte die Zeit gezeigt, wie man die Pharmaindustrie dazu bringt zu kooperieren.

Paul Fehlner, Patentschützer

„Die Pharmabranche denkt, alles was nicht direkt für mich ist, muss gegen mich sein. Die haben die Idee, Ideen zu teilen, nicht kapiert“

Aus ihrer Sicht waren es vier wichtige Punkte: Öffentlicher Druck, öffentliche Gelder, die glaubhafte Drohung mit staatlichen Zwangslizenzen auf die Medikamente und Barack Obama. Der ordnete das National Institute of Health persönlich an, seine Patente auf HIV-Mittel als Erstes allgemein zugänglich zu machen. Einer der treibenden Köpfe damals im Hintergrund übrigens: der HIV-Experte Anthony Fauci, der heute Donald Trump im Kampf gegen Covid-19 berät und allzu oft an seinem Chef verzweifelt.

Paul Fehlner ist niemand, der leicht verzweifelt. Der US-Amerikaner schützt Entwicklungen von Pharmaunternehmen, Patente sind sein Leben. Von 2008 bis 2017 war er „Chef des geistigen Eigentums“ beim schweizerischen Pharmaunternehmen Novartis, heute arbeitet er in gleicher Position beim US-Biotech-Unternehmen Axcella. Mit seiner Haltung zu der weltweiten Kooperation ist er aber in seiner Branche eine Ausnahme. Denn Paul Fehlner glaubt nicht, dass diese das Ende von Patenten und dem Schutz geistigen Eigentums von Pharmakonzernen bedeute. Es gehe nur darum, das Modell des geteilten Wissens sinnvoll zu gestalten.

Die Erfahrungen mit Medikamenten gegen HIV und Tuberkulose hätten die Dynamik in der Pharmaindustrie grundlegend verändert – und Covid-19 könnte den Trend noch verstärken: „Die Industrie hat eingesehen, dass Länder mit schlechter Ökonomie keine Märkte für ihre teuren Medikamente sind“, sagt er. Es sei denn, sie werden gegen Lizenz dort billig hergestellt.

Zumindest teilweise haben die Konzerne das verstanden: Indische Generikahersteller produzieren das Mittel Remdesivir von Gilead Sciences, das den Krankheitsverlauf von Covid-19 abmildern soll, mittlerweile unter Lizenz 80 Prozent billiger für die eigene Bevölkerung. Auch AstraZeneca hat Vereinbarungen mit dem indischen Serum Institute geschlossen, einem der größten Impfstoffproduzenten weltweit. Es soll den in Oxford entwickelten Impfstoff als Generikum für Entwicklungsländer günstig herstellen.

Aus diesen Einzelfällen sollte ein Prinzip werden, sagen Fehlner und ’t Hoen: „Wenn eine Impfung gegen Corona in Entwicklungsländern bezahlbar zugänglich ist, dann macht das einfach zusätzliche Einnahmen für die Unternehmen“, sagt Fehlner.

Es gibt weitere Zeichen der Hoffnung: Die Bill and Melinda Gates Foundation hat ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 15 Pharmakonzerne sämtliche Daten zu bereits bekannten Wirkstoffen, die möglicherweise gegen Covid-19 helfen, teilen. „Das ist ein enormer Fortschritt im Vergleich zur letzten Pandemie, dem Sars-Ausbruch 2002“, sagt Fehlner. Auch damals verursachte ein neuartiges Coronavirus ein bis dahin unbekanntes schweres akutes Atemwegssyndrom, kurz Sars. Damals forschten die Pharmakonzerne jeder für sich an einem Gegenmittel.

Für Fehlner ist die Sache einfach. Wenn wie derzeit Milliarden an öffentlichen Geldern an die Pharmaindustrie gehen, dann müsse das mit klaren Auflagen verknüpft sein, nach dem Motto: Alles erforschte Wissen wird geteilt, fertig. Staaten zahlen die Entwicklung für die Impfstoffe, zahlen für Impfdosen und Produktionsstätten, bevor die Wirkung überhaupt erwiesen ist. Damit nehmen sie der Industrie die Risiken ab.

„Die Öffentlichkeit kann jetzt aus ihrem Investment auch Profit erwarten: dass Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich früher zur Verfügung stehen, weil das nötige Wissen geteilt wird“, sagt Fehlner. Diese Idee der WHO wäre nicht das Ende, sondern der Beginn echten Wettbewerbs.

Frau mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok

Mit der Pharmaindustrie über die Frage nach der globalen und gerechten Verteilung eines möglichen Impfstoffes zu sprechen, ist kaum möglich. „Da wir als Nasdaq-gelistetes Unternehmen derzeit eine Kapitalerhöhung durchführen, ist es uns nach amerikanischen SEC-Regularien zu diesem Zeitpunkt nicht möglich, Interviews zu führen. Sobald die Transaktion abgeschlossen ist, stehen wir gerne wieder für Gespräche zur Verfügung“, antwortet BioNTech, der deutsche Impfstoffhersteller und Partner des Pharma­riesen Pfizer auf Anfrage der taz. Eine ähnliche Antwort kommt vom Tübinger Impfstoffentwickler CureVac.

Schließlich ist doch jemand bereit zu sprechen: Andy Powrie-Smith, Sprecher von Vaccines Europe, einem Zusammenschluss der europäischen Pharmaindustrie. Ein rundlicher Mann mit Brille, der sich per Videointerview aus seinem Landhaus in Schottland zuschaltet, um die Sicht der Konzerne zu schildern.

„Die Unternehmen befinden sich gerade in einer Entwicklungsphase“, sagt Powrie-Smith und spricht von einer nie dagewesenen Zusammenarbeit zwischen privaten Unternehmen, öffentlichen Forschungseinrichtungen und Staaten. Er klingt begeistert.

Könnte also tatsächlich eine Verteilung gelingen, von der nicht nur die G20-Staaten, sondern auch der Globale Süden profitiert? Powrie-Smith sieht dabei vor allem die Regierungen in der Verantwortung: „Die Industrie arbeitet an der Herstellung und an einer Produktion, die sicherstellt, dass ein möglicher Impfstoff global verteilt werden kann“, sagt er. „Gerecht und vor allem bezahlbar.“

Mädchen mit Mundschutz

Foto: Thomas Kierok/Laif

Die Forderung von Staaten wie Costa Rica, die Pharmaindustrie solle ihre Patente und ihr Wissen in einen gemeinsamen Pool einbringen, sieht er aber genauso kritisch wie ein Großteil der Industrie. „Ich halte das für Unsinn und zum jetzigen Zeitpunkt auch für gefährlich“, sagt etwa Albert Bourla, Chief Executive von Pfizer. „Innovationen kosten nun mal viel Geld“, verteidigt Powrie-Smith die Aussage seines Kollegen. Fortschritt in der Entwicklung von Medikamenten sei ein jahrelanger Prozess. Würden Firmen ihre Patente für einen möglichen Covid-19 Impfstoff einfach abtreten, seien die langjährig aufgebauten Strukturen in Gefahr, Investoren würden abspringen.

Doch die Idee des Pools ist ja nicht, Patente abzutreten, sondern sie offen zur Verfügung zu stellen. Nicht keinen Profit zu machen, sondern weniger. Fehlner fürchtet, bei einigen Managern herrsche ein lang gehegtes Misstrauen, eigene Entwicklungen einfach zu teilen. „Die Branche denkt, alles, was nicht direkt für mich ist, muss gegen mich sein. Ich vermute, die haben die Idee, Ideen zu teilen, nicht wirklich kapiert“, sagt er.

Momentan läuft eine Testreihe zu einem möglichen Corona-Impfstoff in Johannesburg, die einzige auf dem afrikanischen Kontinent. Getestet wird der Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca und der Universität Oxford. Erforscht wird, wie die südafrikanische Bevölkerung auf den Wirkstoff reagiert, denn der Wirkungsgrad hängt auch von sozialen und ökonomischen Faktoren wie Einkommen und Lebensumständen ab. Auch in Brasilien läuft so eine Studie. Besseren Zugang bekommen die beteiligten Länder allerdings nicht. „Durch diese Studie sitzen wir immerhin mit am Tisch“, sagt Abdool-Karim.

Ellen ’t Hoen und Fehlner glauben, dass es für Länder wie Südafrika noch nicht zu spät ist. Die Staaten müssten aber deutlich konsequenter Pharmaunternehmen dazu verpflichten, öffentlich finanzierte Technologien und Patente auch öffentlich zugänglich zu machen. Beide hegen die leise Hoffnung, dass aus der Coronapandemie etwas Neues entstehen könnte: Innovationsmodelle, die mehr auf Kooperation beruhen. Krankheiten könnten so binnen Jahren, nicht Jahrzehnten besiegt werden. „In ein paar Jahren sagen wir vielleicht: Corona, das war der Start eines neuen Modells in der Medizinentwicklung“, sagt ’t Hoen.

Es sei Wahnsinn, sagt Fehlner, dass Pharmakonzerne weltweit gleichzeitig an denselben Problemen forschen und die meisten ihre Ergebnisse immer noch voreinander verstecken. Wie viel schneller könnten Krankheiten geheilt werden, würde sich das ändern?

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