Der Auftrag, Angst zu säen

Verurteilung des Regisseurs Kirill Serebrennikovs in Moskau

Serebrennikow in einer Gerichtspause Foto: Maxim Shemetov/reuters

Von Katja Kollmann

Ich wurde in einer Zeit geboren, in der man in unserem Land Künstler wie den großen Thea­termacher Wsewolod Meyerhold zum Tode verurteilte“, berichtet Lija Achedschakowa, 81, in ihrem Solidaritätsvideo für den Intendanten des Moskauer Gogol-Centers Kirill Sere­brennikow. Sie ist nicht die Einzige, die im Gerichtsverfahren gegen Serebrennikow Pa­rallelen zu den Schauprozessen der Stalin-Zeit entdeckt. Die berühmte Schauspielerin fragt: „Was geht im Justizapparat vor?“

Seit drei Jahren wird dem Regisseur und drei weiteren an dem interdisziplinären Kunstprojekt „Platforma“ Beteiligten der Prozess gemacht. Von 2011 bis 2014 wurden für „Platforma“ 216 Millionen Rubel (2,7 Mio. Euro) staatlicher Fördergelder bewilligt. Den vier Angeklagten wird nun die Veruntreuung von 129 Millionen Rubel (1,6 Mio. Euro) vorgeworfen: Sofja Apfelbaum war in diesem Zeitraum als Mitarbeiterin des Kulturministeriums zuständig für die Vertragsmodalitäten mit der gemeinnützigen Organisation „Siebtes Studio“, die „Platforma“ organisierte. Alexej Malobrodski und Juri Itin hatten Leitungspositionen im „Siebten Studio“. Serebrennikow fungierte als künstlerischer Leiter von „Platforma“.

Serebrennikow stand seit dem 23. 8. 2017 immer wieder unter Hausarrest, hat von dort aus aber weiter in Inszenierungen gearbeitet. Die Gerichtsverhandlungen begannen im Oktober 2018 am Meschanski-Amtsgericht in Moskau. Das Gericht fand heraus, dass in den drei Jahren der Existenz von „Platforma“ 340 Veranstaltungen stattgefunden haben. Es wurde auch bewiesen, dass die Buchhaltung schlampig geführt wurde und Künstlergagen oft bar ausgezahlt wurden. Im Zuge des Prozesses forderte das Gericht dreimal Expertenmeinungen an: Die erste untermauerte die Anklage. Nachdem ihre Richtigkeit von den Verteidigern angezweifelt wurde, forderte das Gericht eine zweite Expertise. Nun weitete sich der Prozess aus, es ging nicht mehr allein um Unterschlagung von Steuergeldern, sondern um den künstlerischen Wert des Projekts an sich. Im Herbst 2019 bezeugten zwei renommierte Fachleute „Platforma“ und seinem künstlerischen Leiter eine ausgezeichnete Arbeit. Im Januar 2020 wurde diese Expertise vom Gericht verworfen. Sie wird nicht einmal in den Akten des „Theatergalls“ (so wird der Prozess in der Öffentlichkeit genannt) vermerkt. Die Richterin forderte nun eine dritte Expertenmeinung an und benannte die „Experten“ selbst. Anfang Juni 2020 lag dem Gericht ein Dossier vor, das „Platforma“ künstlerische Beliebigkeit und aus diesem Grund Veruntreuung von Subventionen vorwirft.

Im Laufe des Prozesses sind besonders vonseiten der Anklage, dem Kulturministerium der Russischen Föderation, viele Zeugen vernommen worden. Nicht wenige von ihnen berichteten vor Gericht über massive Einschüchterungen während ihrer Zeugenaussage im Vorfeld der Gerichtsverhandlung. Oft geben die dortigen Protokolle ihre Aussagen nicht wahrheitsgetreu wieder.

Das richte sich gegen das ganze kulturelle Leben Russlands

Am 22. Juni forderte der Staatsanwalt für Kirill Serebrennikow 6 Jahre Haft, Geldstrafe: 800.000 Rubel (ca. 10.000 Euro) und drei Jahre Berufsverbot. Der Schauspieler Benjamin Smechow kommentiert: „Der Auftrag, Angst zu säen unter den Kulturschaffenden, wird ausgeführt.“ Am selben Tag unterschrieben über 3.000 russische Theaterschaffende einen offenen Brief, der für alle vier Angeklagten den Freispruch fordert. Hier wird einem Künstler wegen seiner Kunst der Prozess gemacht, sind sich die UnterzeichnerInnen einig und auch die, die am letzten Gerichtstag vor dem Haus protestierten.

Die Härte der beantragten Strafe löste Entsetzen aus, auch international. Das richte sich gegen das ganze kulturelle Leben Russlands, bringt es der Regisseur Lew Dodin auf den Punkt. Am Freitag hat das Gericht Kirill Serebrennikow schuldig gesprochen und als Kopf einer „kriminellen Vereinigung“ bezeichnet. Das Strafmaß wurde einige Stunden später verkündet, 3 Jahre auf Bewährung.