Kampagne gegen Klischees über Hartz-IV: Arbeiten wollen fast alle

Subtilere Ressentiments, aber immer noch spürbar: Hartz-IV-Beziehende müssen weiterhin gegen Vorurteile kämpfen. Das zeigt eine Studie.

eine Menschenmenge, eine Frau trägt ein Transparent mit der Aufschrift"Menschen würden arbeiten"

Lange her: Eine Montagsdemonstration gegen die Hartz-IV-Reformen in Leipzig am 30.08.2004 Foto: Seeliger/imago

„Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“, so gab Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schon 2001 die Marschrichtung seiner Politik vor. Erwerbslose wurden im Diskurs in den Nuller Jahren zumeist pauschal als arbeitsunwillig, faul und verlottert herabgewürdigt. 2006 ließ sich Kurt Beck, ebenfalls Sozialdemokrat, gar dazu hinreißen, einem Hartz IV-Bezieher zu sagen: „Waschen und rasieren, dann kriegen Sie auch einen Job“.

Doch wie sieht es heute, knapp 20 Jahre nach Beginn der letzten großen Faulheitsdebatte aus? Eine neue, repräsentative Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und der NGO Sanktionsfrei zeigt: Erwerbslose sind noch immer Ziel vieler negativer Zuschreibungen. In der Studie stimmen immerhin 65 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Jeder der arbeiten möchte, findet einen Job.“ Knapp die Hälfte findet, dass Hartz-4-Beziehende zu wählerisch seien, was die Jobsuche angeht. Und der stark pauschalisierenden und abwertenden Aussage „Hartz-4-Empfänger*innen wollen gar nicht arbeiten gehen“, stimmt immerhin ein knappes Drittel zu. Betrachtet wurden dabei jeweils „stimme voll und ganz“ als auch „stimme eher zu“-Antworten zusammen.

Das Problem: „Dem gegenüber stehen die empirischen und statistischen Fakten“, sagen Sanktionsfrei und der Paritätische in einer gemeinsamen Stellungnahme. Von den Erwerbslosen sei nur rund ein Viertel tatsächlich arbeitslos, „während der Großteil erwerbstätig, in Ausbildung oder Qualifizierungsmaßnahmen oder mit der Pflege oder Erziehung von Angehörigen beschäftigt ist“, schreiben sie.

In Zahlen ausgedrückt: Von den rund 3,7 Millionen Hartz-IV-Beziehenden im Dezember 2019 in der Grundsicherung waren fast eine Million Personen Aufstocker*innen. Kaum verwunderlich, weil der Mindestlohn so niedrig ist, dass er gerade so für einen Alleinstehenden in Vollzeit reicht, eine Person über die Armutsschwelle zu bringen. Und: Während die Zahl der arbeitslosen Leistungsbeziehenden seit 2007 bis Dezember 2019 um 2,2 Millionen sank, blieb die Zahl der Aufstocker*innen nahezu konstant. Lag 2007 die Zahl der Aufstocker*innen bei rund 1,1 Millionen Menschen, waren es im Ende 2019 noch immer 0,9 Millionen.

Der Ton hat sich verändert

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, beobachtet heute vor allem eine Tonveränderung in der Debatte um Grundsicherungsbeziehende: „Die Ressentiments sind subtiler geworden.“ Heute spreche man beispielsweise gerne von den Leuten, die ‚hart arbeiten und früh aufstehen‘, sagt Schneider gegenüber der taz. „Aber das ganze ist nur ein etwas besser verpackter Angriff auf die Menschen, die das eben nicht tun, weil sie ihren Job verloren haben, oder auf die Hilfe des Staats angewiesen sind.“

„Die Klischees werden nach wie vor genutzt, um Erwerbslosen oder anderen Hilfsbedürftigen den ihnen eigentlich zur Deckung der Lebenskosten zustehenden Regelsatz aufs Minimale zurecht zu stutzen“, kritisiert Schneider. Denn wenn man sich nur bemüht, dann würde man ja einen Job finden, glauben einige offenbar, sagt Schneider. Da könne man den Regelsatz noch so niedrig ansetzen, als drohendes Damoklesschwert.

Doch genau aus diesem Grund haben der Paritätische und Sanktionsfrei noch einen weiteren Mythos thematisiert: Den, dass Erwerbslose keine Arbeit suchen wollten. Es gibt allerdings eine Reihe von Studien, die genau das Gegenteil zeigen. Sanktionsfrei und der Paritätische verweisen beispielsweise auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB). Das Institut, als Tochter der Bundesagentur für Arbeit ziemlich unverdächtig, Parteinahme für Erwerbslose zu betreiben, kam 2017 zum Schluss, dass fast alle Erwerbslose arbeiten wollen – und dafür sogar besonders häufig auch eine Stelle unterhalb des eigenen Qualifikationsniveaus oder zu schlechtere Arbeitszeiten annehmen würden.

Für eine Handvoll Euro

Bei der anstehenden Regelsatz-Neuberechnung in diesem Spätsommer pochen die beiden Verbände darauf, dass sich die Politiker*innen der Großen Koalition nicht weiter von Klischeevorstellungen leiten lassen sollen. Die Große Koalition solle eine „bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze“ vornehmen, zudem müssten die Sanktionen vollständig fallen, fordern die Verbände. Konkret beziffert der Paritätische schon für 2020 die Mehrbedarfe beim Regelsatz auf 160 Euro. Der liegt derzeit bei 424 Euro.

Allerdings: Die Chancen dafür stehen schlecht. In der vergangenen Woche berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland von einem Gesetzentwurf, wonach die Regelsätze im Zuge der Neuermittlung um gerade einmal sieben Euro steigen sollen.

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