Zipi Livni über Israels Annexionspläne: „Ein schwerer Schlag“

Israels frühere Außenministerin lehnt die bevorstehende Annexion im Westjordanland ab. Sie gehe viel zu weit und gefährde den Frieden in der Region.

Drohnenaufnahme: eine Schafsherde und Dattelpalmen aus der Luft

Ein palästinensischer Schäfer führt seine Herde entlang einer jüdischen Siedlung im Jordantal Foto: Oded Balilty/ap

taz: Frau Livni, Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat für den 1. Juli den Beginn der Annexion im besetzten Westjordanland angekündigt. Bislang passiert nichts. Haben Sie eine Idee, worauf er wartet?

Zipi Livni: Hoffen wir, dass es gar nicht erst dazu kommen wird. Ich vermute, dass die Regierung auf eine Positionierung der USA wartet. Meiner Meinung nach sollte die Entscheidung für oder wider eine Annexion eine israelische sein. Eine Annexion steht im Widerspruch zu den israelischen Interessen, sie beeinträchtigt die Möglichkeiten, zu einer Einigung mit den Palästinensern und überhaupt mit der arabischen Welt in der Region zu kommen. Und sie könnte zu einer Situation führen, in der wir anstelle von zwei Nationalstaaten, in dem jeder Staat für sein Volk zuständig ist, mit nur einem Staat zwischen Mittelmeer und Jordan zurechtkommen müssen, in dem der Konflikt andauert.

Würde eine Annexion die Zweistaatenlösung endgültig vom Tisch räumen?

Es wäre nahezu unmöglich, diese Lösung dann noch umzusetzen. Die Annexion, wie sie in Trumps Plan umrissen wird, umfasst rund 30 Prozent von dem Gebiet des Westjordan­lands. Ich habe zwei Mal, erst als Außen-, später als Justizministerin Israels, Verhandlungen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) geführt. Es war immer klar, dass es Grenz­anpassungen ­geben muss, denen auch die Palästinenser zustimmen würden. Aber 30 Prozent – da geht es nicht nur um israelische Siedlungen, sondern wir würden palästinensische Städte wie in Blasen mitten in israelischem Gebiet zurücklassen. Damit wäre es praktisch unmöglich, einen wie auch immer gearteten lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen. Die Annexion von diesem Umfang stand nie zur Diskussion. Sie würde auch mit Blick auf die innerisraelische Situation eine Lösung erschweren, denn bevor ein Gebiet dieser Größenordnung wieder aufgegeben werden könnte, müsste es einen Volksentscheid geben. Letztendlich ist der Plan, in den annektierten Gebieten weitere Siedlungen zu bauen. Ohne Zweifel wäre eine Annexion ein schwerer Schlag für die Perspektiven, jemals eine Friedenslösung zu erreichen.

Welche weiteren negativen Konsequenzen könnte die Annexion haben?

Es könnte unmittelbar neue Gewalt geben, sie könnte Auswirkungen auf den Friedensvertrag mit Jordanien haben, die Chancen, mit weiteren arabischen Staaten in der Region eine Normalisierung der Beziehungen zu erreichen, beeinflussen wie auch die Beziehungen zwischen Israel und der freien Welt. Selbst wenn die Welt zu allem Ja sagen würde, dann bedeutete eine Annexion, dass eine Trennung von den Palästinensern im Grunde nicht mehr möglich ist. Wir bewegen uns auf nur einen Staat zu. Der Schaden, den das auf die Identität Israels als jüdischer und demokratischer Staat hat, ist unerträglich. Um die Vision eines jüdischen Staates, in dem vollständige Gleichberechtigung für alle Bürger herrscht, wäre es damit geschehen. Die einzige Lösung kann nur ein Staat für jedes Volk sein. Eine gerechte Lösung für die Palästinenser und für die Juden. Ich will meine Kinder und Enkel nicht vor die Wahl stellen, jüdisch oder demokratisch zu sein.

Wenn man einmal umgekehrt auf die Annexion blickt – wie kam es überhaupt zu dieser Idee? Welcher Vorteil ergibt sich für den Staat Israel daraus, Teile des Westjordanlands zu annektieren?

Wer meine politische Meinung teilt, dass Israel sowohl jüdisch als auch demokratisch sein sollte, kann einer Annexion nur ablehnend gegenüberstehen. Aber es gibt eine andere Gruppe, deren GPS anders funktioniert. Was sie antreibt, ist Großisrael, das ungeteilte biblische Erez Israel. Sie sagen: Weil das jüdische Volk ein Recht auf das gesamte Land zwischen Mittelmeer und Jordan hat, setzen wir das mittels Annexion um. Der Streit geht nicht darum, wer das Recht auf das Land hat, sondern darum, wie die beiden Völker friedlich voneinander getrennt werden können. Ich bin für den Staat Israel in Erez Israel, aber nur auf einem Teil davon. Hier arbeiten zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen. Man könnte sagen: unterschiedliche Wertesysteme.

Zipi Livni wurde 1958 in Tel Aviv geboren. Von 2008 bis 2012 war sie Vorsitzende der Kadima-Partei, von 2006 bis 2009 Außen­ministerin Israels, später auch Justizministerin.

Immer mehr Israelis und auch Palästinenser, die durchaus an einer Friedenslösung interessiert sind, glauben heute schon nicht mehr an Frieden, ob mit oder ohne Annexion. Ist die Zweistaatenlösung noch zu retten?

Mir ist klar, dass auf beiden Seiten kaum noch das Vertrauen besteht, dass ein Frieden überhaupt noch möglich sei. Ich sage auch nicht, dass der Frieden hinter der nächsten Straßenecke auf uns wartet, aber ich bin überzeugt davon, dass wir es uns nicht erlauben können aufzugeben. Auch wenn die Chancen nicht gut stehen, müssen wir die Tür offenhalten, und was die Annexion macht, ist, die Tür zuzuknallen. Israel steht in der Pflicht, die Tür offenzuhalten – keine Annexion, kein Bau von Siedlungen. Wir sollten an der Hoffnung festhalten, dass es einen Frieden geben wird.

Bei den letzten Verhandlungen 2013 hatte man den Eindruck, dass Sie und der palästinensische Unterhändler Saeb Erekat unbedingt eine Einigung erreichen wollten. Wie dicht waren Sie damals schon dran?

Es gibt einige Probleme, wo wir ein ganzes Stück vorangekommen sind, andere nicht.

Wo war es besonders schwierig?

Es gibt Themen, bei denen beide Seiten empfindlich sind, wie die heiligen Stätten in Jerusalem, das, was die Palästinenser als das Rückkehrrecht bezeichnen und das natürlich nicht mit dem Prinzip der zwei Staaten zu vereinbaren ist. Ich glaube, dass wir trotz alledem seit Unterzeichnung der Osloer Prinzipienerklärung 1993 große Fortschritte gemacht haben. Wenn Sie heute die beiden Konfliktparteien fragen, wie ein Friedensvertrag aussehen solle, dann kämen wir auf ein sehr ähnliches Ergebnis, angefangen mit den Clinton-Parametern, über die Kerry-Obama-Vorschläge. Deshalb ist es so tragisch, dass wir, nach all diesen Jahren der Fortschritte, heute feststecken. Der Friedensplan von Trump wirft uns zurück. Die Palästinenser wollen gar nicht mehr verhandeln, und auch in Israel wächst die Auffassung, dass es eine für uns angenehmere Lösung gibt als die der zwei Staaten.

Was sagen Sie Leuten, die meinen, dass Verhandlungen ohnehin zu nichts führen, solange die Palästinenser untereinander zerstritten sind – die Hamas in Gaza, die Fatah im Westjordanland?

Die Teilung betrifft nicht nur die Palästinenser, sondern sie zieht sich durch die gesamte arabische Welt. Die eine Gruppe von Staaten und Organisationen sagt: Okay, wir haben einen Konflikt mit dem Staat Israel, aber wir versuchen zu einer Lösung zu kommen, zwei Staaten – Israel und Palästina – und anschließend zur Normalisierung der Beziehungen. Und es gibt die Gruppe derer, die sich in einem religiösen Kampf gegen Israel befinden. Religiöse Konflikte sind nicht lösbar. Die Hamas ist eine Terrororganisation, so definiert sie auch die EU. Deshalb unterscheide ich zwischen der palästinensischen Führung im Westjordanland, mit der wir einen Konflikt haben, die aber wie wir die Zweistaatenlösung anstrebt, und der Hamas, die nicht bereit ist, einem Ende des Konflikts zuzustimmen. Die PLO hat das Mandat, Verhandlungen mit Israel zu führen. Wir können nicht auf die palästinensische Einheit warten, die möglicherweise radikaler ist als die heutige palästinensische Führung. Die Zeit arbeitet gegen die, die sich die Zweistaatenlösung wünschen.

Sie kommen aus einem sehr rechten Elternhaus. Können Sie sich an ein Schlüsselerlebnis zurückerinnern, wo Sie angefangen haben, die Richtung zu verändern und sich mehr in die Mitte oder nach links zu orientieren?

Meine Eltern haben an das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat geglaubt. Und an volle Gleichberechtigung für alle Bürger auch der arabischen Minderheit. Im Grunde verfolge ich dasselbe, wenn ich für ein demokratisches Israel mit Gleichberechtigung aller seiner Bürger kämpfe. Es darf nicht sein, dass Israel die Souveränität über das gesamte Land hat und Palästinenser nicht das Recht, an Wahlen teilzunehmen. Und in dem Moment, wo die Palästinenser wählen, ist Israel nicht mehr derselbe Staat – kein jüdischer Staat, sondern ein Staat zweier Nationen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Warum ist es so schwer, die Israelis von diesen Werten zu überzeugen?

Der Frieden scheint weg zu sein im Augenblick, es gibt Terror, und wie überall in der Welt ist die politische Debatte populistisch, aber wenn eine Führung zu einer Einigung mit den Palästinensern gerät, dann wird die Mehrheit dem zustimmen. Der Frieden war in den letzten drei Wahlkämpfen kein Thema. Wir brauchen eine Führung, die um diese Werte kämpft. Wir müssen um Liberalismus und Demokratie kämpfen, eine Identität schaffen, die sich aus diesen Werten zusammensetzt, ein neues Selbstwertgefühl. Aktuell haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass ein nationaler Staat augenscheinlich nicht mit der Globalisierung kompatibel ist. Und das betrifft keineswegs nur Israel.

Ist die Demokratie in Gefahr?

In den letzten Jahren beobachten wir besorgniserregende Entwicklungen, darunter Angriffe gegen die Gerichte, gegen die Medien und grundsätzlich die Rechtsstaatlichkeit. Was mir ernsthafte Sorgen bereitet, ist, dass die Annexion innerhalb von nur drei Jahren zu einem Beinahe-Konsens geworden ist und dass die politische Debatte so populistisch ist.

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