Debatte um Corona-Lockerungen: Das Seuchenparadoxon

Merkels Warnung vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ ist berechtigt – die Corona-Gefahr ist noch nicht gebannt.

Drei junge Männer tragen zusammen zwei Bierkästen.

Auch eine Möglichkeit: Bierkästen als Hilfsmittel, um den Abstand zueinander einzuhalten Foto: Karsten Thielker

Öffnungsdiskussionsorgien – wer hätte gedacht, dass ein solches Wort zum Sprachschatz Angela Merkels gehört? Aber es ist treffend. Die immer lautstärkeren Stimmen für „Lockerungen“ vereinen sich zu einer bedenklichen Kakofonie, die dem Ernst der Lage nicht gerecht wird. Das Problem ist dabei nicht, dass neben jenen Geschäften, die ohnehin die ganze Zeit nicht geschlossen waren, nun auch weitere wieder öffnen dürfen.

Entscheidend ist nur die Einhaltung strikter Sicherheitsstandards, wozu neben Abstandsregeln nicht zuletzt eine Schutzmaskenpflicht gehört. Unter dieser Maßgabe ist es auch richtig, wenn die Einschränkung von Grundrechten schnell zurückgefahren wird, was besonders für das Demonstrationsrecht gilt.

Ein wirkliches Problem ist hingegen, wenn über die Diskussion über die Öffnung von diesem und jenem der trügerische Eindruck befördert wird, die Gefahr des Coronavirus wäre gebannt. Solange es keinen Impfstoff dagegen gibt, ist sie das mitnichten. Es ist eine einfache Faustregel: Je größer die Gefahr, dass das Gesundheitssystem kollabiert, desto rigider müssen die Gegenmaßnahmen ausfallen – um zu retten, was noch zu retten ist.

Ein Blick nach Italien, Spanien, Frankreich oder Großbritannien dürfte eigentlich reichen, um zu erkennen, was den Menschen in der Bundesrepublik bislang erspart geblieben ist – und das gilt sowohl für die Anzahl der Todesopfer als auch für die Einschränkung des öffentlichen Lebens.

Doch es gibt eine Art Seuchenparadoxon: Da die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung offenkundig gewirkt haben, sinkt die Angst vor dem Coronavirus und damit die Bereitschaft, jegliche Abweichungen vom Vor-Corona-Alltag hinzunehmen. Aber das ist höchst gefährlich.

Zur Erinnerung: Die zweite Welle der Spanischen Grippe kostete weitaus mehr Menschenleben als die erste. „Öffnungsdiskussionsorgien“ sind daher nicht angebracht. Um gut durch die Krise zu kommen, ist es unabdingbar, sich bewusst zu sein, dass es nach wie vor auch noch viel schlimmer kommen kann.

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Jahrgang 1966. Arbeitet seit 2014 als Redakteur im Inlandsressort und gehört dem Parlamentsbüro der taz an. Zuvor fünfzehn Jahre taz-Korrespondent in Nordrhein-Westfalen. Mehrere Buchveröffentlichungen (u.a. „Endstation Rücktritt!? Warum deutsche Politiker einpacken“, Bouvier Verlag, 2011). Seit 2018 im Vorstand der taz-Genossenschaft.

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