Zweifel an den Corona-Regeln: Patriotenblues

Hinter all den Entbehrungen steckt irgendein statistisches Ziel. Zweifel an der staatlichen Fürsorge kommen auf.

Ein Hubschrauber vor blauem Himmel

Dass die Abstandsregeln auch brav eingehalten werden Foto: dpa

Das Radio lief immer in der Küche kurz vor Mitternacht. Wenn die Nationalhymne erklang, instrumental, sang ich mit. Den korrekten Text, natürlich. Ob ich in der Republik der Einzige war? Das habe ich mich manchmal gefragt. Jetzt ist Schluss damit – „Einigkeit und Recht und Freiheit“ –, um drei Minuten vor zwölf schalte ich ab und erst zu den Nachrichten wieder an. Ich habe aufgehört, Patriot zu sein.

Die Regierung in Berlin hat keinen Ausnahmezustand ausgerufen, aber faktisch ist er da. Anfangs habe ich geglaubt, die Absicht wäre, Bürger unseres Landes davor zu bewahren, sich mit „dem neuen Virus“ anzustecken. Ich hatte schon die Situation in Wuhan verfolgt und wusste, dass nicht der Grad der Tödlichkeit das Spezifische sein würde, sondern die Geschwindigkeit der Ansteckung. Anfang März wurde das Bussi-Bussi komplett eingestellt. Seit Mitte des Monats habe ich kein Geschäft und auch den Wochenmarkt nicht mehr betreten, ohne einen Seidenschal doppelt über Mund und Nase zu legen und von hinten festzuknoten.

In der zweiten Monatshälfte dämmerte mir, dass das Ziel jener Maßnahmen, die bereits in Kraft waren („… bis zu fünf Personen …“), nicht war, die Ansteckung zu vermeiden, ein direktes; sondern ein indirektes, nämlich zu verhindern, dass „unser Gesundheitssystem zusammenbrechen“ würde.

Plötzlich war das Wort „Betten“ im Umlauf. Die große Angst führender Politiker waren ita­lie­nische Verhältnisse, eine Situation, in der Ärzte zu entscheiden haben über Leben und Tod. Das heißt: Alles, was beschlossen wurde, den Bürgern aufzuerlegen, dient einem indirekten Ziel. Wenn die Ansteckungsrate gering steigt oder bereits stagniert, wird dies nicht als Erfolg gewertet, sondern als Ermunterung, den Stillstand zu verlängern.

Ich höre von hochbezahlten Ärzten, die im Klinikum in freigeräumten Abteilungen Däumchen drehen. Mir wird klar, dass die drastische Reduzierung von Krankenhäusern in den letzten sechzig Jahren und, nun ja, „Betten“, Teil einer wirtschaftsliberalen Politik gewesen ist. Ich lese, dass die Krankenhäuser sich mit den notwendigen Schutzausrüstungen – billigem Zeugs, letztlich – nicht hätten ausstatten sollen, sondern müssen. Haben sie aber nicht.

Sind wir nicht mehr in ganz Deutschland krankenversichert? Kann nicht ein Hamburger Krankenhaus einem in Lübeck aushelfen?

Das heißt, hinter all den Entbehrungen politischer, sozialer, sportlicher und kultureller Art zum einen, der drastischen Abkehr vom staatlichen Sparen in die Höllenfahrt eines geplünderten Haushalts zum anderen steckt irgendein statistisches Ziel, irgendein errechnetes Ausbleiben eines humanitären Katastrophenfalls. Von dem ich nicht weiß, ob er nicht doch noch eintreten wird. Und genauso wenig, ob das Virus den Peak seiner Verbreitung überhaupt erreichen kann, so dass der Ruin des Staatshaushalts quasi programmiert ist.

Dass es Städte mit sprunghafter Verbreitung des Virus gegeben hat und gibt, wie Wuhan und Bergamo, ist offensichtlich, weshalb es der internationalen Gemeinschaft gut angestanden hätte, dort aktiv Hilfe zu leisten und gleichzeitig genaue Informationen einzuholen.

Stattdessen wurde die Weltlandkarte heruntergebrochen in Nationen, die deutsche Landschaft in Länder, und in diesen Ländern denken sich irgendwelche Kommunen irgendwelche Maßnahmen aus. Aber nicht, weil sie schwer betroffen wären. Ein verwerfliches Beispiel lieferte mein Heimatland Schleswig-Holstein, das Hamburgern verboten hat, sich in ihre Häuser und Wohnungen auf Sylt und in Scharbeutz zurückzuziehen, mit dem Argument, bei einem massenhaften Ausbruch der Krankheit reiche die Intensivmedizin des Bundeslandes nur für seine Bewohner mit Erstwohnsitz aus.

Rache der Landeier an den Städtern

Was nichts anderes ist als eine Rache der Landeier an den Städtern, der Dienstleister an ihren Kunden, der Steuerkassierer an ihren Steuerzahlern. Joh, joh, moin, moin. Sind wir nicht mehr in ganz Deutschland krankenversichert? Kann nicht, wenn nötig, ein Hamburger Krankenhaus einem in Lübeck aushelfen? Ist es nicht sogar dringend geboten, die Metropolen zu entlasten? Ist nicht der Zweitwohnsitz mit Meeresbrise das logische Ziel einer freiwilligen Isolierung?

Überall hängen die Kinderzeichnungen mit ihrem läppischen „Bleibt gesund!“, während die Citoyens dieses Landes gleichzeitig ihre Solidarität mit den „anderen“ aufkündigen. Mit der Schließung der Grenzen hat es begonnen, begleitet von Merkels Stichwort der „Familie“. Einerseits wird postuliert, am besten bleibe im Moment jeder dort, wo er oder sie gerade sei, andererseits werden Austauschschüler, Winterurlauber und Kreuzfahrer aus aller Welt in vollbesetzten Flugzeugen nach Deutschland zurückgeflogen.

Ich sehe sie im Landeanflug von meinem Frankfurter Schreibtisch aus. Der Bundesregierung fiel zu spät ein, dass es außer Familien auch Wohngemeinschaften gibt, und die offizielle Website hat es abmoderiert auf „Angehörige desselben Hausstands“. Was Paare in der Öffentlichkeit betrifft, war eine Weile zu lesen, sie müssten „verwandt“ sein. Warum hat man in der Eile nicht verstanden, dass Eheleute nicht miteinander verwandt sind?

Repatriierung von Deutschen

Was bedeutet die rücksichtslose und massenweise Repatriierung von Deutschen und deren Einsperrung in „ihrer Familie“? Sind wir durch die Maßnahmen der letzten drei Wochen sicherer geworden? Ist für das Virus die deutsche Familie das, was für den Vampir der Knoblauch ist?

Bis heute haben die Regierungen auf allen Ebenen und deren Verwaltungen sich nicht entscheiden können, ob sie für das Mitmachen werben wollen oder den Bürgern drohen. Sie tun beides. Uns wird ganz dringend geraten, dies und jenes zu lassen, und falls doch, kommt die Polizei. Diese wird „beim ersten Mal“ nur einen Hinweis geben. Aber was tut sie beim zweiten Mal? In Berlin darf man einen Buchladen offen halten; in Hessen durfte der Buchhändler wochenlang die Bücher nicht einmal einzeln zur Tür herausreichen, aber durchaus einen Boten in mein Treppenhaus schicken. Wo endet die Für- und Vorsorge, und wo beginnt die Willkür?

Das Ziel ist eben indirekt. Jeder behauptet, was er will. Orbán errichtet eine Diktatur; Schleswig-Holstein igelt sich ein; Familien, die sich vermisst haben, werden zusammengeführt. Dass Mund-und-Nasen-Masken nichts bringen, wird solange wiederholt werden, bis China 80 Millionen davon pro Tag nach Deutschland liefern kann. Ab dann werden sie mit Sicherheit völlig unverzichtbar sein.

Wie wäre es mit einer Demo gegen Staatshybris? Aber nein, das Demonstrieren ist ja verboten. Es herrscht Schulpflicht, aber man darf nicht zur Schule gehen. In Altenheimen weinen Menschen, weil sie nicht verstehen, wieso sie keinen Besuch mehr bekommen. Polizisten zwingen Autofahrer, ihre Fenster herunterzulassen, um sich für ihr Kennzeichen zu rechtfertigen. In Hessen nimmt sich ein Minister das Leben, und schon am nächsten Tag hören wir von höchster Stelle, er habe den Druck der Coronakrise nicht ausgehalten.

Ursache und Wirkung werden vertauscht, Appell und Drohung amalgamiert. Begeistert winken entrechtete Bürger ihren grandiosen Entscheidungsträgern zu, weil sie in deren hektischem Gebaren die eigene Angst wiedererkennen. „Ich möchte daran wirklich nicht sterben“ ist nahezu synonym mit: „Mir ist die Demokratie zurzeit völlig egal.“ Um Ungarn werde man sich kümmern, höre ich aus Brüssel, im Moment gebe es Wichtigeres zu tun.

Übrigens … Ich möchte auch nicht daran sterben. Ich weiß auch, wie man sich die Hände wäscht. Ich stelle nur um drei Minuten vor Mitternacht den Deutschlandfunk ab, weil ich keine Lust mehr habe mitzusingen.

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lebt in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien bei Suhrkamp „Die Erfindung des Westens. Eine deutsche Geschichte mit Will McBride“.

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