Schule während Coronakrise: Wenn nur noch WhatsApp weiterhilft

Eine Schule im sozialen Brennpunkt versucht, ihren Schülern mit Fernunterricht weiter nah zu bleiben. Das ist gar nicht so leicht.

Reinhard Staehling sitz auf einer Schaukel.

Der Direktor der Berg Fidel Schule in Münster: Reinhard Staehling Foto: Andreas Fechner/laif

BERLIN taz | Diese Woche bekam die Grundschullehrerin Ilka Pelke aus Münster eine Nachricht von einem ihrer Schüler. „Der Junge hatte mich über WhatsApp angeschrieben, er wollte weitere Aufgaben von mir“, erzählt Pelke am Telefon. Kein Problem, die Schule benutzt schließlich schon seit einiger Zeit eine Lernplattform, alle Schüler und alle Lehrer haben ein schuleigene E-Mail-Adresse. Pelke schickte dem Zehnjährigen die Aufgaben. So richtig klappte das aber nicht. Der Schüler: Er erhalte immer die Fehlermeldung „Kein Drucker gefunden“. Die Lehrerin: Habt ihr einen neuen Drucker? Der Schüler: Ich glaube, wir haben gar keinen.

„Bis wir an dem Punkt waren, haben wir garantiert schon 15 Minuten hin und her gechattet“, erzählt Pelke und lacht. „Dann haben wir ähnliche Aufgaben besprochen, die er mit dem Material bearbeiten konnte, das wir am letzten Schultag mitgegeben hatten.“

Die Schule heißt wie der Stadtteil: Berg Fidel. Berg Fidel, einst als Mustersiedlung am Reißbrett entworfen, gilt als sozialer Brennpunkt. In den Wohnblocks aus den 60ern und 70ern leben viele Familien, die arm sind, aber reich an Kindern, Romafamilien darunter und ehemalige Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in zweiter Generation.

Die Schule versucht soziale Nachteile seit vielen Jahren aufzufangen. Und das mit Erfolg: Als eine der erste Schulen in Münster begann sie, Kinder inklusiv und in jahrgangsgemischten Lerngruppen zu beschulen. Seit fünf Jahren können Kinder die ehemalige Grundschule auch bis zu Klasse 10 besuchen. Die einstige rot-grüne Landesregierung machte sie in einem Schulversuch zu einer von insgesamt fünf sogenannten Primus-Schulen.

Große Sorgen bei Experten

Schulleiter Reinhard Stähling leitet die Schule seit fast zwanzig Jahren. Die Schülerschaft beschreibt er als bunt gemischt, von sozial gut bis schlecht aufgestellt. 20 Prozent der Schüler an seiner Schule haben einen amtlich bescheinigten Förderbedarf, die meisten von ihnen in den Bereichen Lernen, Verhalten und Sprache. Das sei typisch für eine Schule im sozialen Brennpunkt. „Diese Schüler sind darauf angewiesen, sozial und emotional aufgefangen zu werden, viele brauchen den täglichen Kontakt zur Schule“, sagt Stähling.

Doch seit fast zwei Wochen ist die Berg-Fidel-Schule wie alle Schulen bundesweit geschlossen. Um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, müssen die Kinder zu Hause bleiben, genauso wie ihre Eltern. Homeschooling ist angesagt. Für manche Kinder heißt das, dass sie sich mit Laptop und Kopfhörern in ihr Zimmer verkriechen, für andere, dass sie die enge Wohnung den ganzen Tag mit Eltern und Geschwistern teilen. Sozialarbeiter und Pädagogen haben davor gewarnt, dass Gewalt in Familien zunehmen und das Lernen schwieriger würde.

1,5 Millionen der über 8 Millionen SchülerInnen in Deutschland erhalten Leistungen des Staates. Der Verband Bildung und Erziehung sieht sogar jedes vierte Schulkind von Armut und Ausgrenzung bedroht. „Wir machen uns große Sorgen. Die Schulschließungen verstärken bestehende Notlagen“, so der Vorsitzende Udo Beckmann auf der Verbandswebseite.

Die Berg-Fidel-Schule versucht den Kontakt zu ihren SchülerInnen auch in Zeiten geschlossener Schulen zu halten. Das ist nicht leicht. In der ersten Woche hatten die Lehrer noch zu 80 der 550 Schüler keinen Kontakt. Ende der zweiten Woche sind es nur noch 30 Kinder, die weder auf E-Mails geantwortet noch Arbeitsblätter von der Schulplattform abgerufen oder Ergebnisse eingesandt haben.

„Manchmal rufen wir die Cousine an“

„Das ist immer noch eine riesengroße Zahl“, sagt Stähling. Warum es so schwer ist, diese Schüler zu erreichen? Die Eltern dieser Kinder sprächen oft kaum Deutsch, in den Wohnungen fehle es an WLAN und Computern, erläutert Stähling. Aber er ist zuversichtlich: Die Lehrer und Sozialpädagogen seien dran und wüssten genau, welche Familien auf der Kontaktliste noch nicht abgehakt seien.

Christian Möwes ist Sonderpädagoge an der Schule und didaktischer Leiter. Seitdem die Schule zu ist, habe man über viele Kanäle Kontakt mit den Familien aufgenommen, in denen es vorher schon Spannungen gab. „Manchmal rufen wir auch die Cousine an und bitten sie, mal rüber in die Wohnung des Schülers zu gehen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist.“ Die Rückmeldungen nach über einer Woche seien erst mal positiv, es habe keinen Fall von häuslicher Gewalt gegeben.

Keiner da: SchülerInnen müssen in ganz Deutschland zuhause bleiben Foto: Sebastian Kahnert/dpa

Da die Schüler der Berg-Fidel-Schule seit der ersten Klasse das selbstständige Lernen lernten, sei die Umstellung für die meisten nicht so groß, sagt Möwes. Sie wüssten, wie man sich Ziele setzt und an Wochenplänen arbeitet. Doch für die schwächsten Schüler gehe es derzeit eher nicht um Lernen und Unterricht: „Da betreuen wir die Familien.“

Möwes berichtet von Familien, die zu sechst, siebt oder acht in zwei kleinen Zimmern auf 40 Quadratmetern zusammenleben. „Das Lernen ist dort schon in normalen Zeiten nicht möglich. Deshalb sind wir ja eine gebundene Ganztagsschule, hier ist der Lernraum für alle Schüler von morgens bis nachmittags um vier.“ Dieser Lernraum bricht für einige SchülerInnen nun völlig weg, auch Bibliotheken und Jugendzentren sind als Ausweichmöglichkeiten versperrt. „Die Chancen zwischen denen, die von Haus aus gute und denen, die schlechte Chancen haben, gehen gerade auseinander“, sagt Möwes.

Kommunikation über Gamer-Chat

Auch der Schüler von Ilka Pelke lebt mit seiner Familie in einer kleinen Sozialwohnung, seine Geschwister sind lernbehindert, die Eltern wenig gebildet. „Aber E. ist clever“, sagt Pelke. Sie hat mit ihm vereinbart, dass er seine ausgefüllten Blätter abfotografiert und an sie schickt. Sie schickt ihm dann eine Rückmeldung aufs Handy, per WhatsApp. Dass Lehrer mit ihren Schülern per WhatsApp chatten, war vor Corona verboten. Jetzt ist es eine Möglichkeit, den Kontakt zu halten und Kindern weiterhin einen virtuellen Klassenraum zu bieten.

Pelke erzählt, sie sei jeden Tag von 8 Uhr morgens bis 9 Uhr abends für die Schüler erreichbar. Die Zeiten hätten sich verschoben. Selbst am Wochenende beantworte sie die eine oder andere Frage. Sie erzählt, dass viele ihrer Schüler auch unter erschwerten Bedingungen fleißig arbeiteten, etwa zu dritt in einem Zimmer. Aber natürlich gebe es auch SchülerInnen, gerade in der Grundschule, die kein Handy besäßen, wo zu Hause kein Computer stehe. „Die fallen dann raus, wenn man keine Alternative bietet.“

Alternative Wege betritt auch gerade Angela Nagel. Sie ist die Klassenlehrerin des zehnten Jahrgangs, unterrichtet die ersten Jugendlichen, die an der Berg-Fidel-Schule den 10.-Klasse-Abschluss machen werden. Die Prüfungen sind verschoben. Doch ist es überhaupt möglich, SchülerInnen per Fernunterricht darauf vorzubereiten? Nagel ist optimistisch. „Es ist bemerkenswert, wie motiviert und konzentriert die Schüler antreten.“

Bis auf eine Handvoll hätten alle ihre SchülerInnen ein Handy. Als sich andeutete, dass die Schulen schließen würden, haben sie selbst vorgeschlagen, einen Chatraum einzurichten. Und zwar über Discord, einen Onlinedienst, der bisher vor allem von Gamern genutzt wurde, um sich während des Computerspielens auszutauschen.

Auch die LehrerInnen lernen

Und nun eben auch von Lehrern. Zusammen haben Nagel und die SchülerInnen einen Stundenplan entwickelt, zwei- bis dreimal pro Woche gibt Nagel Unterricht und teilt in Videokonferenzen ihren Laptopbildschirm. Die SchülerInnen haben Lerngruppen gebildet und eigene Chaträume eingerichtet, die Nagel betreten kann. „Nicht nur meine Schüler lernen, auch ich lerne gerade dazu“, sagt Nagel. „Wir entwickeln das gemeinsam weiter und werden immer besser.“ Die meisten Schüler hätten sie sogar gebeten, in den Ferien weiterzumachen: Sie freuten sich auf jede Stunde und auf die sozialen Kontakte.

An der Berg-Fidel-Schule ist die enge Beziehung zwischen Leh­re­rInnen, SchülerInnen und Eltern anders als an vielen anderen Schulen eingeübt. Trotzdem rechnet Schulleiter Stähling damit, dass SchülerInnen rausfallen werden. „Sie haben es dann, wenn die Schulen irgendwann wieder öffnen, doppelt schwer.“ Er appelliert daher an die Politik, jetzt auch darüber nachzudenken, wie SchülerInnen, die in armen Verhältnissen leben, durch die Digitalisierung des Unterrichts nicht noch stärker abgehängt werden. Laptops, die den Schulen schnell zum Ausleihen an Kinder zur Verfügung gestellt würden, seien eine Möglichkeit.

Bund und Länder wollen dagegen erst mal 100 Millionen Euro aus dem Digitalpakt für Lernsoftware zur Verfügungen stellen. Doch die hilft dann vor allem jenen Kindern, die zu Hause alles haben: Laptop, WLAN und eine Raum zum Lernen.

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