Britischer Regisseur Tony Kaye: Fehler im System

Tony Kayes Debüt „American History X“ verhalf Edward Norton zum Durchbruch als Schauspieler. Nun ist sein Film „Detachment“ online zu sehen.

Eine Frau und ein Mann lehnen an eine rote Wand

Sami Gayle und Adrian Brody Foto: Mubi

Die Onlineplattform Mubi zeigt ab Sonntag für 30 Tage den bis dato jüngsten Film des exzentrischen Briten Tony Kaye: „Detachment“ von 2011. Darin ist neben Hauptdarsteller ­Adrien Brody („The Pianist“) eine ganze Reihe bekannter US-Stars in schrägen Nebenrollen zu sehen. Das überrascht, weil Kaye in Hollywood seit Jahren gemieden wird.

In den Neunzigern galt er als Wunderkind des Werbefilms und konnte mit riesigen Budgets frei experimentieren, war einer der höchstbezahlten Regisseure seiner Branche. Mit seinem ersten Spielfilm „American History X“ verhalf er Edward Norton zum Durchbruch als Schauspieler. Streit über die finale Schnittfassung des Films brachte jedoch Kayes eigene Arbeit vorerst zum Stillstand: Er zerstritt sich mit Norton und seiner Produktionsfirma New Line Cinema, wollte seinen Namen aus den Credits entfernt sehen. Gegen die Europapremiere von „American History X“ bei der Berlinale protestierte er damals etwa vor dem Brandenburger Tor, zuvor hatte er die Weltpremiere des Films beim wichtigen Festival in Toronto ohne Absprachen mit der Produktion zurückgezogen.

Umso mehr verwundert es, dass „Detachment“, der knapp 15 Jahre später entstand, filmisch ganz ähnlich funktioniert. Kaye führt bei seinen Arbeiten stets selbst die Kamera – so auch hier –, er liebt Unschärfen und verkantete Per­spektiven, rückt gerne nah an Gesichter, sucht gezielt konfrontative und suggestive Bilder. Kaye steigert sich in das Pathos von Piano- und Geigensoundtracks, die Überdeutlichkeit, das freie, assoziative Montieren.

„Detachment“. Regie: Tony Kaye, USA 2011. Läuft ab 17. 5. auf mubi.com

Und so ist „Detachment“ ein Film zwischen den Welten: Mit minimalem Budget, aber beachtlicher Besetzung gedreht, im Setting einer kleinen Schule nach den großen philosophischen Fragen suchend, stilistisch völlig unberechenbar und mit skizzenhafter Dramaturgie. Der brüchige zweite Spielfilm eines Regisseurs, der mit 46 noch immer ein unerfahrener Erzähler war.

Bindungsangst mit System

Brody gibt den Vertretungslehrer Henry Barthes, der alle paar Wochen von Klasse zu Klasse wechselt, ohne sich jemals länger zu binden. Seine Bindungsangst hat System: Barthes ist abgestumpft durch Verletzungen aus seiner Kindheit, die Apathie der Jugend und das Elend in der Großstadt. Der Mann tritt aufmüpfigen Jugendlichen, ohne zu zögern entgegen, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Während seine Kolleginnen und Kollegen mit Burn-outs kämpfen und herumschreien, verbittern oder unangenehm grinsend Pillen konsumieren, trägt er eine unerschütterliche Melancholie und intellektuelle Abgeklärtheit in die Räume, die die Klassen schnell mit Souveränität verwechseln.

Die von Kaye und Brody gemeinsam entwickelte Figur ist ein scharfer Denker, aber zeigt sich auf tiefe Weise der Welt entrückt. Barthes ist gefangen in einer harschen Apathie, und nur in der Kunst findet er noch ein brauchbares Werkzeug, um den Schüler*innen etwas auf den Weg zu geben. Wenn er die Kids dazu aufruft zu lesen und sich von den Ideologien der Welt nicht einlullen zu lassen, wird Brodys Tonfall agitativ, als gelte es hier nicht einfach eine Figur zu tragen, sondern eine Idee.

So bleibt Tony Kaye ein Filmemacher auf verlorenem Posten, ein Fehler im System. Die Konsequenzen trägt er allein

Barthes macht klar: Der Kommerz und seine Menschenbilder dürfen keine Macht über die eigene Weltanschauung erlangen! In einer anderen Szene verliest er Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ und spricht vom frostigen Erstarren, vom Erliegen der Lebenskraft, die als Drohung den gesamten Film durchzieht.

Unkontrollierte Lust am Sehen

Kurz nach „American History X“ veröffentlichte Kaye übrigens „Lake of Fire“, eine zweieinhalbstündige dokumentarische Betrachtung der Abtreibungsdebatte in den USA, gefilmt über 16 Jahre und aus eigenen Mitteln mit einem Budget von 6 Millionen US-Dollar produziert. Kaye begann 1993 zu filmen, kurz nach seiner Ankunft in den USA und unmittelbar, als dort die Gewalt unter christlich-fundamentalistischen Gruppen bis hin zu Morden an Abtreibungsärzten eskalierte. Er sprach vorbehaltlos mit Menschen aller Positionen und ging in der Wahl seiner Mittel ungewöhnliche Wege. So unterstreicht der Film etwa Pro-Life-Rhetorik mit emotionalisierender Musik.

Kayes unkontrollierte Lust am Sehen führte ihn immer wieder zu reizüberfluteten Bildern, die seine Werbefilme kurios und seine Spielfilme übergroß werden ließen. Extremen Realitäten jedoch begegnete er in seinem dokumentarischen Versuch auf Augenhöhe. Heute gibt er sich milder und hat seine frühere Egomanie abgelegt. Was ihn weiter anzutreiben scheint, ist der Kampf für ein Kino, das sich dem Erstarren entgegenstellt – neben einer Industrie, die ihn faktisch abgeschrieben hat.

So bleibt er ein Filmemacher auf verlorenem Posten, ein Fehler im System. Die Konsequenzen trägt nicht das System, sondern er allein. Und so ist „Detach­ment“ nicht einfach ein mäßiger Film über innere Isolation, sondern vor allem das Zeugnis der Tragik eines Künstlers, der keinen Platz finden kann.

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