Corona-Test auf der Straße

Foto: Francis Mascarenhas/reuters

Corona-Alarm im Slum von Mumbai:Das Virus und das Elend

In Dharavi verteilt Raphel Paul Lebensmittel. Kiran Dighavkar versucht die Seuche einzudämmen. Die Studentin Neha hat Angst.

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27.4.2020, 13:02  Uhr

Sie schlängeln sich aneinander vorbei. Wer zu langsam läuft, wird mit einem hektisch zischenden Laut an die Seite gedrängt. Unzählige Menschen passieren täglich die Dhobi-Ghat-Brücke in Mumbai, die den Slum Dharavi mit dem Stadtteil Sion verbindet. Doch seit einigen Wochen ist es an der Brücke sehr ruhig geworden. Die Ausgangssperre aufgrund der Corona­krise hat das normale Leben radikal verändert. Der größte Slum Asiens ist abgeriegelt.

„In Sion befinden sich das Krankenhaus und der große Supermarkt. Die Schließung verstärkt die Probleme der Menschen“, sagt der Imbissbesitzer Raphel Paul, ein kräftiger Mann mit Schnauzer. Schon bevor das Virus die Slums von Mumbai erreicht hatte, war er besorgt. „Die Leute leben hier auf engem Raum und haben kaum Zugang zu sauberem Wasser. Die meisten benutzen die öffentlichen Toiletten, weil sie keine eigene haben“, sagt Paul.

In der westindischen Metropole Mumbai lebt knapp die Hälfte der Bevölkerung auf engstem Raum in Slums. Das betrifft 8 Millionen von 20 Millionen BewohnerInnen. Als in einigen dieser Viertel die ersten Coronafälle bekannt wurden, hat das die Behörden in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

Mission impossible für Kiran Dighavkar

„Mein Tag beginnt damit, herauszufinden, wer sich in meinem Gebiet angesteckt hat“, sagt der leitende Beamte Kiran Dighavkar, der für die Region rund um den Slum Dharavi zuständig ist. Der 36-Jährige hat lange Tage hinter sich. Mit seinem Team versucht er die Ausbreitung unter Kontrolle zu bringen. Eine fast unlösbare Aufgabe. Vielmehr scheint seine „Mission Dharavi“ eine Mission impossible zu werden.

Eine Woche nachdem 1,3 Milliarden InderInnen Ende März unter die Ausgangssperre gestellt wurden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu begrenzen, meldete Dharavi seinen ersten Coronatoten. Seitdem sind knapp vier Wochen vergangen, in denen sich in dem berüchtigten Slum über 275 Menschen angesteckt haben und 14 von ihnen verstarben.

Zunächst trafen die Corona-Infektionen in Indien nur die Besserverdienenden, jene, die sich Reisen ins Ausland leisten können, oder TouristInnen. Bald folgten Personen in ihrer nächsten Umgebung: ein Taxifahrer, eine Haushaltshilfe, eine Imbissköchin. Nun hat das Virus seinen Weg in die Armenviertel gefunden. Für viele Bewohner ist allerdings die größte Sorge nicht die Krankheit, sondern genug zu essen auf dem Teller zu haben. Mit dem Lockdown haben viele ihr tägliches Einkommen verloren.

Raphel Paul, der sonst in Dharavi ein Fast-Food-Restaurant betreibt, hat seit einem Monat keine Speisen mehr verkauft. Dieser Tage gibt er umsonst Linsen, Öl und Zucker aus. Bekannte helfen ihm bei der Verteilung. „Wenn wir nichts unternehmen, wer dann?“, fragt Paul. Ehrenamtlich leitet der 48-Jährige eine Nachbarschaftsinitiative, daher kennt man ihn gut. Morgens und abends ist die Ausgabe geöffnet.

Raphel Paul, Imbissbetreiber

„Ich befürchte, dass wir bald nichts mehr austeilen können. Auch Supermärkte haben Probleme“

„Ich befürchte, dass wir bald nichts mehr austeilen können. Auch Supermärkte haben Probleme mit dem Nachschub“, sagt Paul bei einem Videogespräch. Hinter ihm sind Säcke mit Vorräten zu sehen. Bei Zucker und Tee werde es aber knapp, genauso wie beim Geld, je länger der Ausnahmezustand andauert. Seine Familie ist wenig über sein Engagement erfreut. Sie befürchtet, dass er sich anstecken könnte. Mumbai verzeichnet eine der höchsten Corona-Infektionsraten Indiens.

Die dicht besiedelten Gebiete mit wenigen sanitären Einrichtungen sind ein gefundener Nährboden für ansteckende Krankheiten. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass sich acht Menschen eine kleine Wohnung teilen. Diese Bedingungen erhöhen die Chance einer Übertragung. Ein Viertel der Menschen, die in Dharavi in den vergangenen zwei Wochen auf Sars-CoV-2 getestet wurden, waren angesteckt.

Der erste Fall Indiens erster Coronafall wurde am 30. Januar bekannt. Der betroffene indische Student war aus dem chinesischen Wuhan in seine Heimat zurückgekehrt. Bis Mitte März blieben die bestätigten Sars-CoV-2-Fälle im Land auf einem niedrigen Niveau.

Die Ausgangssperre Ab dem 18. März wurde für zahlreiche Länder ein Einreiseverbot verhängt. Eine Woche später erfolgte der Lockdown. Kritiker beklagen, dass zu wenig getestet wird und die mit der Ausgangssperre gewonnene Zeit nicht genutzt werde.

Die Zahlen Bislang (Stand 27. 4.) sind etwa 665.000 Corona-Tests durchgeführt worden. Die Zahl der Infektionen ist auf 27.892 gestiegen. Es gibt 872 Todesfälle. Besonders betroffen sind die Großstädte Mumbai und Delhi. Das indische Gesundheitssystem wird bei weitem nicht ausreichen, um Millionen BürgerInnen qualitativ hochwertig zu versorgen. (taz)

Kurz nachdem der erste Bewohner coronapositiv getestet worden war, starb der Betroffene. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Mumbai nur wenige Fälle. Der Textilkaufmann, der an Fieber und Atembeschwerden litt, war nicht sofort als Corona-Infizierter erkannt worden. Er gehörte nicht zur Risikogruppe, da er nicht ins Ausland gereist war. Allerdings hatte er zuvor Pilger aufgenommen, von denen man annimmt, dass sie ihn angesteckt haben.

Seine Besucher kamen von einem Treffen der islamischen Glaubensbewegung Tablighi Jamaat aus Delhi und hatten in Mumbai einen Zwischenstopp eingelegt. Unter den Menschen aus 40 Ländern, die sich Anfang März in der Nizamuddin-Markaz-Moschee trafen, befanden sich mehrere Infizierte aus Malaysia und Indonesien, die so die Verbreitung des Coronavirus in Indien verstärkt haben.

Menschen stehen in einer Schlange, eine Person in Schutzanzug mit Stock in der Hand daneben.

Warten auf die Untersuchung im Slum von Dharavi Foto: Indranil Mukherjee/afp

74 Menschen wurden in Dharavi ausfindig gemacht, die mit dem verstorbenen Händler in Kontakt gekommen waren. Sie wurden unter Beobachtung gestellt. Viertel mit Coronafällen werden abgeriegelt und von der Stadtverwaltung Mumbais mit Nahrung und Medikamenten versorgt. „Uns bleibt nur, Erkrankte ausfindig zu machen und sie in staatliche Quarantäne zu verlegen“, sagt der Beamte Kiran Dighavkar.

Labyrinth aus Wellblechhütten, Tempeln und Kanälen

In dem gut zwei Quadratkilometer großen Gebiet, das sich im Herzen Mumbais befindet, leben etwa 800.000 Menschen, vielleicht auch mehr. So genau weiß das niemand. Kaum ein anderer Ort der Welt ist so dicht besiedelt. In dem Labyrinth aus Wellblechhütten, Moscheen, Märkten, Tempeln und Kanälen ist es schwer, den Überblick zu behalten. Zumindest für das Bild von oben helfen gerade Drohnen.

Anfangs waren die Fälle noch überschaubar, doch das Nachverfolgen der Infektionsketten wird mit der steigenden Zahl an Erkrankten immer schwieriger. „Die Menschen zu bitten, räumliche Distanz zu halten, ist nahezu unmöglich“, erklärt Dighavkar. Ärzteteams, Gesundheitsmitarbeiter und die Einsatzkräfte der Stadtverwaltung sind im Kampf gegen das Virus beteiligt. Allein in Dharavi sollen mehr als 50.000 Menschen untersucht werden. Um alle direkt auf das Coronavirus zu testen, fehlt es allerdings an Testkapazitäten.

Für BewohnerInnen mit gesundheitlichen Beschwerden wurden „Fieberkliniken“ bereitgestellt. Vor diesen Zelten erwartet das in hellen Schutzanzügen eingepackte und mit Gesichtsmaske und Handschuhen ausgerüstete Personal die Verdachtsfälle. Das medizinische Personal wird durch gespannte Seile von den Menschen getrennt. Die Zelte wurden an den Wohnblöcken hochgezogen, in deren Nähe sich Coronafälle ereignet haben. Mit Stirnthermometer wird die Temperatur gemessen, nach Symptomen gefragt und bei Verdacht ein Abstrich genommen, um auf Corona zu testen.

Die Herausforderungen seien groß, sagt Di­ghav­kar. Risikokontakte müssen isoliert werden. Tausende wurden unter häusliche Quarantäne gestellt, zudem wurden eine Sportanlage und eine Schule als Ausweichquartiere umfunktioniert sowie ein Krankenhaus speziell für Coronavirus-Patienten angemietet. Allein die Gemeinschaftstoiletten täglich zu desinfizieren, ist eine Sisyphusarbeit, aber sie ist dringend notwendig.

Ein edicht bebaute Stadtansicht aus der Luft.

Abstand halten unmöglich: In Dharavi leben 800.000 Menschen auf zwei Quadratkilometern Foto: Himanshu Bhatt/NurPhoto/picture alliance

Dharavi entstand nicht erst in den letzten Jahrzehnten. Der Slum ist über 130 Jahre alt. Schon unter der britischen Kolonialherrschaft wuchs das frühere Fischerdorf infolge der Verdrängung von Fabriken und Arbeitern aus dem Stadtzentrum Mumbais. Schon damals zog es die ärmere Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit vom Land in die relativ wohlhabende Metropole. Wohnquartiere und kleine Fabriken wuchsen unkontrolliert, ohne dass dabei sanitäre Einrichtungen Berücksichtigung fanden.

In Dharavi wird eigentlich gefärbt, genäht, gebacken, geschmälzt und recycelt. Die kleinen Betriebe gehören zum Motor der Stadt, die nun in Zwangspause geschickt wurden. Durch die informelle Wirtschaft kommt der Slum auf einen Jahresumsatz von knapp 1 Milliarde Euro. Doch die meisten Industrien liegen derzeit in Indien flach, nicht nur in Mumbai.

Arbeitsmigranten stehen ohne Auskommen da

Derzeit ist es den Menschen nur noch erlaubt, Lebensmittel einzukaufen oder zur Apotheke zu gehen, eine Regelung, die in ganz Indien gilt. Ausgenommen davon sind nur wenige Berufsgruppen. Beschäftigte der Lebensmittel- oder Pharmaindustrie zählen dazu. Vereinzelt sind Lockerungen für Service, Industrie oder die Bauern angelaufen, die sich gerade mitten in der Erntesaison befinden. Das Land öffnet sich langsam wieder, während die Ausgangssperre bis zum 3. Mai verlängert wurde.

Doch viele Arbeitsmigranten stehen ohne Auskommen da. Deshalb hat die indische Regierung ein Hilfspaket geschnürt, das 800 Millionen Menschen für die nächsten drei Monate mit Reis, Getreide und Direktüberweisungen unterstützen soll. Umgerechnet 21 Milliarden Euro sind dafür vorgesehen. Erfasst werden vor allem Menschen, die bereits zuvor Sozialleistungen erhalten hatten. Doch darunter befinden sich längst nicht alle Slumbewohner, auch wenn diese ihren Lohn verloren haben. Die Verteilung von Essenspaketen wurde von der Stadtverwaltung Mumbais aufgestockt, dennoch erreicht die Hilfe längst nicht alle Betroffenen. Neben den städtischen Behörden springen landesweit private Initiativen und NGOs ein, um Lebensmittel zu verteilen.

„Die Menschen in meinem Haus begannen die Lage erst ernst zu nehmen, nachdem jemand gestorben war“, sagt die Studentin Neha mit nervöser Stimme. Sie wohnt in einer Übergangsunterkunft namens Transit Camp Rajiv Gandhi Nagar in Dharavi. Nach dem Tod des Nachbarn schlossen alle Geschäfte in ihrer Nähe. Seitdem muss sie weiter laufen als früher. „Wenn ich meine Gasse verlasse, um Gemüse zu kaufen, sehe ich viele Jungs, die trotz des Verbots auf der Straße herumstehen. Sie schreien die Polizisten an, wenn sie diese mit Stockschlägen von der Straße vertreiben“, beschreibt die 20-Jährige die Situation am Telefon.

Neha, Studentin

„Wenn ich meine Gasse verlasse, um einzukaufen, sehe ich viele Jungs, die trotz des Verbots auf der Straße herumstehen. Die Polizei vertreibt sie mit Stockschlägen“

Zu essen habe sie noch, sagt Neha. Doch sie ist um ihre Nachbarn besorgt. „Ich hoffe, sie bekommen ihre Ration rechtzeitig“, ohne Lebensmittelzuteilung wüssten sie nicht, wie sie überleben sollen. Mit der Sorge um den Hunger hat auch die Angst vor der Übertragung des Virus zugenommen. Die Polizei bemüht sich, alle Personen, die in Kontakt mit Anhängern der islamischen Gruppe Tablighi Jamaat standen, aufzuspüren. Aber es sei leicht, sich hier zu verstecken, sagt die Studentin Neha. Und das ist es, was ihr und ihrer Familie zunehmend Unbehagen bereitet. Der Vater, der sonst Bananen am Straßenstand verkauft, verlässt das Haus nicht mehr. Alle wissen, dass die Verstorbenen aus Dharavi größtenteils über 50 Jahre alt waren.

„Die Jamaat-Mitglieder sind zweifellos nicht sehr hilfsbereit, wenn es darum geht, sich bei der Polizei zu melden“, sagt Gulam Sheikh. Er macht sich Sorgen, dass das auf die gesamte muslimische Gemeinde zurückfallen könnte. Muslime würden zunehmend zur Zielscheibe von Anfeindungen, so der Vierzigjährige, der für einen Fernsehsender arbeitet und in Dharavi lebt. Warum das Treffen von den Behörden nicht unterbunden worden war, versteht er nicht.

Nach Angaben des Innenministeriums sind über 4.000 Coronafälle mit Tablighi-Jamaat-Mitgliedern in Verbindung gebracht worden. In einigen Medienberichten wurde ihre Mitglieder deshalb als Superspreader bezeichnet, die Veranstaltung gar als „Corona-Dschihad“ betitelt. Islamophobe Hashtags wie #CoronaJihad oder #TablighiVirus sind im Umlauf. Dazu kommen jede Menge Falschnachrichten.

Aber dies ist nicht das Einzige, worüber Gulam Sheikh sich besorgt äußert. „Mit der steigenden Zahl von Corona-Infizierten wird der Widerstand der Bevölkerung sowie des Gesundheits- und Polizeipersonals bald einen kritischen Punkt erreichen“, sagt er. Sheikh vermutet, dass viele Menschen den Slum von Dharavi so schnell wie möglich verlassen würden, wenn sie es denn könnten. Für ihn stellt Dharavi einen Präzedenzfall im Kampf gegen das Coronavirus dar.

Eine Hand in Schutzhandschuh kennzeichnet eine andere Hand.

Ab in den Hausarrest: Die Quarantäne wird auf der Hand verordnet Foto: Francis Mascarenhas/reuters

Wie lange der Ausnahmezustand in Indien noch andauern wird, ist unklar. Derzeit steigen die Fälle weiter an – und mit ihnen die Angst. Während sich manche Menschen an die Ausgangssperre zu gewöhnen scheinen, wächst gerade unter den gestrandeten Wanderarbeitern der Unmut. Sie wollen endlich nach Haus kommen. Doch derzeit ist der gesamte Bus-, Zug- und Flugverkehr ausgesetzt.

Seit dem 25. März ist Indien auf einen Minimalbetrieb heruntergefahren. Nach Angaben des Außenministers Subrahmanyam Jaishankar hätten die strengen Ausgangsbeschränkungen viele Tausend Corona-Infektionen verhindert. Wie viele Menschen sie bedürftiger gemacht haben, ist nicht ausgerechnet worden.

In Dharavi liegt die Hoffnung seit diesem Montag auf den ÄrztInnen vor Ort, die sich in den engen Gassen auskennen und am ehesten wissen, was ihren Patientinnen fehlt. Ihre Praxen sind seit Wochen geschlossen, da sie nicht ausreichend auf eine solche Ausnahmesituation vorbereitet waren. Doch das soll sich mit der Unterstützung der Stadtverwaltung Mumbais ändern. Gebraucht werden die Ärzte mehr denn je, denn die Krankenhäuser stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen.

Da in Mumbai eine strenge Ausgangsbeschränkung gilt, war es nicht möglich, die ProtagonistInnen vor Ort zu treffen. Der Slum ist abgeriegelt. Die Autorin kennt Dharavi und hat die Gespräche am Telefon geführt. Mitarbeit: Mona Thakkar.

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