Das Haus Linienstraße 206 in Berlin-Mitte von außen fotografiert

Eine Art Denkmal für die linke Szene: das Haus Linienstraße 206 heute Foto: Stefan Boness/Ipon

30 Jahre Hausbesetzungen in Ostberlin:Der Sommer der Anarchie

Vor 30 Jahren wurden erste Häuser in Ostberlin besetzt – auch die Linienstraße 206, eine Art Denkmal für die linke Szene. Ex-BesetzerInnen erzählen.

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11.4.2020, 15:07  Uhr

Es war ein Tischler namens Springer, mit dem alles begonnen hat. 1826 ließ er an der Einmündung der ehemaligen „Todtengasse“ in die Linienstraße ein Mietshaus errichten. Vier Geschosse hatte es und eine bauhistorisch wertvolle „hölzerne Treppenanlage um ein nahezu quadratisches Treppenauge“. So steht es in der Denkmalliste des Landes Berlin.

Eine Art Denkmal ist die Linienstraße 206 auch für die linke Szene. Kurz nach dem 1. Mai 1990 wurde das Haus an der Ecke Kleine Rosenthaler Straße, wie die Todtengasse inzwischen heißt, besetzt. Die bemalten Fassaden sind noch heute zu sehen, ein irritierender Kontrast zur durchgestylten Spandauer Vorstadt in Mitte. Und eine Aufforderung, sich noch einmal zu erinnern an eine Zeit, in der in Ostberlin (fast) alles möglich war.

Der lange Sommer der Anarchie begann eigentlich schon im Winter. Am 22. Dezember 1989 hängten die Bewohnerinnen und Bewohner der Schönhauser Allee 20 in Prenzlauer Berg Transparente aus ihren Fenstern – und machten ihre bis dahin stille Besetzung öffentlich. Es war ein Signal an andere, es ihnen gleichzutun. Bis zum Februar 1990 zählte der Telegraph, die Zeitschrift der linken DDR-Opposition, 20 besetzte Häuser. Die meisten von ihnen befanden sich in Prenzlauer Berg. In Friedrichshain waren zu diesem Zeitpunkt nur zwei Häuser besetzt, in Mitte sogar nur eines. Es war die Köpenicker Straße 137, die der Telegraph eine „Ost-West-Besetzung“ nannte. Eine zweite gemischte Besetzung gab es in der Kastanienallee 85/86.

Erstmals beteiligten sich damit auch Leute aus Westberlin an den Besetzungen. „Diese Westbesetzer legten auch noch bedachte Zurückhaltung an den Tag“, lobte der Telegraph in einem Beitrag von 1995. „Sie zollten dem Umstand Rechnung, dass sie in einem fremden Land mit ihnen völlig fremden Verhaltensweisen eine kleine Minderheit waren.“

„Bevor es zu spät ist“

Doch bald wurde aus der Minderheit eine Mehrheit, und daran war die Oppositionszeitschrift, die aus dem Umweltblättern hervorgegangen ist, nicht ganz unschuldig. Im April verfasste der Telegraph einen Aufruf an „Frauen und Männer aus Ost und West, sich diese Häuser zu nehmen, bevor es zu spät ist“.

„Diese Häuser“, das waren vor allem Gründerzeithäuser in Friedrichshain, darunter auch in der Mainzer Straße und der Rigaer Straße, die statt der Kommunalen Wohnungsverwaltung eine Tochter der „Neuen Heimat“ sanieren und bewirtschaften sollte. Der Aufruf erschien auch im Westberliner Szeneblatt Interim.

Nach dem Aufruf machten sich auch eine Gruppe von Studierenden des Otto-Suhr-Instituts, der Geschichtswerkstatt Lichtenrade und anderen Leuten, die sie kannten, auf die Suche. Und fanden schließlich das Haus des ehemaligen Tischlers namens Springer. Am 5. Mai 1990 wurde die Linienstraße 206 besetzt. Sehr zum Missfallen einer Ostberliner Genossenschaft, die das Haus in der Spandauer Vorstadt vor dem Abriss gerettet hat und selbst nutzen wollte.

Anfang Mai waren in Ost-Berlin bereits 50 Häuser besetzt. Bis August stieg die Zahl auf 120. Die Hoffnung des Telegraph, dass es wie in der „Köpi“ und der Kastanienallee zu weiteren „Ost-West-Besetzungen“ kommen würde, erfüllte sich freilich nicht. „Die Massenbesetzungen wurden fast ausschließlich von Westberlinern vollzogen“, hieß es bald im Telegraph. „Durch diesen Umstand kippte das Verhältnis Ost-West völlig in Richtung Westbesetzer.“

Schock für die Besetzerbewegung

Auch die „Linie“ war ein reines Westhaus. Doch ihre Bewohnerinnen und Bewohner gingen ein Experiment ein. Zusammen mit der Lottumstraße 10A, einem reinen Osthaus, gründete sie einem gemeinsamen Verein namens „Flotte Lotte – flinke Linke“. Bald unternahmen die Besetzer aus beiden Häusern gemeinsame Ausflüge ins Umland und an die Ostsee. Bis heute ist dieser Ost-West-Kontakt der beiden „Schwesterhäuser“ geblieben.

Als im November 1990 die Mainzer Straße geräumt wurde, bekam die Linienstraße neue Bewohner. Sie nahm junge Antifas der „Jugendfront“ auf, die zuvor in der Mainzer gelebt hatten. Fortan war in der „Linie“ scherzhaft von den „Kleinen“ und den „Erwachsenen“ die Rede.

Die Räumung war ein Schock für die Ostberliner Besetzerbewegung. Der „B-Rat“ der Besetzerinnen und Besetzer war zu diesem Zeitpunkt längst gescheitert, unter anderem am Ost-West-Konflikt. In Prenzlauer Berg verhandelte ein runder Tisch über Verträge mit den Wohnungsbaugesellschaften. Andere Häuser in anderen Bezirken versuchten ebenfalls zu retten, was zu retten ist.

Auch die Linienstraße 206 bekam 1991 Verträge. Die bewahrten die Bewohnerinnen und Bewohner im Mai 2016 aber nicht vor einer Teilräumung. Für eine Wohnung und einen Gemeinschaftsraum hatten die Eigentümer, zwei Berliner Geschäftsleute, einen Räumungstitel erwirkt. Danach war die Linienstraße in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Inzwischen aber haben sie neue Bewohner wieder zum Leben erweckt. Hinter der bröckeligen Fassade rumort es also wieder. Auch neue Kontakte in die Nachbarschaft wurden geknüpft, heißt es von den Besetzerinnen und Besetzern. Fast klingt es, als ließe sich die Zeit noch einmal zurückdrehen.

Das Haus Linenstraße 206 zu DDR-Zeiten von außen – vor also 30 Jahren

Vor dreißig Jahren in Ostberlin besetzt: die Linienstraße 206 Foto: Archiv Linienstraße 206

Das Klassentreffen
Dreißig Jahre nach der Besetzung der Linienstraße 206 erinnern sich zehn Besetzerinnen und Besetzer an die Zeit, in der alles möglich war, an die ersten Ost-West-Beziehungen und an ihr Leben nach dem Besetzen
Wie sich die Gruppe findet

Michl: Als ich das Haus zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, ob das überhaupt bewohnbar ist. Der erste Eindruck war der einer Ruine. Ich bin damals mit der Kamera durchs Haus und habe von jedem Raum aus verschiedenen Perspektiven ein Foto gemacht, um das zu dokumentieren. Hätte ja sein können, dass uns später jemand den Vorwurf macht, wir hätten das kaputtgemacht.

Nico: Bei den Vorbereitungstreffen zur 1.-Mai-Demo 1990 habe ich Rüdi kennengelernt. Wir waren eine große Gruppe und wollten zusammenwohnen. Mit Rüdi bin ich mit dem Motorrad rumgefahren, wir haben uns gesagt: Vielleicht finden wir ja ein Haus. Dann sind wir an der Linie vorbeigekommen, und das Haus war auf. Rüdi und ich sind dann rein und haben geguckt. Wow, super. Das ist es.

Rüdiger: Als Nico und ich reingingen, staunten wir, dass es besenrein war. Wir haben uns gefragt, warum das so ist. Später haben wir erfahren, dass sich da schon eine Genossenschaft drum gekümmert hat, die das Haus vor dem Abriss gerettet hat. Die hatten die Sprengung verhindert, haben die Sprenglöcher zugeschmiert und auch ein Schloss rangemacht, was bei uns aber nicht mehr da war. Später gab es mit der Genossenschaft eine Ausein­andersetzung. Die wollten das Haus wieder zurück haben. Da haben sich auch Vermittler aus der Besetzerszene und der Politik eingeschaltet. Das Ende vom Lied war dann, dass die Genossenschaft zugestimmt hat, dass wir da bleiben.

Nico: Als wir gesehen haben, dass das Schloss offen war, haben wir ganz schnell ein Treffen im Mehringhof gemacht. Da haben wir beschlossen, am nächsten Tag gesammelt reinzugehen. Das war dann am 5. Mai 1990.

Nico ist nach wie vor im Anti­gewaltbereich tätig Foto: Archiv Linienstraße 206

Rüdiger: Ich war 26. Die Gruppe, die das Haus besetzt hat, ist über Jahre hinweg über bestimmte Kleingruppen entstanden. Es war klar, dass wir zusammenwohnen wollten. Gleichzeitig gab es Diskussionen darüber, ob es legitim ist, in Ostberlin Häuser zu besetzen.

Sönke: Ich war auch 26 und wohnte mit Rüdiger in einer WG. Es war also keine unmittelbare Wohnungsnot, aus der heraus wir besetzt haben. Eher war es so, dass Teile der Westberliner Szene nach Ostberlin in dieses Vakuum ausgewichen sind und es nach und nach gefüllt haben. Ich gehörte zu einer Gruppe aus Lichtenrade, die dort bei der Geschichtswerkstatt aktiv war. Viele andere kamen vom Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin.

Markus: Ich war damals 24 und habe am OSI studiert. Von der Uni kannte ich Sönke und Rüdi, die andern habe ich erst später kennengelernt.

Michl: Ich war damals 25 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe, die schon gegen den Internationalen Währungsfonds 1988 demonstriert hat und dann zur Besetzergruppe dazugestoßen ist. Wir waren eine Bezugsgruppe und wollten irgendwann auch zusammenwohnen. Das war in Westberlin nicht möglich. Also sind wir in den Osten.

Nico: Ich bin über meine damalige Frauengruppe zur 1.-Mai-Vorbereitung gestoßen. Da trafen wir auch Rüdi, Sönke und die anderen.

Sonja: Ich war über den Winter gar nicht in Berlin, und als ich im April in meine WG zurückkam, steckten sie schon voll in den Vorbereitungen. Mir war sofort klar, da mache ich mit.

David: Ich bin übers OSI gekommen, das war eine Woche nach der Besetzung. Zwei meiner Freunde, die schon im Haus waren, meinten, dass da der akademische Flügel gestärkt werden muss. (lacht)

Sonja: Weil der proletarische Flügel schon so stark war?

David: Wie auch immer. Auf jeden Fall bin ich eine Woche nach der Besetzung dahin geworben worden. Als ich da aufgeschlagen bin, fand ich es aber sofort sympathisch.

Sonja: Und viele kannten sich über Nicaragua. Das waren ganz unterschiedliche politische Zusammenhänge.

Oliver: Ich bin später dazugekommen. Ich gehörte auch zu denen, die aus dem OSI zur Gruppe stießen. Ich war 25 und habe in einer Apotheke als Bote gejobbt. Als es dann hieß, es ginge um die Linienstraße 206, kannte ich das Haus schon von einer Party. Es war charmant und aufregend.

Oliver Schmidt berät soziale Start-ups an der FU Berlin Foto: Archiv Linienstraße 206

Norbert: Ich war 25 und bin damals über einen Freund in die Linienstraße gekommen. Im Haus habe ich noch zwei, drei andere Leute getroffen, die ich schon kannte, und Michl meinte einfach: Wenn’s dir gefällt, dann bleib doch hier. Ich musste da gar nichts entscheiden. Mir war sofort klar: Das ist es.

Pari: Ich gehöre zu denen, die im November 1990 in der Mainzer Straße geräumt wurden. Nachdem ich dann einen Monat woanders gewohnt habe, meinten welche aus der Linienstraße, die ich kannte, dass ein paar von uns auch dorthin ziehen könnten. So sind welche von uns in die Rigaer Straße gegangen und ein paar in die Linie. Ich war 21.

Oliver: Nach der Räumung der Mainzer Straße zogen Leute von der Antifa-Jugendfront ein, die damals gefühlt ziemlich viel jünger waren. Heute würde ich sagen, die sind so alt wie wir, aber damals lagen ein paar Jahre dazwischen. Da war es schon ein Unterschied, ob du 25 bist oder 20. Eine war sogar erst 16. Da gab es Konflikte, zum Beispiel wie wir Ordnung halten. Für die waren wir die Erwachsenen, wir haben sie scherzhaft immer die Kinder genannt. Da ging es auch darum, wer das Sagen hat. Für die waren wir Spießer.

Pari: Eine Gruppe in der Gruppe waren wir aber nicht. Ich selbst habe mich gleich mit den Frauen in der Linie gut verstanden. Mit der Zeit hab ich mich denen sogar fast näher gefühlt. Insgesamt kam mir die Linie etwas reifer vor, auch organisierter, in der Mainzer war alles chaotischer. In der Linie haben mich die Solidarität und diese Kultur des Miteinanders fasziniert. Ich habe es als liebevoll empfunden.

Ein 30 Jahre altes Foto zeigt einen Blick in die Gemeinschaftsküche der Linienstraße 206

Aus dem Innenleben der besetzten Linien­straße 206: In der Gemein­schaftsküche Foto: Archiv Linienstraße 206

Ein Haus erwacht zum Leben

Rüdiger: Das Haus hatte einen unglaublichen Charme. Ich hab mich gleich in die Linie verliebt.

Oliver: Das Haus war magisch. Wenn du an den Putz geklopft hast, kam der runter, und dahinter waren Strohmatten. Die waren an Holzwände getackert. Da bekam man eine Vorstellung davon, wie Menschen früher gelebt haben, dabei war es kein Armenhaus.

Pari: Die Linie war etwas ganz Besonderes. Ich musste es erst mal kapieren mit den beiden Treppenhäusern.

Oliver: Keiner von uns war Experte im Bauen, aber viele haben sich die Expertise dann angeeignet. Einer hat mit echtem Lehmputz seine Wand noch mal neu gemacht. Eine andere war plötzlich Expertin darin, Kachelöfen zu reparieren. Mit unseren bescheidenen Kenntnissen und Mitteln haben wir versucht, das Haus zu bewahren. Es war ein besonderes Haus.

Michl: Es wäre überhaupt nicht bewohnbar geworden, wenn wir da nicht viel Arbeit reingesteckt hätten. Die Fenster sind alle neu, das Heizungssystem ist erneuert, das Stromnetz wurde teilweise erneuert, die Wasserleitungen, Bäder wurden eingebaut.

Michael (Michl) Mohr ist Museums­pädagoge beim Mitte Museum Foto: Archiv Linienstraße 206

Oliver: Als ich einzog, habe ich mir mit David oben jeweils eine Hängematte in ein Zimmer gehängt. Wir haben uns um Musik gekümmert, und dann haben wir da gewohnt. Wir haben oft die Zimmer und die Wohnzusammenhänge gewechselt. Dann kam der Zeitpunkt, wo ich gesagt habe, ich kündige meine Wohnung in Kreuzberg. Das war so ein Gefühl, Brücken abzubrechen und ins Ungewisse zu gehen. Das wenige, was ich hatte, brachte ich in Kellern von Freunden oder nahm es in die Linienstraße mit. Damit war klar: Ich wohne jetzt dort.

Markus: Ich war schon vorher bei den Plena dabei, aber nach der Besetzung bin ich immer noch zwischen der Linie und meiner alten Wohnung gependelt. Erst im September 1990 bin ich richtig eingezogen. Damals war schon einiges gemacht im Haus. Auch die Öfen. Man konnte sich in den Zimmern aufhalten.

Das tägliche Brot

Michl: Ich hab eine Drogistenausbildung gehabt, also eine kaufmännische Ausbildung, und hab auch als Drogist gearbeitet. Dann wurde ich aber arbeitslos. In dieser Zeit habe ich Entwicklungshilfeprojekte gemacht. In Nicaragua und El Salvador. Da haben wir ein Wasserleitungssystem gebaut. Pari war auch dabei.

Pari: Ich hatte zuvor an der Humboldt angefangen zu studieren, Spanisch und Persisch. Auch während der Zeit in der Linienstraße habe ich weiterstudiert. Irgendwie brauchte ich das. Es war für mich zwar ein wichtiger Teil, drin zu sein, aber auch mein Leben draußen zu haben, für mich zu sein und mein Ding zu machen.

Norbert: Ich hatte eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht und mir irgendwann die Frage gestellt, ob das mein Leben ist oder ob es noch etwas anderes gibt. 1988 habe ich mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt und wollte eigentlich ins Ausland, bevor ich anfange zu studieren. Ich war dann ein halbes Jahr in Nicaragua, aber das war eigentlich viel zu kurz. Aber als ich zurück war, fiel die Mauer, und Berlin war plötzlich der spannendste Ort der Welt. Irgendwann wurden die ersten Häuser besetzt, selbstbestimmt leben, das hat mich fasziniert. Die Linie war der Traum, der in Erfüllung ging.

Norbert Rösch arbeitet bei einem Datenverarbeitungsunternehmen Foto: Archiv Linienstraße 206

Sönke: Ich hab damals am OSI studiert und gleichzeitig bei Rotation gearbeitet, einem linken Buchvertriebskollektiv. Davor hab ich im Garten- und Landschaftsbau gearbeitet. Ich hab mir meinen Lebensunterhalt immer verdienen müssen. Das war aber bei vielen im Haus so. Entweder haben sie studiert, schon gearbeitet oder waren noch in der Ausbildung. Wir waren alle nicht reich, kamen aber schon aus stabilen sozialen Verhältnissen.

Sonja: Es gab eine relativ starke Handwerkerfraktion. Ich selber hab eine Lehre angefangen.

David: Ich hab angefangen, Betreuung zu machen. Bei der Lebenshilfe. Da bin ich noch heute.

Nico: Ich habe zur Zeit der Besetzung studiert und ein Praktikum mit obdachlosen Frauen gemacht. 1994 habe ich im Frauenhaus angefangen.

Sonja: Die Linie war kein Intellektuellenhaus.

Rüdiger: Ich war 1989 mit der Erzieherausbildung fertig, habe danach aber nur gejobbt. 1992 hab ich angefangen, wieder als Erzieher zu arbeiten. Als wir reingegangen waren, haben viele ihre Tätigkeit zurückgestellt. Das ist nachher wieder anders geworden, als das Gemeinsame, das Politische wieder weniger wurde. 1992, 1993 haben viele wieder angefangen, sich auf ihre alten Berufe zu stürzen, weiterzustudieren, da haben die Leute wieder mehr ihre Dinger gemacht.

Viele Leute bei einem Konzert im ­Hinterhof der besetzten Linien­straße 206

Bei einem Konzert im ­Hinterhof der besetzten Linien­straße 206 Foto: Archiv Linienstraße 206

Von Männern und Frauen

Pari: Die Frauenetage gab es schon, als ich eingezogen bin. Wir haben da alle sehr eng zusammengewohnt. Aber es war gut, dass wir unseren Raum hatten. Schon alleine unter Hygienegesichtspunkten. Auch die Art, über Dinge zu reden, war anders, da waren schon kleinere oder größere Machos im Haus, die Kämpfer und die starken Typen. Auch wie Themen eingebracht wurden, war bei uns anders. Und die Vorstellung von manchen, alles offen zu halten, da denkst du, boah ey, will ich das? Aber so hat es gut funktioniert. Wir haben jeden Tag Plenum gemacht. Da waren auch die Diskussionen zwischen Männern und Frauen wichtig.

David: Ja, dieser Anspruch, den es damals gab. Alles offen, alles gemeinsam. Sogar das Klo!

Oliver: Die Diskussionen über Männer und Frauen haben wir schon vom OSI mitgebracht. Wir waren auch alle in Männergruppen. Als die Frauen dann die Frauenetage gegründet haben, gab es überhaupt keinen Widerspruch.

Nico: Da gab es am Anfang massive Widerstände von den Männern! Vieles hab ich auch nicht verstanden und verstehen wollen. Da fielen Worte wie Diskriminierung und so weiter. Damals habe ich mich sehr darüber aufgeregt, heute denke ich, die Diskussionen haben sich gelohnt. Wir haben damals heftig dagegengehalten, sagten, wir leben in einer Welt, die männerdominiert ist, wir wollen einen Rückzugsort haben. Für die Männer, die anfangs den völligen Freiraum und alles ganz offen wollten, war es bestimmt hart. Wir wollten natürlich die oberste Etage, damit wir auch Ruhe haben und keiner bei uns durchläuft.

Sonja: Es war ja nicht so, dass die Männer nicht hochkommen durften.

Nico: Als das dann mit der Frauenetage klar war, war das Leben zwischen Männern und Frauen okay. Wir hatten auch eine gemeinschaftliche Küche. Außerdem war keiner nachtragend. Irgendwann wurde es akzeptiert und gut.

Sonja: Das Haus war eine Einheit. Die Frauenetage war ja keine Sache, um sich vom Rest abzukapseln.

Sonja Henning ist im Gebäudemanagement tätig Foto: Archiv Linienstraße 206

Rüdiger: Mir war es damals wichtig, neue Lebensformen auszuprobieren. Ich wollte aber auch nicht, dass wir uns nur um uns selber drehen. Was auch ganz wichtig war, war Antifa, Rostock, Lichtenhagen, Hoyerswerda, diese Geschichten spielten auch eine große Rolle.

Und die Nachbarn?

Rüdiger: Mir persönlich war es wichtig, den Kontakt zu den Menschen aufzunehmen, die um uns herum gewohnt haben, so eine Verankerung zu schaffen, aber das ist uns nicht so gut gelungen. Da gab es ganz schöne Barrieren.

Markus: Das habe ich anders wahrgenommen. Wir hatten im Erdgeschoss ein Hauscafé, das auch Leute aus anderen besetzten Häusern mitbetrieben haben. Sonntags haben wir dort ein Frühstückscafé organisiert. Da kamen auch Nachbarn aus der Umgebung. Es gab dort Lesungen, zum Beispiel mit Klaus Kordon und Heinz Knobloch, und eine Mieterberatung. Und natürlich auch Partys. Mein Eindruck war, dass diejenigen, die zu uns ins Café kamen, sehr aufgeschlossen waren. Die fanden es spannend, mal hinter die Kulissen eines besetzten Hauses zu schauen.

Sönke: Wir haben Eier und Brot von der Brotfabrik vor dem Haus verkauft. Das ist von der Nachbarschaft durchaus positiv aufgenommen worden.

Als Westler im Osten

Nico: Ich fühlte mich fremd im Osten. Auch in dem Frauenhaus, in dem ich arbeitete, war ich die Einzige aus dem Westen. Da hatte ich schon das Gefühl, wir rücken denen auf die Pelle und nehmen ihnen weg, was ihnen zusteht.

Sonja: Für mich war leben in Ostberlin in Geschichte eintauchen. Man hat ja noch den Krieg gesehen, überall die Einschusslöcher. Der Westen war schon viel glatter.

Nico: Wenn ich mit dem Fahrrad über die Museumsinsel fuhr, habe ich mich wie in einem Film gefühlt, der in den zwanziger Jahren spielt. Es war zwar kaputt, aber sehr charmant.

Markus: Vor der Besetzung war ich erst zweimal in der DDR gewesen. Einmal war es eine organisierte Reise nach Weimar und Buchenwald. Und einmal haben sie uns auch nicht reingelassen. So als Szene galtest du in den Augen der Grenzer als anarchistisch.

Markus Tewes will demnächst als Erlebnispädagoge arbeiten Foto: Archiv Linienstraße 206

Oliver: Dass ich plötzlich in Ostberlin lebte, war fremd, erfreulich fremd. Wir haben ja das Abenteuer gesucht, und das war schon abenteuerlich. Alleine die Grenzkontrollen am Rosenthaler Platz, wenn du das ganze Baumaterial dabei hattest. Aber da war auch die Energie, alles was leer war, zu füllen, etwas zu gestalten, zu formen. In Kreuzberg oder Charlottenburg ging das nicht mehr, das ging nur in Ostberlin.

David: Ich war vorher schon viel in Ostberlin. Mein Vater war Verwaltungschef der Ständigen Vertretung. Ich hatte also ein Diplomatennummernschild an meinem Motorrad und bin überall rumgefahren. Damals war die Grenze noch präsent, dieser repressive Staat, die Stasi, was darf man, was nicht? Und dann ist plötzlich dieser Staat weg.

Linien- und Lottumstraße

Nico: Der Kontakt zur Lottumstraße ist so entstanden, dass wir einfach zu denen gegangen sind. Das fing ganz klein und nachbarschaftlich an. Wir waren uns sofort sympathisch. Das hat gefunkt. Vielleicht auch, weil wir nicht als Besserwessis aufgetreten sind.

Rüdiger: Die Lottum hatten wir schon vor der Besetzung kennengelernt. Die haben uns dann auch motiviert, die Linie zu besetzen. Haben gesagt, das sei okay und kein imperialistisches Verhalten dem Osten gegenüber.

David: Wir haben gesagt, wir brauchen Hilfe. Was können wir hier machen? Wie geht denn das? Wir haben nicht ganz dem Klischee entsprochen, was sie von den Wessis hatten, dass die einem immer erzählen wollen, wo es politisch langgeht. Natürlich hatten wir das auch drauf, aber weil unsere erste Begegnung um ganz praktische Dinge ging, war das auf Augenhöhe. Das war ja auch ein wilder Haufen.

Sonja: Und dann haben wir den gemeinsamen Verein gegründet: „Flinke Linke – flotte Lotte“.

Markus: Die hatten dort einen Trabi, da bin ich zum ersten Mal Trabi gefahren. Das mit der Handschaltung war ungewöhnlich, aber die Ente hatte auch so eine Schaltung.

Nico: Ich war tierisch neugierig, wie das Leben für die in der DDR war und ist. Wenn man in ein anderes Land kommt, ist man auch erst mal höflich. Vielleicht war das einer der Unterschiede. Die waren ein reines Osthaus und wir waren ein reines Westhaus.

Pari: Im Osten war fremde Welt. Die Lottumstraße hat uns diese fremde Welt erklärt. Das war auch spannend, was uns als Frauenetage betraf. Wir waren alle ein bisschen theoretisch, so Feministinnen eher vom Kopf her, aber am Ende vielleicht doch etwas verklemmt. Als wir mit den Lottums nach Hiddensee gefahren sind, sind die alle nackig rumgerannt, und wir Frauen dachten, oh Gott, Scham.

Pari hat Hebamme gelernt und ist nun Psychologin Foto: Archiv Linienstraße 206

David: (lacht) Dabei war es da ziemlich kalt.

Pari: Die Lottum war für mich auch persönlich eine Bereicherung. Total. Ich hatte da auch Freunde, wir haben uns unsere Geschichten erzählt. Da war auch eine Neugierde aufeinander, die ich heute noch spüre.

Rüdiger: Mit den Leuten in der Lottum war es etwas sehr Spezielles. Wir waren schon sehr eng miteinander verbunden. Das war eigentlich gar nicht so üblich.

David: Aber auch die Ausflüge an den Liepnitzsee darf man nicht vergessen. Die mit ihrem Rote-Kreuz-Ello. Wir mit unserem NVA-Ello.

Der Sommer der Anarchie

Oliver: Das war ein magischer Sommer für mich. Absolut magisch, das ist das, woran ich mich am deutlichsten erinnere. Dass Michl plötzlich einen Ello von der NVA kauft, der vorne noch ’ne Luke hatte, durch die man mit dem Maschinengewehr schießen konnte. Mit dem sind wir dann an die Brandenburger Seen gefahren. Ein unsagbares Freiheitsgefühl.

Rüdiger: Wir haben am Strand geschlafen, gegrillt, und dabei haben wir uns kennengelernt, der Osten und der Westen, und haben uns Geschichten erzählt aus beiden Teilen der Stadt, wo wir herkamen. Das fand ich total bereichernd.

Rüdiger Quilitzsch arbeitet in einem Antiquariat Foto: Archiv Linienstraße 206

Pari: Wenn ich heute an die Linienstraße denke, denke ich, was war das für ein Geschenk. Ich konnte mich ausprobieren, habe vieles gelernt, auch über mich. So eine Freiheit. Mit einem sehr warmen Gefühl denke ich daran. Aber ich merke auch, dass wir damals nicht viel voneinander wussten. Aus welchen Elternhäusern wir kamen, welche Geschichten uns geprägt haben. Aber es kann natürlich auch sein, dass das mit 20 oder 22 gar nicht so eine Rolle spielt. Du konntest da zu Leuten ein ganz nahes Gefühl haben, ohne zu wissen, wie sie aufgewachsen sind.

Der Ruf der Linie als Polithaus

Oliver: Die Linienstraße war ein politisches Haus. Wenn 25 Leute auf einem Haufen wohnen, die nicht ganz doof sind, ist es so schon als innerer Zusammenhang politisch. Wir haben uns über Männer und Frauen Gedanken gemacht, es ging um Gerechtigkeitsfragen, aber auch die großen Fragen draußen, fahren wir nach Wunsiedel zum Heß-Todestag. Wir wurden auch als politisches Haus wahrgenommen, und wenn es Stress mit Nazis gab, haben die uns gerufen.

Nico: Unser Ruf war schon der, dass wir alle zusammenhalten. Dass man uns vertrauen kann.

David: Zwischendurch sind wir auch schon mal martialisch aufgetreten. Es gab einige Aktionen, die sich rumgesprochen haben. Das war teilweise auch Legendenbildung. Aber natürlich sind wir sehr oft geschlossen wo hingegangen. Das war der Eindruck nach außen.

Sönke: Was heute aus der Spandauer Vorstadt geworden ist, konnte man sich damals aber nicht vorstellen. Die Veränderungen haben wir aber wahrgenommen. Wir selber kamen ja aus politischen und sozialen Bewegungen. Plötzlich gab es da aber eine Kulturalisierung, auch in den Konflikten, die stattfanden. Wie haben wir uns zum Beispiel geärgert, dass das Tacheles ganz schnell einen Vertrag machen wollte. Das waren die Vorboten. Aber natürlich waren auch wir Pioniere der Gentrifizierung.

Sönke Schneidewind arbeitet im Marketing des Humboldtforums Foto: Archiv Linienstraße 206

Markus: 1997 bin ich dann ausgezogen. Da waren viele von den Erstbesetzern schon weg. Neue Leute sind gekommen, und es wurde immer lauter. Bei offenen Fenstern konnte man nicht mehr schlafen, weil auf den Straßen Partys gefeiert wurden und ständig das Kreischen der Tram zu hören war. Alle zogen plötzlich nach Mitte, ständig öffneten neue Clubs.

Der Auszug aus dem Haus

Pari: Ich bin schon 1994 ausgezogen. Ich hab gemerkt, dass ich mich nicht mehr auf die Neuen, die kamen, einlassen konnte. Ich dachte, da entwickelt sich nichts weiter, aber ich wollte mich weiterentwickeln.

Norbert: Später war es so, dass Leute auszogen, neue kamen, mit denen gingen viele Diskussionen wieder von vorne los. Auch ich wollte mich weiterentwickeln. Darum zog ich 1995 nach Kreuzberg in eine gewachsene Hausgemeinschaft in einem ebenfalls ehemals besetzten Haus aus den 80er Jahren. 2000 ging ich dann mit meiner damaligen Partnerin für elf Jahre nach Afrika.

Rüdiger: Ich habe insgesamt sieben Jahre in der Linie gewohnt. Wenn ich heute daran zurückdenke, spüre ich ganz viel Freude. Das war eine der wichtigsten Zeiten für mich. Ich habe so vieles gelernt, mit Leuten zusammenzuleben, Dinge zu organisieren, sich politisch zu organisieren. Tolle Liebesbeziehungen, tolle Menschen kennengelernt. Auch dieses immer aktiv sein. Das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können. Aber ich würde heute nicht mehr so leben können.

Sönke: Ich habe zweimal in der Linienstraße gewohnt. Nach anderthalb Jahren bin ich ausgezogen und habe ein Jahr in Italien studiert. Von 1993 an habe ich noch mal fünf Jahre dort gewohnt.

Nico: Ich bin 1995 aus der Linie ausgezogen, da war ich schwanger. Ich bin aber 1997 noch einmal für ein Jahr zurückgekommen.

David: Ich bin relativ früh rausgegangen. 1993 war das. Ich war mit diesem Im-Haus-Wohnen durch. Aber nicht mit den Leuten. Bis heute nicht. Mit vielen Einzelnen hab ich noch Kontakt.

David Permantier arbeitet seit damals bei der Lebenshilfe Foto: Archiv Linienstraße 206

Nico: Als ich zurückgekommen bin, war das gar nicht mehr so, wie es zuvor war. Das gab es in den Etagen schon Einzelküchen.

Sonja: Ich bin dann noch während der Lehre ausgezogen. Auf Dauer war es in der Linie schwierig und anstrengend, alles unter einen Hut zu kriegen.

Dreißig Jahre später

Norbert: An eines erinnere ich mich gut. Eines Tages kam Olli nach Hause und hatte mir einen Spruch gezeigt. Kinder und Narren brauchen die Freiheit, lieben die Wahrheit, die Sonne, das Licht. Vier Strophen waren das. Ich fand das gut, das war für mich ein Spruch, der unser Lebensgefühl ausdrückte. Und weil wir mal drüber gesprochen hatten, die Brandwand zu bemalen, hab ich mir einfach ein Seil geschnappt, mich abgeseilt und den Spruch an die Wand gesprüht. Spontan. Danach habe ich zu Recht die Kritik bekommen, weil ich das mit niemandem abgesprochen habe. Aber die meisten fanden es gut. Der Michl hat ja auch seinen Dinosaurier im Hof gebaut und sich dann Visitenkarten drucken lassen als Bildhauer und Aktionskünstler. Er hat für sich selbst einen Beruf erfunden.

Michl: Ich gehörte damals eher zu den Handwerkern, den Künstlern. Ich hab im Hinterhof den Saurier aufgebaut, dafür auch einen Preis bekommen. Darüber habe ich auch meinen Job gekriegt. So ist die Linienstraße auch meine Existenzgrundlage geworden. Der damalige Leiter des Kulturamts, Thomas Liljeberg, wollte mich kennenlernen. Er suchte jemanden für ein Bildhauerprojekt für Kinder im Jojo in der Torstraße. Erst habe ich eine ABM-Stelle bekommen, dann die Gruppenleitung übernommen. Danach habe ich das Theaterhaus Mitte geleitet, habe im Kulturhaus Mitte die Öffentlichkeitsarbeit gemacht. So ging das weiter, bis ich im Mitte Museum gelandet bin.

Pari: Nach dem Studium hab ich dann eine Ausbildung als Hebamme angefangen. Heute arbeite ich als Psychologin.

Sonja: Ich denke gerne an die Zeit in der Linie zurück. Es war eine aufregende Zeit und wir haben es genau richtig gemacht. Schade, dass so etwas heute nicht annähernd mehr denkbar ist. Ich bin dankbar für die Freundschaften und das Beziehungsgeflecht, was daraus entstanden und bis heute lebendig ist. Heute bin ich für das Gebäudemanagement in einem Sozialunternehmen verantwortlich.

Nico: Ich arbeite heute im Antigewaltbereich.

Norbert: Mit meiner Partnerin und unseren drei Kindern lebe ich in Emmendingen in Südbaden und arbeite in einem großen Datenverarbeitungsunternehmen. Seitdem bin ich bei den Grünen aktiv, unter anderem im Ortschaftsrat und im Ortsvorstand. Nur wenigen habe ich erzählt, dass ich Hausbesetzer war, das würden die meisten wahrscheinlich auch nicht verstehen. Ein Geheimnis daraus mache ich jedoch nicht.

Markus: Meine Diplomarbeit habe ich damals zu Ende geschrieben, ich bin dafür sechs Wochen zu meinen Eltern. Aktuell habe ich eine Weiterbildung zum Erlebnispädagogen gemacht, wegen der Coronakrise aber nicht abschließen können. Ich hoffe aber, bald im neuen Job arbeiten zu können.

Sönke: Über meine Vergangenheit haben immer alle Bescheid gewusst, auch bei visitBerlin, wo ich 20 Jahre gearbeitet habe. Ich war da zehn Jahre für die Touristeninformationen zuständig und dann zehn Jahre Kulturbeauftragter. Inzwischen arbeite ich im Marketing beim Humboldt Forum.

Rüdiger: Ich arbeite heute in einem Antiquariat. Politisch arbeite ich zu sexualisierter Gewalt, gehe noch auf Demos und hoffe, dass es auch mal wieder Hausbesetzungen gibt.

David: Als ich 1993 rausging, war ich durch mit dem Thema, mit so vielen in einem Haus zu wohnen. Aber nicht mit den einzelnen Leuten. Mit vielen Einzelnen hab ich noch Kontakt. Und ich lebe seit der Zeit mit Sabine, die ja auch dort gewohnt hat, zusammen. Wir haben drei Kinder, die mit diesen Leuten groß geworden sind und sich zu engagierten linken Menschen entwickelt haben. Wir haben eine sehr ambitionierte Idee von Zusammenleben mit hohen Ansprüchen an uns und andere in etwas Lebbares verwandelt. Das funktioniert auch ohne Haus. Das ist etwas, worauf ich tatsächlich stolz bin.

Oliver: Ich bin heute an der FU Berlin tätig und berate Start-ups im Bereich Social Entrepreneurship. Für die Naturwissenschaften ist es ja normal, Anwendungen an den Markt zu bringen, bei den Sozialwissenschaften ist das nicht so einfach. Aber das brauchen wir.

Sönke: Wenn ich heute an der Linienstraße vorbeigehe, denke ich immer, wie wichtig es ist, Räume zu sichern, für Kultur, für soziokulturelle Projekte.

Oliver: Wenn ich heute zurückschaue, war die Zeit in der Linienstraße vor allem eine praktische Erfahrung, Dinge zu organisieren zum Beispiel. Wir waren damals auch gut darin, Papiere zu schreiben. Aber wir wollten damals auch cool sein. Wir wollten Spaß haben, und das hatten wir auch.

Nico: Ich hab daraus fürs Leben gelernt. Ich hab gelernt zu diskutieren, mich auszudrücken, mich durchzusetzen. Und dann war da diese Freiheit. So was wird nie wiederkommen. Wenn ich an meine Kinder denke, so was werden die nie erleben. Das war ein Geschenk.

Alle Protokolle: Uwe Rada. Ein Gespräch fand mit drei Protagonisten statt, die anderen waren Einzelgespräche und wurden neu zusammengestellt. Der Protokollant lebte ebenfalls ein Jahr in der Linienstraße 206.

Uwe Rada arbeitet seit 1992 als taz-Redakteur Foto: Archiv Linienstraße 206

Aus der Printausgabe der taz berlin am wochenende, Ostern 2020.

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