Spaniens politisches System in der Krise: Die Amigo-Regionen

Die Corona-Krise zeigt, wie schlecht Spaniens System der autonomen Regionen funktioniert: Statt eines echten Föderalismus blüht die Klientelpolitik.

Atemmaske auf einer Wäscheleine werden desinfiziert

Madrid: Ein lokales Freiwilligen-Netzwerk desinfiziert und verteilt provisorische Atemmasken Foto: Bernat Armangue/dpa

Die Coronakrise bringt alte Konflikte zu Tage. Spaniens dezentralisiertes Gesundheitssystem und damit die politische Dezentralisierung des Staates als solche stoßen – nach dem katalanischen Territorialkonflikt der letzten Jahre – erneut an ihre Grenzen. Doch anders als im Streit über die Unabhängigkeit Kataloniens zeigen sich aktuell Risse überall im Land.

Die 15 autonomen Regionen und zwei autonomen Städte, aus denen Spanien besteht und die seit 1986 per Gesetz die Zuständigkeit für die Gesundheitsversorgung innehaben, zeigen sich unsolidarisch. Jeder sucht Material, wie und wo er nur kann. Es gibt kaum Verlegungen von Patienten aus völlig überforderten Regionen in diejenigen, die von der Pandemie weniger betroffen sind.

Und einige Regionen, allen voran die seit Jahrzehnten konservativ regierte Region rund um die Hauptstadt Madrid unter Isabel Díaz Ayuso, nutzen die Krise, um Oppositionspolitik gegen die Linksregierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez zu betreiben und gleichzeitig von ihrer eigenen Schuld an der Schwächung des regionalen Gesundheitssystems durch Privatisierung, Sparpolitik und Korruption abzulenken.

„Fast Föderal“ oder „so dezentralisiert wie nur wenige andere Länder in Europa“ sind Definitionen, die spanische Politiker oft benutzen, wenn sie von der Ordnung reden, die sich das Land nach dem Tod von Diktator Francisco Franco 1975 gegeben hat. Die 17 neu geschaffenen autonomen Regionen bekamen nach und nach vom Zentralstaat wichtige Kompetenzen übertragen.

Schneller ging es für diejenigen, die sich als Nationen fühlten wie die Basken, die Katalanen oder die Galicier sowie die Andalusier; die anderen Regionen bekamen den Status mit einiger Verzögerung. Heute verwalten die autonomen Regionen unter anderem ihr eigenes Bildungssystem und eben auch das Gesundheitssystem. Basken und Katalanen verfügen zudem über eine eigene Polizei.

Mischung unterschiedlicher Staatskonzepte

Doch was auf den ersten Blick nach einem weitgehend föderalen Staat aussieht, ist es nicht. Ein Blick in die Verfassung genügt, um das festzustellen. Zum einen spricht die Magna Carta von der „unauflöslichen Einheit Spaniens“, während sie gleichzeitig „das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die in Spanien integriert sind, sowie die Solidarität unter ihnen“ garantiert. Die Verfassung von 1978 ist damit eine Mischung unterschiedlicher Staatskonzepte und der Kompromiss unterschiedlicher politischer Schulen; aus dem, was war – ein Zentralismus, der dem Frankreichs ähnelt –, und dem, was sein sollte, eine Art modifiziertes föderales System wie das in Deutschland. Und das Ganze – um es noch etwas komplizierter zu machen – unter dem Schirm einer Monarchie, die sich nie durch demokratische Toleranz ausgezeichnet hatte.

Am deutlichsten zeigen sich die Mängel der spanischen Dezentralisierung am Steuersystem. Mit Ausnahme des Baskenlandes und Navarra wird der Großteil der Abgaben zentral kassiert und dann von Madrid an die Regionen verteilt. Eine klare Verteilungsformel gibt es nicht. Stattdessen gibt es immer wieder Verhandlungen, um die Aufteilung zu reformieren. Diese erinnern nur allzu oft an das Schachern auf einem Basar, der politische Loyalitäten und Gefallen feilbietet. Und es sind nicht die Regionen, die untereinander verhandeln, wenn es um Solidarität der Reichen mit den Ärmeren geht. Es ist die Zentralregierung in Madrid, die durch Umverteilung für einen Ausgleich sorgen muss. Vorwürfe wie „Madrid bestiehlt uns“ sind dann die Folge.

Föderalismus ist das nicht. Denn echter Föderalismus kommt von unten. Die Länder geben dem Bund die Legitimität und nicht umgekehrt. Der Bund hat nur die Kompetenzen, die die Länder nicht ausdrücklich ausführen können oder wollen. Die Länder geben deshalb – wenn überhaupt – Kompetenzen an den Bund ab und nicht umgekehrt. Und: Die Länder nehmen einen Großteil der Steuern ein und bezahlen den Bund und nicht umgekehrt.

Hinzu kommt das Fehlen einer föderalen Kultur. Auf der Rechten bestimmten und bestimmen die Nostalgiker eines einheitlichen und großen Spaniens das Bild. Weite Teile der Linken waren, als der Staat der Autonomien entstand, vom Jakobinismus geprägt. Und die Nationalisten in den „historischen Nationen“ Baskenland, Galicien und Katalonien wollte erneut Sonderrechte, wie sie sie in der Republik der 1930er Jahre, die im Bürgerkrieg endete, erstritten hatten.

Kein echtes regionales Bewusstsein

Außerdem fehlt es in den nicht historisch gewachsenen autonomen Regionen weitgehend an einer parteiübegreifenden regionalen Identität. Während Basken und Katalanen ihr eigenes Land aufbauen, gibt sich so manche der neuen Regionalregierungen, ob links oder rechts, als Verteidiger des wahren, monolithischen Spaniens. Das bringt Stimmen.

Klientelwirtschaft macht fehlendes regionales Bewusstsein wett. Die beiden großen Parteien, die sozialistische PSOE und die konservative Partido Popular (PP), nutzen die regionale Macht nur allzu gern als Rückzugsgebiet, wenn sie in Madrid in die Opposition geraten. Gleichzeitig haben sie Gefallen an den Regionalverwaltungen gefunden. Denn mit ihrer Hilfe können sie ihre eigenen Eliten pflegen – je mehr Kompetenzen und je größer der Haushalt, umso größer ist der finanzielle Spielraum dafür. Oft endete dies mit weit verzweigten Korruptionsnetzwerken, wie etwa mit der PSOE in Andalusien oder der PP in Valencia und Madrid.

Wobei wir wieder beim Thema Coronavirus und Gesundheitssystem wären. In der Region Madrid haben die Konservativen privatisiert, wo es nur ging. Natürlich wurden dabei die eigenen „Amigos“ bevorteilt. Die Gesundheitsausgaben stiegen, da private Dienste teurer sind als öffentliche. Die Qualität des öffentlichen, für alle zugänglichen Gesundheitssystems nahm ab. Die Folge: Es gibt weniger Betten und weniger Personal. Die Partei soll im Privatisierungsprozess, so die Ermittler, Millionen aus dem Gesundheits- und auch aus dem Bildungssystem in die eigene Kasse umgeleitet haben.

Jetzt, wo die Krise zeigt, wohin diese neoliberale Politik geführt hat, macht nicht nur in Madrid die Regionalregierung die Zentralregierung für Material- und Ressourcenmangel verantwortlich. Was sie dabei verschweigen: Das spanische Gesundheitsministerium hatte vor der Ausrufung des Alarmzustandes Mitte März so gut wie keine Befugnisse. Alles lag bei den Regionen.

Sobald das Virus bezwungen ist, wird Spanien wohl kaum um eine Debatte über das Gesundheitssystem und um die Rolle der Regionen herumkommen. Dezentralisierung ist nicht dazu da, um unter Blitzlichtgewitter Brücken einzuweihen und Freunde zu bevorteilen, sie verlangt vielmehr nach Verantwortung in guten wie in schlechten Zeiten.

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Reiner Wandler wurde 1963 in Haueneberstein, einem Dorf, das heute zum heilen Weltstädtchen Baden-Baden gehört, geboren. Dort machte er während der Gymnasialzeit seine ersten Gehversuche im Journalismus als Redakteur einer alternativen Stadtzeitung, sowie als freier Autor verschiedener alternativen Publikationen. Nach dem Abitur zog es ihn in eine rauere aber auch ehrlichere Stadt, nach Mannheim. Hier machte er eine Lehre als Maschinenschlosser, bevor er ein Studium in Spanisch und Politikwissenschaften aufnahm. 1992 kam er mit einem Stipendium nach Madrid. Ein halbes Jahr später schickte er seinen ersten Korrespondentenbericht nach Berlin. 1996 weitete sich das Berichtsgebiet auf die Länder Nordafrikas sowie Richtung Portugal aus.

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