Familienmord beschäftigt Frankreich: Zu fröhlich, zu glücklich

Die Zeitschrift „Society“ veröffentlicht die Hintergründe zu einem dramatischen Mord aus dem Jahr 2011 – und alle wollen ein Exemplar haben.

Blick auf ein Kloster in Südfrankreich

In der Vergangenheit führte die Spur im Fall immer mal wieder in dieses südfranzösische Kloster Foto: Philippe Amassan/picture alliance

Vor einigen Wochen, zu Beginn dieses seltsamen, aber irgendwie schönen Sommers, in dem man französische Strände des Physical Distancings wegen „dynamisch“ besucht und sich daran gewöhnt hat, permanent Leuten zu begegnen, die aussehen, als würden sie gleich eine Bank ausrauben, in dem endlich mal keiner Monate mit seinem Urlaubsziel angab, einfach weil sich diesmal fast alle auf spontan zusammengebastelten (Inlands-)Routen bewegen, saßen wir bei einem Freund in der Bretagne auf der Terrasse seines angemieteten Hauses und sprachen über Mord und zu glücklich wirkende Menschen.

Dieses Haus, das oberhalb einer Klippe unweit von Pont-Aven, der Stadt von Gauguin und der berühmten „Schule von Pont-Aven“ lag, sei komisch, hatte er angekündigt, irgendwas sei mit den Besitzern faul. Sie würden auf den vielen, in allen Ecken verteilten Fotos zu fröhlich, zu glücklich, zu aufgeräumt aussehen, fand er, die vielen „Super-Mama“-, „Bester Papa der Welt“- und „La vie est belle“- Magneten am Kühlschrank würden doch im Grunde von einer tiefen Verzweiflung, vielleicht sogar von Welthass zeugen.

Dieser Freund, das muss man vielleicht dazu sagen, bevor er wie ein Misanthrop wirkt, hat vor vielen Jahren ein Buch über einen Mann geschrieben, der eines Tages, quasi aus dem Nichts, seine Familie ermordet, nur damit diese nicht aufdeckt, dass alles in seinem angeblich so schön geordneten Leben erlogen war.

Unser Freund hat also Erfahrung mit Menschen, die aus der vermeintlich harmonischen Banalität ihres Alltags heraus ganz plötzlich etwas sehr Unerwartetes und Düsteres tun. Nur dachte er bei dem Haus gar nicht an „seinen“ Mörder, sondern an einen, über den gerade ganz Frankreich spricht: Xavier Dupont de Ligonnès.

Einzementierte Leichen

In Deutschland erinnert man sich wahrscheinlich nicht an diese Geschichte, die das Land ähnlich wie die des „kleinen Grégory“ in Atem hielt und in diesem Sommer wieder hält: Dupont de Ligonnès war ein ganz normaler Bürger, ein freundlicher Nachbar, ein fürsorglicher Ehemann und Vater. Zumindest sah es immer so aus. Bis man 2011 unter der Terrasse des Familienhauses die einzementierten Leichen seiner Frau und seiner vier zwischen dreizehn und zwanzig Jahre alten Kinder fand und ihn nie wieder sah.

Jetzt entwickelte sich neun Jahre nach der Tat so etwas wie eine „XDDL“-Hysterie. Seitdem die lesenswerte Zeitschrift ­Society den ersten Teil ihrer Recherche über den Fall veröffentlicht hat, trifft man kaum noch jemanden, der einen nicht fragt: „Hast du schon Dupont de Ligonnès gelesen? Das ist doch wie Truman Capote! Wie ‚Kaltblütig!‘.“ Oder aber einem ganz uncoronamäßig auf die Pelle rückt und aufgeregt fragt: „Hast du das Heft? Kannst du es mir geben?“

Denn, so unwahrscheinlich es mitten in der Pressekrise auch ist: Das Heft ist quasi unauffindbar. In den sozialen Netzwerken drehen die Leute regelrecht durch. Wer an einem ­Kiosk gleich mehrere Exemplare findet, fühlt sich, „als hätte er im Lotto gewonnen“, man sendet Tipps raus, wo man es noch bekommt, wenn einer es im Zug liest, liest der Nachbar gleich mit und schreibt auf Twitter „Blätter doch nicht so schnell um!“.

Es ist, wenn man so will, das Buch des Sommers. Und das, obwohl man in dieser tatsächlich grandios geschriebenen, fast 100 Seiten langen Recherche eigentlich nichts Neues erfährt.

Woher die Faszination?

Wir haben uns in diesem komischen Haus in der Bretagne sitzend gefragt, was das über uns alle aussagt, dass einer, der eines Tages beschließt, sein von Konventionen und Bildern bestimmtes Leben und alles was damit zu tun hat, zu zerstören, uns so fasziniert.

Ob es überhaupt etwas aussagt. Wir kamen zu keinem Schluss. Außer vielleicht dem, dass es möglicherweise in mancher Hinsicht nicht so schlecht ist, dass dieser Sommer alle ein bisschen aus ihrem Trott und der sogenannten, von einigen so heiß zurückersehnten „Normalität“ reißt.

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