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Auch die Wüste ist tödlich

In den vergangenen zwei Jahren sind laut UNHCR mindestens 1.750 afrikanische Migrant*innen auf dem Weg nach Europa umgekommen, bevor sie überhaupt das Mittelmeer erreichten. Verantwortlich: Schmuggler – und staatliche Sicherheitskräfte

Eine der Migrationsrouten nach Norden führt über Agadez durch die Sahara nach Libyen Foto: Joe Penney/reuters

Von Christian Jakob
und Simone Schlindwein

Willkürliche Tötungen. Folter, Zwangsarbeit und Schläge. Verbrennung mit heißem Öl, geschmolzenem Plastik oder erhitzten Metallgegenständen. Stromschläge und „Fesselung in quälenden Positio­nen“. Was das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die Forschungsstelle Mixed Migra­tion Center (MMC) des Dänischen Flüchtlingsrats in ihrem neuen Bericht „On this journey, no one cares if you live or die“ („Auf dieser Reise kümmert es niemand, ob du lebst oder stirbst“) über die Schicksale afri­kanischer Flüchtlinge und MigrantInnen auf dem Weg in Richtung Mittelmeerküste dokumentiert haben, zeugt von „unaussprechlicher Brutalität und Unmenschlichkeit“ auf „einer der tödlichsten Routen der Welt für Flüchtlinge und ­Migranten“.

„Zu lange sind die grauenhaften Misshandlungen, die Flüchtlinge und Migranten auf der Landroute erfahren haben, weitgehend unsichtbar geblieben“, sagte UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi bei der Veröffentlichung des Berichts anlässlich des Welttags gegen Menschenhandel. Der Bericht dokumentiere „Tötungen und umfassende Gewalt der brutalsten Art gegen verzweifelte Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Verfolgung geflohen sind“.

Die Taten „spielen sich im Verborgenen ab, unter dem Radar der Behörden und der offiziellen Statistik“, heißt es. Anhand von Zählungen und Erhebungen entlang wichtiger Migrationsrouten (s. Interview unten) wird geschätzt, dass in den Jahren 2018 und 2019 mindestens 1.750 Menschen auf den Migrationsrouten aus West- und Ostafrika nach Libyen ums Leben gekommen sind – durchschnittlich gab es monatlich 72 Tote, so UNHCR-Mittelmeerbeauftragter Vincent Cochetel bei einer Videopräsentation vor Journalisten. Und das seien nur die Fälle, die durch mindestens zwei Quellen belegt sind. „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“

In Westafrika berichteten 57 Prozent der Befragten, körperliche Gewalt erfahren zu haben, in Nordafrika ware es etwa jeder Dritte. In knapp der Hälfte dieser Fälle ging die Gewalt von staatlichen ­Sicherheitskräften aus. „Die sollten eigentlich Schutz bieten“, mahnt ­Coche­tel. „Das heißt: Man kann etwas tun. Es liegt in der Verantwortung der Staaten.“ Die Zustände seien nicht länger hinnehmbar. „Wir haben es satt, einen Bericht nachdem anderen zu schreiben.“

Mit diesem Bericht gibt es erstmals eine genauere Datenlage, die auf Interviews mit den Betroffenen beruht und die – so hoffen die Autoren – eine Grundlage für bessere Politik und auch für die juristische Ahndung von Verbrechen bietet. Die wichtigsten Erkenntnisse fasst Ayla Bonfiglio vom MMC so zusammen: Männer sind mehr Gefahren ausgesetzt als Frauen, Jüngere mehr als Ältere, wobei Frauen und Mädchen häufiger als Männer sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung erleiden. Viele Menschen berichteten, dass sie zur Pro­sti­tu­tion gezwungen oder Opfer anderen Formen sexueller Ausbeutung durch Menschenhändler worden seien.

Anders als in Westafrika seien in Nord- und Ostafrika vor allem Schleuser und Schmuggler Täter. Entlang der westafri­kanischen Route war rund jeder dritte Todesfall auf eine medizinisch nicht behandelte Erkrankung zurückzuführen, etwa 31 Prozent auf Verkehrsunfälle und rund 27 Prozent auf Verbrechen. In Nordafrika hingegen war mehr als die Hälfte der Todesfälle durch Krankheit ohne Zugang zu medizinischer Versorgung, Dehydrierung und Hunger verursacht, ähnlich in Ostafrika.

Knapp ein Drittel der Todesfälle ereignete sich bei Unterbrechungen während der Durchquerung der Sahara, etwa in den Oasen Sabha, Kufra und al-Qatrun im Süden Libyens, im Schmugg­lerzentrum Bani Walid südöstlich von Tripolis oder in wichtigen Transitstädten wie Bamako in Mali und Agadez in Niger. Erst im Mai 2019 ermordeten Schlepper nahe der libyschen Stadt Mizda rund 30 entführte MigrantInnen. Dabei soll es sich um einen Racheakt gehandelt haben.

Während die UN ihren Bericht vorlegten, erschoss die libysche Polizei drei Sudanesen

Diese Entwicklung hat sich abgezeichnet. Schon 2016 schätzte die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass möglicherweise ähnlich viele Menschen in der Wüste umkommen wie im Mittelmeer. Damals hatte die Regierung von Niger die legale Route durch die Wüste von der Stadt Agadez in Niger nach Sabha in Libyen unterbrochen.

Die EU hat die Entwicklungshilfe für Niger danach stark aufgestockt. Wer Niger in Richtung Libyen durchqueren will, kann dies nicht länger in bewachten, legalen Konvois tun. Stattdessen bieten Schlepper eine hochriskante Passage, weitab von Straßen, Siedlungen, Wasserstellen und Kontrollposten an.

EU-Missionen bilden auch Sicherheitskräfte in Niger und Mali aus, und nun steht die Frage im Raum, ob darunter auch ­Täter von Übergriffen sind. „Wir werden uns an die EU richten, um sicherzustellen, dass die von der EU Ausgebildeten nicht in Menschenrechtsverletzungen involviert sind“, kündigt ­Cochetel vom UNHCR gegenüber der taz an. Man habe jetzt eine genauere Ahnung davon, wo und wie Übergriffe stattfinden.

Just am Dienstag, kurz bevor die UN ihren Bericht vorlegten, erschoss die libysche Polizei vor den Augen von UN-MitarbeiterInnen drei Sudanesen und verletzte zwei weitere. Die Männer waren mit 70 anderen Flüchtlingen und MigrantInnen auf einem Boot in Richtung Europa unterwegs, als die libysche Küstenwache sie aufgriff. Die Menschen wurden in die Hafenstadt al-Chums gebracht. Mitarbeiter von IOM berichteten, dass die örtlichen Behörden zu schießen begannen, als die MigrantInnen versuchten, von der Landungsstelle zu fliehen.

„Das Leiden der Migranten in Libyen ist nicht hinnehmbar“, sagt der IOM-Missionschef in Libyen, Federico Soda. „Die Anwendung exzessiver Gewalt führt erneut zu sinnlosen Verlusten von Menschenleben.“ In Libyen gebe es für die Menschen keinerlei Schutz und es werde nichts unternommen, um dies zu ändern.

„Die Staaten müssen Verantwortung übernehmen, um die Leute zu schützen“, mahnte am Mittwoch im Videobriefing auch die AU-Sonderberichterstatterin für Migration, Maya Sahli-Fadel. Für Cochetel vom UNHCR muss die EU den Überlebenden, die europäischen Boden erreichen, Zugang zur Justiz ermöglichen, „um gegen Menschenhandel vorzugehen“. Der UN-Mitarbeiter kritisiert: „Seit zwei Jahren ist kein neuer Name von Menschenhändlern auf Sanktionslisten gesetzt worden, und kein einziger mit Sanktionen belegter Schmuggler wurde festgenommen.“

Die Migrationsexperten betonen, dass ihre neuen Erkenntnisse nur einen Bruchteil der Realität auf den afrikanischen Migrationsrouten abbilden. Die meiste Zeit, führt Meera Sethi von der IOM aus, hätten Mi­granten kaum Zugang zu Kommunikationsmitteln. Wenn sie irgendwo verschwinden, bleibe es oft unbemerkt; die Todesursache hinterher festzustellen, sei schwierig. „Wir glauben, dass die Zahl der Toten viel größer ist. Viele Tote werden begraben, ohne dass sie identifiziert und registriert wurden.“

Die in dem Bericht zusammengefassten Recherchen fanden vor der Corona-­Pandemie statt, aber im April und Mai wurden zusätzlich 1.200 Migranten interviewt, um die Auswirkungen der Pandemie festzustellen, berichtet Bonifiglio vom MMC und fasst zusammen: Die Abhängigkeit von Schmugglern sei jetzt höher, weil Grenzschließungen die Migration erschweren. Flüchtlinge würden zunehmend als Virenträger angesehen und diskriminiert.

Fazit: Die Reisen werden teurer, die Routen gefährlicher, die Angst nimmt zu. Bonifiglios Kollege Bram Frouws warnt: „Dies wird nicht der letzte derartige Bericht sein.“