Alltag in Coronazeiten: Wut ist der Eiter der Seele

Wozu taugen die Corona-Denunziationen und die Maskenmuffelgeschichten? Eigentlich sind wir doch erwachsen. Fest steht aber: Der Eiter muss raus.

Schaufensterpuppe mit Corona-Maske

Einfach wegsetzen, wenn jemand das Teil nicht trägt? Oder diskutieren? Foto: dpa

Mir träumte, ich säße in einem Auto. Auf der Rückbank. Das Auto fährt. Ich bin nicht angeschnallt. Ich bin allein im Auto. Ich habe keinen Führerschein. Ja, gut, dann sterbe ich eben, denke ich. Das passiert mir in Träumen häufig, und bis jetzt bin ich immer wieder aufgewacht. Sterben fühlt sich an wie Fahrstuhlfahren: Es kribbelt, und mir wird ein wenig schwindelig. Aber nicht schlimm. Ich weiß, der Tod ist das Ende des Albtraums.

Da plötzlich entdecke ich im Fußbereich des Wagens ein Baby. Einen Säugling. Es ist nicht mein Baby, sondern das der hochschwangeren Mutter einer Kita­freun­din meines Sohnes. Sie erwartet Zwillinge. Das ändert alles. Ich kann nicht mehr sterben, ich muss mich um das Baby kümmern. Ich muss versuchen, das Auto anzuhalten. Vor mir kreuzt eine viel befahrene Fernstraße den Weg.

„Bei Krankheit blüht die Neurose“, hat mein Onkologe immer gesagt. Derzeit sind wir alle krank. Krank vor Angst und Sorge. Vor der Krankheit, den Folgen, vor der Pleite, Arbeitslosigkeit, Kontrollverlust. Die kollektive Psychose hat uns im Griff.

Meine Psychotherapeutin erzählt, ihre Praxis sei gerade voll mit Zwanzigjährigen. Ich kann das so gut verstehen. Ich war in meinen Zwanzigern auch permanent überfordert. Im Studium, im Job, ohne Plan oder Platz in der Welt. Verloren.

Struktur durch Partys

Meine Woche war strukturiert durch Seminare, Job und Partymachen. Das waren meine drei Standbeine. Schon wenn in der vorlesungsfreien Zeit die Seminare wegfielen, geriet mein Alltag gefährlich ins Wanken. Ich war dann nicht mehr stabil. Teilweise brachte ich den Müll nicht mehr runter. Ich habe keine Ahnung, wie tief ich gefallen wäre, wären plötzlich alle Stützen auf einmal weggebrochen, wie es den jungen Leuten jetzt geht.

Abgelöst einzig durch eine unspezifische permanente Bedrohung, die sich wie ein tiefes Brummen im Hintergrund auf alle Aspekte unseres Lebens gelegt hat. Vielleicht würde ich auch trotz Corona Party machen. Nur um für ein paar Stunden das Brummen zu übertönen. Meine Macke ist die Schuld. Ich fühle mich permanent schuldig, verantwortlich, will allen helfen und habe doch keine Kraft, was mich noch schuldiger macht. Weil ich schwach bin.

Jede Entscheidung, die ich treffe, bringt jemanden in Gefahr. Bringe ich mein Kind in die Kita, nehme ich ein erhöhtes Infektionsrisiko in Kauf, behalte ich es zu Hause, sind wir beide unglücklich und ich kann kein Geld verdienen, was unsere Existenz ebenfalls gefährdet.

No more Muffelstorys

Mich machen die Denunziationen so traurig. Ich will keine Fotos von Menschenansammlungen mehr sehen und keine Maskenmuffelgeschichten mehr hören. Wir sind alle erwachsen. Wenn der junge Mann in der U-Bahn meint, es sei für ihn unvertretbar, eine Maske zu tragen, dann wird er sich das gut überlegt haben. Er riskiert schließlich eine Menge. Ich werde jedenfalls einen Teufel tun, indem ich anfange, mit ihm zu diskutieren. Ich setze mich einfach weg.

Wenn meine Familie es vorzieht, meiner Geburtstagsfeier fernzubleiben, weil mein Sohn sich in der Kita mit Schnupfen angesteckt hat, dann akzeptiere ich das. Ich lasse mir aber nicht vorschreiben, einen Coronatest zu machen, es sei denn, ich werde gesetzlich dazu verpflichtet. Ich vertraue nämlich der Demokratie, der Wissenschaft und den „Mainstreammedien“ (für die ich ja arbeite).

Ein Bekannter wollte mir gestern was über Tönnies erzählen. „Ditt beruht doch allet auf falschen Testergebnissen“, fing er an. „Die haben die alle noch mal getestet, und denn waren die alle negativ.“ Ich wage einen Versuch: „Und du glaubst, dass die wegen falscher Testergebnisse eine ganze Region lahmlegen?“, frage ich. –„Ja klar“, ruft er. Ich nicke. „Okay“, sage ich. „Komm, wir lassen das. Ich glaube an Corona und ich will es nicht haben.“ Er nickt auch und sagt: „Wie du meinst.“ Und damit ist gut.

„Ubi pus, ibi evacua“, sagt der Lateiner: Eiter muss raus. Wut ist der Eiter der Seele, denke ich, und manchmal kommt es mir so vor, als würde ich ständig durch knöcheltiefe Sturzbäche von Wuteiter waten. Nur was ist die Alternative? Schuldkomplexe, Depression, Ignoranz? Gelassenheit wäre schön. Zuversicht. Und die Hoffnung, dass in diesem Fall nicht erst der Tod das Ende des Albtraums markiert.

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Schriftstellerin, zuletzt "Hätt' ich ein Kind" bei Ullstein, Kolumnen montags bei Radio Eins.

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