Prioritäten bei Corona-Lockerungen: Fußball vor Bildung

Die Fußball-Bundesliga darf wieder starten, für viele SchülerInnen ist die Perspektive weiter unklar – ein Lehrstück über Prioritäten in der Politik.

Ein Junge mit BVB Dortmund Trikot streichelt einen Hund.

Prioritätensetzung der Politik: Seine Schule ist zu, seine Stars dürfen wieder spielen Foto: blickwinkel/picture alliance

Gute Nachrichten für Kleinkinder: Sie dürfen ab Mitte Mai wieder spielen. Nein, nicht die echten Kleinkinder, sondern die geistigen Kleinkinder der Fußball-Bundesliga. Durch das Facebook-Video des Hertha-BSC-Spielers Salomon Kalou aus der Kabine des Berliner Clubs hat die Öffentlichkeit einen intimen Einblick in die Welt des Profifußballs bekommen: Kalou platzt in einen amateurhaft aufgezogenen Corona-Test und macht sich über selbigen lustig; Stürmerkollege Vedad Ibisevic lamentiert über seine moderate Gehaltskürzung („Why are they fucking with us?“).

Dank Kalou ist dokumentiert, was die meisten Interessierten sowieso längst ahnten. Die Fußballprofis, deren Leben sich zwischen Pflichtspielen, Training, Playstation und dem Erwerb hässlicher Luxus-Karren bewegt, leben in einer Kunstwelt ohne Bezug zur Realität: Existenzängste, Gesundheitssorgen – beides Dinge, die durchaus auch ihre Fans quälen. Ist uns doch egal. Wer glaubt, dass nur in der Hertha-Kabine so geredet wird, darf weiterträumen.

Am Mittwoch aber haben die MinisterpräsidentInnen und die Kanzlerin den Startschuss gegeben für die Wiedereröffnung der Bundesliga. Die Millionenshow darf weitergehen; Ibisevic und seine Arbeitskollegen werden wohl nicht länger von fucking Gehaltskürzungen belästigt. Gleichzeitig steht im selben Beschluss zum Thema Schulen – das für ein paar Menschen existentieller ist als die Bundesliga – dieser lapidare Satz: „Ziel ist, dass in Abhängigkeit vom Infektionsgeschehen bis zu den Sommerferien jede Schülerin und jeder Schüler einmal die Schule besuchen kann.“ Länder mit einer strikten Corona-Politik sind also fein raus. Und die Kitas? Da soll die Notbetreuung „stufenweise“ erweitert werden.

Die Botschaft des Papiers, über dessen Ehrlichkeit man dankbar sein sollte: Der Millionenzirkus der wenigen ist wichtiger als die psychische, soziale und bildungsmäßige Lage von Millionen Kindern. Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) mit ihrem obersten Lobbyisten Christian Seifert hat ganze Arbeit geleistet. Das Argument der DFL, dass Tausende Arbeitsplätze an der Bundesliga hingen, ist natürlich verlogen – abgesehen davon geht es derzeit in jeder Branche um Arbeitsplätze: Das Arbeitsplatzargument zieht in Deutschland immer, dachte Seifert sich wohl. Merkwürdig nur, dass die Situation der normalen Vereinsbeschäftigten in den vergangenen Jahrzehnten öffentlich nie eine Rolle spielte.

Fans als willfährige KonsumentInnen

Und die Fans? Die sind als willfährige KonsumentInnen von Sky-Abos gefragt; sie sollen wieder das dünne Massen-Bier kaufen, für das in der Sportschau Werbung gemacht wird; die Kinder sollen sich für 50 Euro und mehr als „Fan-Shirt“ getarnte Fetzen aus Billig-Polyester kaufen lassen, aber sich bitteschön nicht weiter beschweren, wenn sie das Pech haben, in einem Bundesland zu leben, das es mit der Schulöffnung ruhig angehen lässt.

Es wurde die Chance vertan, für die Schulen und Kitas einen verbindlichen Rahmen festzulegen, der allen Kindern und Eltern eine Perspektive gibt: Schule für alle unter Einhaltung der Hygieneregeln, und wenn das wegen der kleineren Gruppen nicht möglich ist, wäre eine Kombination aus Unterricht in der Schule und solchem über digitale Kanäle eine Alternative.

Spätestens seit dem Kalou-Video dürfte übrigens klar sein, dass die meisten Kinder mit den Abstandsregeln wohl verantwortungsvoller umgehen dürften als die Fußballprofis. Die aber sind Vorbilder und Helden für viele Kinder. Wenn die jetzt sehen, wie rotzig und gleichgültig ihre Stars mit den Corona-Regeln umgehen, werden sie sich zu Recht fragen: Warum sollen wir eigentlich Abstand halten?

Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher von der SPD sagte als Argument für den Bundesliga-Start, die habe ja auch eine „große Fangemeinde“. Ein rührendes Argument, denn der Faktor Anhängerschaft diverser Branchen (Museen, Musik, Bars) spielte bei den Lockerungs-Entscheidungen der vergangenen Wochen sonst keine Rolle. In Wirklichkeit sind die Fans in der Öffnungsfrage gespalten: Viele lehnen Geisterspiele als seelenlos ab, die Verantwortungsbewussten befürchten unkontrollierte Fanaufläufe vor den Stadien.

Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder sagte Ende April in seiner Rolle als Covid-19-Chefbekämpfer, es gehe bei den Lockerungen um „Besonnenheit statt Lobbyismus“. Seit Mittwoch ist klar: Bei der Bundesliga ist es umgekehrt – und das ist einfach nur erbärmlich zu nennen.

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