Historiker über Demokratie und Corona: „Rendezvous mit dem Polizeistaat“

Allzu bereitwillig geben die Deutschen gerade ihre Grundrechte auf, findet der Historiker René Schlott. Ein Gespräch über Freiheit und Corona.

PolizistInnen stehen in einem Park

Fängt so der Polizeistaat an? PolizistInnen in Stuttgart Foto: Sebastian Gollnow/dpa

taz: Herr Schlott, seit drei Wochen gelten umfangreiche Beschränkungen im öffentlichen Leben. Wird die offene Gesellschaft, um sie zu retten, erwürgt?

René Schlott: Diese Befürchtung habe ich tatsächlich! Alles, wirklich ausnahmslos alles steht derzeit unter dem Primat der epidemiologischen Kurve. Es gibt eine Einschränkung der Religionsfreiheit in Deutschland. Es finden an Ostern und Pessach keine Gottesdienste statt. Das ist, glaube ich, eine historische Situation, die wir noch nie hatten. Die Schulen sind geschlossen, das Recht auf Bildung für unsere Kinder wird zurzeit nur eingeschränkt verwirklicht. Hinzu kommt, dass es keine Versammlungsfreiheit mehr gibt. Alle Gruppen über drei Personen sind faktisch illegal. Das heißt, es gibt kein Demonstrationsrecht in Deutschland mehr. Das Asylrecht ist außer Kraft gesetzt, die Grenzen sind geschlossen.

Das sind massive Grundrechtseinschränkungen, die zwar zeitlich befristet sind, deren langfristige Wirkungen wir uns aber noch gar nicht ausmalen können. Überspitzt gesagt ist das Infektionsschutzgesetz derzeit eine Sicherheitslücke der Demokratie.

Versagen die demokratischen Reflexe der Zivilgesellschaft angesichts der Krise?

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn ich sehe, mit welcher Bereitwilligkeit die Bevölkerung die Ausgangssperre selbst gefordert hat. Wenn man den Umfragen trauen darf, dann waren das bis zu 80 Prozent. Da frage ich mich schon: Ist sich diese offene Gesellschaft selbst nichts mehr wert? Müssen wir für die Krise wirklich eine chinesische Lösung anstreben?

Hat unsere Gesellschaft nicht andere Möglichkeiten, einer Krise zu begegnen, als zum Beispiel die Spielplätze der Kinder mit Polizeiabsperrband zu versehen und zu schließen? Wir müssen viele demokratische Reflexe wiederbeleben und genau fragen: Verträgt sich diese Art von Krisenbewältigung tatsächlich mit unserer Art von Lebensweise, die offen und frei ist und zugleich solidarisch sein sollte?

Was ist der Hintergrund für diese Bereitschaft, eigene Freiheiten abzutreten? Ist es Angst?

Auch wenn man rationale wissenschaftliche Daten heranzieht, gibt es tatsächlich eine Angst, die auch zu einem irrationalen, zum Teil kopflosen Handeln führt. Es ist eine unsichere Basis, auf der wir gerade agieren. Ich möchte in dieser Zeit nicht Entscheidungsträger und Politiker sein: Sie müssen auf sehr unterschiedliche Erwartungen reagieren und stehen unter einem großen Druck – nicht nur vonseiten der Bevölkerung und der Gesundheitsbehörden, sondern auch vonseiten der Nachbarländer. Man sollte dennoch kühlen Kopf bewahren.

Die öffentliche Rhetorik klingt anders …

Es erschreckt mich, dass bei diesem unsichtbaren Feind, den keiner wirklich sehen kann, immer wieder Kriegsrhetorik bemüht wird. Macron sprach im Fernsehen vom Kriegszustand, Angela Merkel hat von „den Ärzten in vorderster Linie“ gesprochen. Das ist beängstigend.

ist Historiker und arbeitet am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Wenn man sich die Geschichte vergegenwärtigt, wurden Kriegszustände oft auch missbraucht, um autoritäre Strukturen durchzusetzen. Da sollten uns die derzeitigen politischen Entwicklungen in Israel, Polen und Ungarn eine große Warnung sein, auch nicht die kleinste Abweichung von unserem demokratischen Selbstverständnis hinzunehmen! Sie können unsere Gesellschaft sonst auf Dauer verändern und die Rückkehr zur Normalität, zu einem Status „quo ante Corona“ unmöglich machen.

Wozu führt die Reduktion sozialer Kontakte, während wir in Angstsituationen eigentlich Verbindung zueinander suchen?

Ich finde diese Aufforderung, soziale Kontakte einzustellen, ungefähr so sinnvoll, wie Fische zu bitten, doch bitte das Wasser zu verlassen – wenn auch nur auf Zeit. Denn der Mensch ist ein soziales Wesen. Es ist ja durchaus so, dass man auch an Einsamkeit sterben kann. Im Moment erleben wir ein gigantisches Experiment, das es in der Menschheitsgeschichte noch nie gab. Wohin das führt, kann ich nicht sagen.

Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es auf lange Zeit in unserer Gesellschaft keinen unschuldigen Handschlag und keine Umarmung mehr geben wird. All diese Alltagsgesten werden jetzt unter Verdacht gestellt. Das wird man nicht einfach wieder abschalten können, sondern es wird zu einem Misstrauen führen, das man auf Dauer gesät hat: m Nächsten eben nicht das kommunikative Individuum zu sehen, sondern den potenziellen Virenträger.

Parkbesucher und Wanderer bekommen jetzt teils Strafen, weil sie zu nah beieinander stehen. Geht das in Richtung einer Virokratie?

Nein, es ist ein Rendezvous mit dem Polizeistaat. Ich weiß, dieses Wort ist hoch problematisch. Aber nichts anderes kann ich erkennen, wenn Polizeihubschrauber über Berlin kreisen und Einsatzkräfte mit dem Zollstock durch Grünanlagen patrouillieren. Wenn nicht nur die deutschen Außengrenzen weitgehend abgeriegelt sind, sondern sogar innerhalb Deutschlands zwischen Bundesländern und Landkreisen Polizeikontrollen errichtet werden.

In Berlin wurde neulich ein privates Abendessen von vier Personen durch die Polizei aufgelöst. In Bayern ein Lagerfeuer von drei Jugendlichen. In Baden-Württemberg ein Mann zu Hause verhaftet, der im Internet zu einer friedlichen Demonstration aufgerufen hatte. Ich glaube, das hat jedes Maß überschritten. Deutschland hat sich vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verabschiedet.

Wie würden Sie solche Freiheitsbeschränkungen beschreiben, wenn es keine Coronakrise gäbe?

Dann müsste ich annehmen, dass die Rechtspopulisten in unserem Land die Macht übernommen haben. Es ist tatsächlich alarmierend, wenn wir jetzt sehen, wie nach und nach für eine höhere Sache nahezu alle Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt werden. Ich glaube, wir sind uns alle einig: Es muss Maßnahmen geben. Aber ich würde dazu raten, jetzt alle verfügbaren Ressourcen in das Gesundheitssystem zu stecken statt in rein symbolische Maßnahmen, wie das Schließen von Buchläden in 14 von 16 Bundesländern.

Sehnen wir uns gerade kollektiv nach dem starken Mann, der starken Frau?

Ja, ganz offensichtlich. Natürlich wäre es angenehm, wenn uns jetzt einer oder eine schnelle Lösungen bieten, kraftvoll voranschreiten und uns aus dem Tal der Tränen herausführen könnte. Diese Sehnsucht gibt es, wenn Sebastian Kurz in manchen deutschen Medien als „Knallhart-Kanzler“ gefeiert wird.

Es gibt ja auch jetzt eine große Sympathiewelle für Markus Söder, der die „Ausgangsbeschränkung“ als Erster verkündet. Während er dazu auffordert, zu Hause zu bleiben, möchte er zugleich, dass der Handel weiter funktioniert, die Bauarbeiter weiter bauen, die Krankenschwestern in den Krankenhäusern weiter arbeiten. Also verlangt man von den niedrigbezahlten Berufen – Müllmänner genauso wie andere Dienstleistungen –, sich weiter einer Gesundheitsgefahr auszusetzen.

Die ohnehin Privilegierten aber können weiter zu Hause bleiben, eine Ausgangssperre fordern und sich selbst „schützen“. Die sogenannte Kontaktsperre bringt mit Macht die soziale Spaltung wieder auf den Plan.

Was macht es mit Menschen, wenn sie in der Krise plötzlich einem Berufsverbot unterliegen?

Es irritiert uns alle, wenn unser Beruf plötzlich als systemrelevant oder nicht systemrelevant eingeordnet wird – auch so eine Bezeichnungen, die nicht einfach wieder abgeschaltet werden kann. Auch ich, als Historiker, werde im Moment für „systemirrelevant“ erklärt. Und allen Geisteswissenschaftlern wird eigentlich klargemacht: „Wenn es wirklich drauf ankommt, dann können wir auf euch verzichten.“ Und wir verzichten ja nicht nur auf Wissenschaft, sondern auch auf das komplette Kunst- und Kulturleben, auf Sport und so weiter.

Ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft in den kommenden Monaten, genau darauf zu achten, dass all diese Rechte wieder lebendig werden?

Ja, und ich bin froh, dass dieses Diskussion begonnen hat. Es wird deutlich, dass es jetzt auch in der Wirtschaft, der Politik, in Kunst und Kultur eine starke Bewegung gibt, die nach einer Exitstrategie fragt. Denn es hat niemand etwas gewonnen, wenn wir alle in einer Gesundheitsdiktatur leben müssen. Der Staat wird nie jedes Lebensrisiko für seine BürgerInnen beseitigen können. Das sollten wir wieder zu akzeptieren lernen. Wir sollten uns von der Idee der Vollkaskogesellschaft verabschieden.

Welches Potenzial sehen Sie in dieser kollektiven Erfahrung, durch die wir gerade gehen?

Es ist natürlich ein gutes Zeichen, dass es eigentlich jetzt keine Ausreden mehr gibt, denn wir haben erlebt, wie schnell tatsächlich alle Bereiche der Gesellschaft einem Ziel untergeordnet werden können. Eigentlich gibt es jetzt kein Argument mehr dagegen, nicht mit genauso drastischen Schritten dem Klimawandel zu begegnen.

Braucht es den Mut zum Widerspruch auch in der Krise?

Wir müssen vom verbliebenen Grundrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen! Diesen Mut sollten wir alle haben. Es zeugt vom Vertrauen, das wir dieser Gesellschaft geben, dass wir diese Dinge aussprechen können. Es kommt auf jeden Einzelnen von uns an, eine Demokratie zu leben und der Idee der offenen Gesellschaft niemals mit Gleichgültigkeit oder Fatalismus zu begegnen.

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