24 beispielhafte Fälle

In Koblenz beginnt das weltweit erste Verfahren gegen zwei mutmaßliche Folterer des syrischen Assad-Regimes. Die Anklage stützt sich vor allem auf die Aussage von 24 Opferzeugen

Der Angeklagte Eyad A. Foto: Thomas Lohnes/reuters

Aus Koblenz Sabine am Orde

Jasper Klinger steht vor einem riesigen Fenster, dahinter Bäume in frischem Grün und ein Himmel, an dem kein Wölkchen zu sehen ist. Die Frühlingssonne, das merkt man bereits in diesen Vormittagsstunden, wird einen warmen Tag bringen. Doch als Klinger zu sprechen beginnt, macht sich drinnen im Saal, wo Klinger vor dem Fenster steht, das Frösteln breit. Klinger ist Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft und setzt nun an, um eine Anklage zu verlesen, die es so noch nicht gab. In Deutschland nicht und auch nicht weltweit. „Ich klage an“, sagt Klinger jetzt und dann spricht er von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von 58-fachem Mord und Folter in mindestens 4.000 Fällen, von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Erstmals müssen sich mutmaßliche Folterknechte des Regimes von Syriens Machthaber Baschar al-Assad vor Gericht verantworten. Hier in Saal 128, Koblenzer Oberlandesgericht, Staatsschutzsenat.

Auf der anderen Seite des Saals sitzen die beiden Angeklagten. Anwar R., 57, Brille, grauer Schnäuzer. Der Hauptangeklagte, hält sich aufrecht, auch als die Kamerateams vor Beginn der Verhandlung filmen dürfen, versteckt er sich nicht. Eyad A., der 43-jährige Mitangeklagte, hat sich da ganz in seine Kapuze verhüllt, weil er zudem – als einziger der Prozessbeteiligten – eine Maske trägt, sieht man von ihm nicht viel, auch als er die Kopfbedeckung abnehmen muss. Eyad A. steht wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit hier vor Gericht, aber im Vergleich zu Anwar R. ist er ein kleiner Fisch.

Kriegsverbrechen weltweit

Das Völkerstrafgesetzbuch überträgt das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in deutsches Recht und ist seit 2002 in Kraft. Es ahndet Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord. Sie können weltweit verfolgt werden. Angewandt wird es bisher nur gegen Täter mit Deutschlandbezug, da sonst andere nationale oder interna­tio­nale Gerichte zuständig sind.

Erstes Urteil: FDLR

2015 wurden in Stuttgart Ignace Murwanashyaka, der in Deutschland lebende Präsident der im Kongo kämpfenden ruandischen Miliz FDLR, sowie sein Stellvertreter Straton Musoni zu Haftstrafen verurteilt. Murwanashyaka starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Aktueller Schwerpunkt: Syrien

Seit 2011 ermittelt der Generalbundesanwalt unter dem VStGB wegen Verbrechen in Syrien, erst durch die Regierung und seit 2014 auch durch den „Islamischen Staat“ (IS). Seit 2016 wurden fünf Kämpfer bewaffneter Gruppen verurteilt. Am Freitag beginnt in Frankfurt der erste Völkermordprozess gegen einen IS-Kämpfer. (D.J.)

Beide Angeklagte haben, so führt es Bundesanwalt Klinger aus, dem syrischen Allgemeinen Geheimdienst angehört und waren Teil der berüchtigten Abteilung 251, die für die Sicherheit in Damaskus und der Umgebung zuständig war. Als es in Syrien 2011 vermehrt zu Kritik am Assad-Regime kam, seien die syrischen Geheimdienste und das Militär zunehmend brutaler gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle vorgegangen. Eine Vielzahl von diesen landete in den Gefängnissen, die von den Geheimdiensten und der Militärpolizei im ganzen Land betrieben wurden. „In den Hafteinrichtungen wurden die Insassen durchgängig auf massive Art und Weise gefoltert“, sagt der Bundesanwalt. Anwar R. hat, so liest Klinger weiter aus der Anklage vor, in der Abteilung 251 die Ermittlungsabteilung samt einem angeschlossenen Gefängnis geleitet, das „al-Khatib“ genannt wird und im Zentrum von Damaskus liegt.

Was Klinger und sein Kollege nun verlesen, ist schwer auszuhalten. 24 einzelne Fälle von Folteropfern führen sie auf, durchnummeriert, einer nach dem anderen. Laut Anklage sind alle von ihnen geschlagen worden, mit Schläuchen, Kabeln, Stöcken, Gürteln, manche sogar mit Metallrohren, häufig auf die Fußsohlen, die besonders empfindlich sind, oder in die Genitalien. Viele erhielten Elek­troschocks. Manche wurden in Autoreifen gezwängt und dann verprügelt, andere auf einen Stuhl geschnallt, dessen Lehne so weit nach hinten gebogen wurde, dass der Rücken überstreckte. Gefangene wurden mit den Händen an der Decke aufgehängt, sodass nur die Zehenspitzen den Boden berühren. Einer Frau wurde dann an die Brüste und zwischen die Beine gefasst, einem Mann ein Stock in den After eingeführt. Und alle hörten sie die Schreie der anderen Gefolterten.

Auch sonst herrschten in al-Khatib unmenschliche und erniedrigende Bedingungen, führt die Anklage weiter aus: ungenießbares Essen, verweigerte Körperpflege, keine medizinische Versorgung, nur ein Toilettengang täglich. Die Zellen sollen so überfüllt gewesen sein, dass kein Platz zum Hinsetzen oder gar Hinlegen war, die Gefangenen mussten zum Teil im Stehen schlafen.

„Ich klage an“, sagt der Oberstaats­anwalt und spricht dann von Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Anwar R. habe die Befehlsgewalt über die Vernehmungsbeamten gehabt und sei der militärische Vorgesetzte des Gefängnispersonals gewesen, so heißt es in der Anklage weiter. In dem Zeitraum zwischen dem 29. April 2011 und 7. September 2012 seien mindestens 4.000 Häftlinge während der gesamten Dauer der Inhaftierung gefoltert worden, mindestens 58 Menschen sind, so sagt es jetzt Klinger, in dieser Zeit an den Folgen der Misshandlungen gestorben. Anwar R. habe die Beamten eingeteilt und ihren Einsatz überwacht. Er habe während des gesamten Tatzeitraums über das Ausmaß der Folterungen Bescheid gewusst auch darüber, dass Häftlinge aufgrund der massiven Gewalt starben.

Sechs Männer sitzen mit ihren Rechtsanwälten in Saal 128 zwischen Anklägern und Angeklagten, sechs Männer, die diese Qualen in al-Khatib überlebt haben. Sie haben bei der Bundesanwaltschaft ausgesagt und treten als Nebenkläger im Prozess auf. Jetzt sitzen sie hier nur wenige Meter von ihrem mutmaßlich ehemaligen Peiniger entfernt und hören nicht nur von ihrem eigenen Schicksal, sondern auch von denen vieler anderer. „Es ist schrecklich, all das zu hören“, sagt Ferras Fayyad, einer von ihnen, später, als der erste Prozesstag beendet ist. Aber der Prozess sei sehr wichtig, nicht nur für ihn, sondern für alle Opfer. „Wir wollen, dass die Wahrheit hier aufgedeckt wird über die systematische Folter in Syrien, die auch heute, in diesem Moment, weiter geht“, sagt auch Hussein ­Ghree, ein anderer Nebenkläger.

„Wir haben 24 Geschichten über 24 Personen gehört, die schlimmsten Misshandlungen unter unmenschlichsten Bedingungen“, betont auch Rechtsanwalt Patrick Kroker, der gemeinsam mit einem Kollegen Ghree und weitere Nebenkläger vertritt. „Das war sogar für uns schwer erträglich.“ Um so wichtiger aber sei es, „dass die beiden Angeklagten sich diese Vorwürfe im Detail anhören müssen – Geschichte für Geschichte von 24 Menschen, die für viele, viele mehr stehen“. Kroker ist Syrienexperte des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, das seit Jahren mit syrischen Anwälten, Zeugen und Überlebenden zusammenarbeitet. Das Center hat seit 2016 mehrere Strafanzeigen wegen systematischer Folter in Syrien gestellt – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern.

Der Angeklagte Anwar R. Foto: Lohnes/reuters

Bislang blieben Kriegsverbrechen des syrischen Regime unbestraft. Wegen des russischen Vetos im Weltsicherheitsrat können sie weder vor den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag noch vor ein Sondertribunal gebracht werden. So bleibt derzeit nur die Verfolgung nach dem Völkerstrafrecht auf nationaler Ebene.

In Deutschland ist dies möglich, weil hier seit 2002 das sogenannte Weltrechtsprinzip im deutschen Völkerrechtsstrafgesetz verankert ist. Seitdem kann die Justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Die Verfahren gegen Anwar R. und seinen Mitangeklagten sind nicht die einzigen. Seit 2014 sind rund 20 Ermittlungsverfahren gegen ehemalige syrische Regimefunktionäre eingeleitet worden. Der prominenteste Fall ist Jamil Hassan, der ehemalige Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes, gegen den der Bundesgerichtshof 2018 einen internationalen Haftbefehl erlassen hat.

Die Nebenkläger Andreas Schulz, Rechtsanwalt, Khubaib-Ali Mohammed, Ferras Fayyad und Mohammad Alshaar (v.l. n.r.) sprechen nach dem Ende des Prozesstages mit Journalisten Foto: Thomas Frey/dpa

Anwar R. will kurz vor Weihnachten 2012 einen erstaunlichen Willenswandel vollzogen haben. Er setzte sich damals mit seiner Familie nach Jordanien ab und beriet dann den syrischen Widerstand. Im Sommer 2014 zog er nach Deutschland, beantragte Asyl und ließ sich im Norden Berlins nieder. Doch er fühlte sich verfolgt und ging zur Polizei. Den Beamten erzählte er, dass er sich vom syrischen und russischen Geheimdienst bedroht fühle und auch, dass er Teil des syrischen Systems gewesen sei. Der Generalbundesanwalt leitete Ermittlungen ein. Seit Februar vergangenen Jahres sitzt Anwar R. in Untersuchungshaft.

Zu seiner Schuld hat er sich bislang nicht bekannt. Sein Anwalt hat am Donnerstag angekündigt, dass R. eine schriftliche Erklärung abgeben will, nicht nur zu seiner Person, sondern auch zu den Vorwürfen. Möglicherweise schon in der kommenden Woche. Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt.