Die Wahrheit: Im Dickicht der Weltdeutung

Zu Besuch beim deutschen Verschwörungspapst Widukind von Thule, dem großen Mahner wider die global herrschenden Geheimbünde.

Karikatur einer ensetzt schauenden Prinzessin an einem Brunnen, auf dessen Rand ein Frosch hockt, der die Prinzessin zu einem Kuss auffordert

Illustration: Dorthe Landschulz

Der Mossad schickt uns“, raunen wir die verabredete Parole in die Gegensprechanlage. „Wer denn auch sonst! Bill Gates etwa?“, schnarrt uns eine Stimme aus dem Gerät entgegen und verliert sich umgehend in einem Monolog, der zwischen Warnungen vor Zionisten, Freimaurern, Chemtrails, Jesuiten und Schutzimpfungen mäandert, bis er schließlich in der radikalen Neubewertung historischer Ereignisse wie dem Fall der Zwillingstürme am Elftenseptember, den Kennedy-Morden, der Barschel-Affäre und der Mondlandung mündet. Mitunter haben wir das Gefühl, als sprühten Spuckebläschen aus der Gegensprechanlage, aber das mag eine Täuschung unserer von Mainstream-Propaganda überreizten Nerven sein.

Nach einer guten Stunde Beschallung schwingt das Gartentörchen endlich auf, und wir betreten den akkurat geharkten Kiesgarten eines unscheinbaren Reihenhauses in einer deutschen Kleinstadt, die wir hier Sebottendorf nennen wollen. Kaum etwas weist daraufhin, dass in diesem beschaulichen Ort einer der bedeutendsten deutschen Verschwörungstheoretiker residiert. Jedenfalls, wenn man davon absieht, dass sich im Vorgarten ein mannshohes Schild Agenten von der „BRD GmbH“ und dem „Emirat Eurabia“ vor dem Betreten des Grundstücks warnt.

Die Nachbarn wollen von alldem nichts bemerkt haben, denn Verschwörungspapst Witukind von Thule ist ein Meister der Verstellung. „Er hat immer freundlich gegrüßt“, bekennt eine Nachbarin verwundert. Nicht einmal sein bürgerlicher Name ist bekannt. Auf dem Klingelschild steht zwar „Ingo-Immanuel Lint“, aber das könnte genauso gut eine Finte sein. Immerhin ist der Name ein Anagramm zu „Illuminatengnom“. Gehört der Mahner etwa selbst zum weltbeherrschenden Geheimbund? Die Hinweise sind erdrückend, aber nebulös.

Der mysteriöse Witukind von Thule ist jedenfalls einer von fünfzehn Präsidenten des Dachverbandes deutscher Verschwörungstheoretiker. „Ich bin der einzig rechtmäßige Präsident, die anderen sind allesamt von CIA und Bilderbergern eingeschleuste Provokateure“, wird von Thule später befinden. Auch der Dachverband selbst weist 73 schismatische Abspaltungen auf, die sich gegenseitig der Unterwanderung durch Reptilienmenschen, Femi-Nazis und Islamofaschisten sowie getürkter Spesenabrechnungen bezichtigen.

Reinigung germanischer Chakren

Als man uns nach Reinigung unserer germanischen Chakren mit der Wurzelbürste und einer Rektaldusche Chlorbleiche eintreten lässt, hat sich Chefverschwörer von Thule hinter dem Sofa verschanzt. „Bleiben Sie mir bloß mit dem Virus vom Leib, das natürlich nicht existiert, obwohl es absichtlich freigesetzt wurde“, ruft er uns zur Begrüßung zu und zurrt seine Weltkriegs-Gasmaske fest. „Ich hoffe, ich hab das richtig zusammengefasst. Ich bin zwar von Natur aus extrem leichtgläubig“, seufzt er, „aber das Ganze wird sogar mir langsam zu unübersichtlich.“

„Liegt das Unübersichtliche nicht im Wesen der Verschwörungstheorie“, fragen wir investigativ nach, aber von Thule schüttelt den Kopf: „Nein, denn der Eingeweihte erkennt überall vertraute Muster. Nur der Laie ist mit einer unübersichtlichen Faktenlage überfordert und zieht von allen möglichen Erklärungen die einfachste vor. Da kann nur ein Fachmann helfen, der den verschlungensten Weg ins Dickicht der Weltdeutung weist. Die Wahrheit liegt ja nicht einfach irgendwo da draußen, wo sie jeder finden kann. Sie muss vielmehr sorgfältig kuratiert werden. Verschwörung ist Vertrauenssache. Stück Kuchen?“

Wir lehnen dankend ab. „Mir fehlt derzeit die erzählerische Stringenz in der internationalen Verschwörungsbranche“, klagt der altgediente Obskurantist weiter und schiebt ein Stück Bienenstich unter seiner Maske hindurch. „Mal soll das Virus aus amerikanischen, mal aus chinesischen Labors entwichen sein, dann wieder steckt Bill Gates, George Soros oder eine genmanipulierte Fledermaus dahinter. Am nächsten Tag erfahre ich, dass kein Virus, sondern die tödliche Strahlung der 5G-Masten für die Toten verantwortlich ist, die es aber überhaupt nicht gibt, weil die Pandemie nur ein Ablenkungsmanöver ist, um das weltweite Netzwerk aus pädophilen Politikern, Bankern und Hollywoodstars in Schach zu halten, das Kinder entführt und in unterirdischen Lagern gefoltert hat, um ein Unsterblichkeitsserum zu erhalten. Hab ich was vergessen?“

„Äh ja, dass Sars-CoV-2 entstand, als man im Eislabor von Neuschwabenland Hitlers DNA mit der eines Pangolins kreuzte, um einen gepanzerten Superkrieger für den Endkampf der arischen Rasse zu erschaffen“, improvisieren wir. Von Thule runzelt die Stirn. „Interessant. Dem muss ich unbedingt nachgehen.“

„Hoffen Sie etwa, Beweise zu finden?“, fragen wir entgeistert.

„Bloß nicht, das würde die hübsche Theorie vollkommen ruinieren“, winkt von Thule ab. „Aber wo war ich stehen geblieben? Richtig: Viel zu oft wird der Verbraucher mit zusammenhanglosen Fake News aus dem Internet abgespeist, die morgen bereits wieder vergessen sind. Deswegen müssen endlich verbindliche Mindeststandards für Verschwörungstheorien her. Welche Narrative muss eine ordnungsgemäße Theorie mindestens enthalten? Darf man Antisemitismus im Einzelfall mit Islamophobie ersetzen und muss das auf der Packung angegeben werden? Wir vom Dachverband halten uns da jedenfalls an die Protokolle …“

Pädophilennetzwerk von Stars

Wir schauen uns suchend im leeren Wohnzimmer um. „Entschuldigung, wen meinen Sie mit wir?“

„Ich meine natürlich uns“, strahlt uns der Präsident leicht toxisch an und tippt sich an den Kopf. „Baphomet, König Barbarossa, Adolf Hitler, Lady Di und meine Wenigkeit. Wir wohnen alle zusammen hier drin.“

Witukind von Thule wirkt auf ungute Weise enthusiasmiert, er ist aufgesprungen und wedelt mit den Armen. „Ein schnödes Pädophilennetzwerk von Hollywoodstars kann doch nicht die letzte Matroschkapuppe dieser Pandemie sein. Cui bono, muss man da fragen. Wer steckt hinter alldem? Follow the white rabbit!“

Wir verzichten lieber auf die Hasenjagd, weil wir genau wissen, wo sie endet, und wollen lieber ein bisschen an die frische Luft gehen.

„Und eben hier unterscheidet sich die traditionsreiche Wertarbeit deutscher Verschwörungshandwerker von den billigen Importen der US-Plutokraten“, hören wir den Paranoiker noch schäumen und schäumen … „Brunnenvergifter, Talmudjünger, Zionisten“, röchelt er schwer atmend und fällt in eine tiefe Ohnmacht. Um dem Paranoia-Präsi einen erholsameren Schlaf zu gönnen, drehen wir das Atemventil seiner Maske auf. Oder zu. Wer weiß das so genau? Für uns beschränkte Schlafschafe ist die Faktenlage einfach zu unübersichtlich.

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