Corona in Brasilien: Fast ein Toter pro Minute

Brasilien ist weltweiter Corona-Hotspot. Dennoch treten erste Lockerungen in Kraft. Das löst Proteste aus – von Gegnern, aber auch von Befürwortern.

Ein Mann im Schutzanzug hebt am Strand Gräber aus

Stiller Protest: Ein Aktivistin der NGO „Rio de Paz“ bei einer Protestaktion an der Copacabana Foto: Leo Correa/ap

SãO PAULO taz | Es ist ein stiller Protest, der Donnerstagmorgen am weltbekannten Copacabana-Strand von Rio de Janeiro stattfindet: Mitarbeiter*innen der NGO Rio de Paz heben einhundert symbolische Gräber aus und hämmern Kreuze in den Sand. Auf einem Schild steht: „Brasil, país das covas“ (Brasilien, das Land der Gräber“). Die NGO will mit der Aktion der tausenden Toten durch Covid-19 gedenken. Gleichzeitig will sie aber auch gegen den Corona-Kurs der Regierung protestieren.

Während am Copacabana-Strand ein symbolisches Begräbnis stattfindet, heben an vielen anderen Orten Brasiliens Bagger tatsächlich Massengräber aus. Brasilien ist derzeit der weltweite Corona-Hotspot: Das Land hat bereits die zweitmeisten Infizierten, mehr als 40.000 Tote durch Covid-19 und in den vergangenen Tagen so viele neue Tote zu beklagen wie nirgendwo sonst. Der traurige Wert: Fast ein Toter durch Corona pro Minute. Und laut der WHO steht das Schlimmste noch bevor.

Brasilien steuert auf den Höhepunkt der Pandemie zu, steckt gleichzeitig aber auch in einer handfesten politischen Krise. Das Land hat immer noch keinen neuen Gesundheitsminister, zwei Gesundheitsminister mussten während der Pandemie bereits zurücktreten.

Der Grund: Meinungsverschiedenheiten mit Präsident Jair Bolsonaro. Ein Gesundheitsminister musste gehen, weil er die Empfehlungen der WHO befolgen wollte. Ein anderer, weil er sich gegen den Einsatz eines vermutlich gesundheitsschädlichen Medikaments aussprach. Der Interims-Gesundheitsminister ist ein General und hat keine Erfahrung in diesem Bereich.

Aus den Nachrichten verbannt

Zuletzt sorgte sein Ministerium für Empörung, weil es die Gesamtzahl der Corona-Toten nicht mehr veröffentlicht hatte, sondern nur noch Zahlen der vergangenen 24 Stunden. Außerdem wurde die Veröffentlichung nach hinten geschoben, um nicht in den allabendlichen Nachrichten zu erscheinen.

Daten, die die Entwicklung der vergangenen Monate aufzeigten, wurden gar ganz aus dem Netz entfernt. „Die kumulativen Daten spiegeln nicht wider, wo sich das Land gerade befindet“, erklärte Bolsonaro auf Twitter. Doch wieder einmal blockte das oberste Gericht ein Vorhaben der Regierung und verfügte, alle Daten über die Virus-Infektion wieder zur Verfügung zu stellen.

Bolsonaro ging noch weiter. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump droht er, aus der Weltgesundheitsorganisation auszusteigen. Die WHO verhalte sich wie eine „politische Organisation“. Bolsonaro, der Corona als „kleine Grippe“ herunterspielt, würde am liebsten alle Isolationsmaßnahmen aufheben, die von den Landesregierungen beschlossen wurden.

Zu Beginn der Pandemie war das öffentliche Leben fast vollständig zum Erliegen gekommen: Geschäfte und Schulen wurden geschlossen, Konzerte verboten, Parks und Strände abgeriegelt. Die meisten Städte entschieden sich jedoch gegen einen kompletten Lockdown, die Polizei ging kaum gegen Menschenansammlungen vor.

Noch schlimmer

Vor allem arme Menschen waren und sind weiter auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen. Während am Anfang viele Menschen zu Hause blieben, ist die Isolationsrate in den letzten Wochen gesunken. Allerdings: Expert*innen vermuten, dass die Situation viel schlimmer wäre, hätte es keinerlei Isolationsmaßnahmen gegeben und wären die Forderungen von Bolsonaro umgesetzt worden.

Lange Zeit hatten sich die Gouverneure geweigert, Flexibilisierungen umzusetzen. Doch um einen kompletten Einbruch der Wirtschaft zu verhindern, wurden nun in einigen Städten die ersten Lockerungen umgesetzt.

In Rio de Janeiro machten Einkaufszentren ihre Tore wieder auf, jedoch mit strikten Richtlinien wie Fiebermessungen am Eingang, begrenzten Einkaufsflächen und reduzierten Öffnungszeiten.

Auch in São Paulo durften viele Geschäfte am Donnerstag wieder öffnen. In der Innenstadt waren daraufhin die Straßen voll mit Fußgänger*innen, Autos stauten sich auf den Straßen und Menschen zwängten sich in volle Busse.

Lange Schlangen

Es fühlte sich zeitweise so an, als habe die Megametropole das Virus überwunden. Doch die Stadt ist landesweit am stärksten von der Pandemie betroffen und hat in den vergangenen Tagen neue Rekordwerte an Covid-19-Toten vermeldet.

Die Straße des 25. März ist eine wuselige Einkaufstraße mit Ramschläden und Kaufhäusern mit chinesischer Waren im Zentrum von São Paulo. Am Donnerstag drängen sich tausende Menschen auf der Straße. Vor Geschäften haben sich lange Schlangen gebildet. Fliegende Händler*innen preisen lauthals ihre Waren an.

An einer Straßenecke steht Luiz Fernando, 49, blaues Fußballtrikot, eine große Pappe mit Fotos von gefälschten Sneakern in der Hand. Für ein Geschäft wirbt er auf der Straße um Kund*innen. In den vergangenen drei Monaten sei die Straße komplett leer gewesen, sagt Fernando. Nur über das Internet habe der Laden ein bisschen Ware verkauft.

Doch auch jetzt laufe das Geschäft schlecht. „Niemand kauft etwas“, sagt Fernando. „Die Leute sind hier, weil etwas los ist, und bummeln nur herum.“ Es scheint, als sei vielen Brasilianer*innen das Risiko der Infektion immer noch nicht bewusst.

Stabile Zustimmung

Expert*innen kritisieren die Flexibilisierungen scharf. „Das Risiko ist sehr hoch und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Wiedereröffnungen kontrollierbar sind“, sagte der Virologe André Ribas Freitas der linken Zeitung Brasil de Fato. „In Europa wurde gelockert, weil die Anzahl der Infizierten sank. Hier steigen die Infektionszahlen aber weiter rasant an. Wir sollten erst lockern, wenn ein konstanter Rückgang zu verzeichnen ist.“

Umfragen zeigen, dass die meisten Brasilianer*innen die Isolationsmaßnahmen unterstützen, das Virus ernst nehmen und Bolsonaros Kurs kritisch sehen. Allerdings: Der Präsident genießt trotzdem eine stabile Zustimmung von rund 30 Prozent der Bevölkerung. Und seine radikalsten Unterstützer*innen demonstrieren Woche für Woche gegen den die Quarantänemaßnahmen.

Aber auch bei anderen Menschen wächst die Kritik am Stillstand. Am Mittwochabend protestierten in São Paulo rund 200 Menschen vor dem Gebäude des Stadtrats. Sé Augusto Damasceno, 39, muskulöse Oberarme, ist Besitzer eines Fitnessstudios im Süden der Stadt. Seit drei Monaten ist sein Studio geschlossen. „Es ist dramatisch für uns“, sagt Damasceno. „Ich habe kein Geld mehr und weiß nicht, was ich machen soll.“

Hilfsleistungen von der Regierung habe er nicht erhalten. Seine Kritik richtet sich an Landes- und Bundesregierung. Laut Damasceno sei es möglich, auch im Fitnessstudio Abstand zu halten und Masken zu tragen. „Außerdem denke ich, dass Fitnessstudios wichtig für die Gesundheit der Menschen sind und alleine deshalb schon wieder öffnen sollten.“

Finanzielles Drama

Für Menschen wie Damasceno, die keine Ersparnisse haben und nicht von zu Hause aus arbeiten können, ist das Virus ein finanzielles Drama. Doch auch für die, die wieder arbeiten können, ist die Pandemie ein Dilemma: Entweder sie bleiben ohne Lohn zu Hause oder sie gehen arbeiten und damit das Risiko einer Infektion ein.

Die Aktion am Copacabana-Strand endet, als Unterstützer*innen Bolsonaros auftauchen. Videos zeigen, wie ein Mann in Sportkleidung die Kreuze niederreißt und über Linke schimpf. Ein anderer Mann, der seinen Sohn durch Covid-19 verloren hat, stapft daraufhin durch den Sand, stellt die Kreuze wieder auf und brüllt mit brüchiger Stimme: „Respektiert unseren Schmerz.“

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