Krisenmanagement und Ungleichheit: Der infizierte Rechtsstaat

Viel ist in der Corona-Krise die Rede von Solidarität. Doch über die ungleiche Verteilung der Lasten, die der Shutdown erzeugt, wird kaum gesprochen.

Eine Tafel in Essen

Tafel in Essen: Zu den blinden Flecken gehören Solidaritäts- und Verteilungsfragen Foto: Martin Meissner/dpa

Kontaktverbote trocknen den öffentlichen Raum aus. Sie trennen uns von unserem Lebensumfeld, von den Vereinen und Orchestern, vom Einzelhändler um die Ecke, der nicht nur Dienstleister ist, und sie sperren die unzähligen Institutionen zu, die Menschen in Not und Einsamkeit persönliche Ansprache, soziale Hilfe und empathische Zuwendung gewähren. Betroffen ist aber auch der politische Diskurs auf Straßen, in Gaststätten, auf Podien und in Hörsälen. An seine Stelle ist eine bedrückende Einigkeits- und Entschlossenheitsrhetorik getreten, die auf den unsichtbaren „Feind“ und seine Bekämpfung verengt ist.

Im politischen Wettbewerb gewinnt derzeit, wer die drastischsten Maßnahmen gegen das Virus verkünden und sich so als Macher präsentieren kann. Doch ohne öffentlichen Diskurs verlieren wir den Blick auf Ungleichheiten und notwendige Differenzierungen.

Der öffentliche Diskurs leidet erstens unter der Marschroute „Es geht um Leben und Tod“. Doch auch wenn es um den Schutz von Leben und Gesundheit geht, wägen wir, wie jüngst bei der gesetzlichen Neuregelung der Organspende, ab, welche sozialen und politischen Kosten wir in Kauf zu nehmen bereit sind, um Leben zu retten. Vielleicht hat auch die Dominanz der Virologen und Epidemiologen in der öffentlichen Diskussion und in der Beratung der Politik dazu geführt, dass neben den medizinischen Notwendigkeiten nichtmedizinische Aspekte zurückgetreten sind, etwa die Frage, wie lange es eine Gesellschaft (und vor allem die zunehmende Zahl der Genesenen) eigentlich akzeptieren wird, dass sie ausnahmslosen flächendeckenden Restriktionen unterworfen wird, die die unterschiedlichen gesundheitlichen Risiken nicht berücksichtigen.

An die Stelle des politischen Diskurses ist eine bedrückende Einigkeits- und Entschlossenheitsrhetorik getreten

Zu den blinden Flecken, in denen der Diskurs derzeit gar nicht stattfindet, gehören zweitens Solidaritäts- und Verteilungsfragen. Viel ist derzeit zu lesen, dass es um eine gemeinsame Kraftanstrengung geht, um einen Akt der Solidarität mit den Schwächeren, zu der nun jeder seinen Beitrag leisten müsse. Vergleichsweise wenig ist davon die Rede, dass sich diese Lasten höchst ungleichmäßig verteilen. Sie verteilen sich ungleich in der Wirtschaft: Hier wird es viele Unternehmen und Betriebe nach dem Auslaufen der Beschränkungen nicht mehr geben, während die großen Unternehmen von den Autoherstellern bis zu den Banken auf Staatshilfen bauen können und sich die Krise für Konzerne wie Amazon sogar als eine Lizenz zum Gelddrucken entpuppt.

Und die Lasten verteilen sich ungleich zwischen den Generationen: Unter diesen werden die Gruppen, die als Risiko- oder Hochrisikoträger ausgemacht sind, durch den gesellschaftlichen Shutdown maximal geschützt, während sich die folgende Rezession für die Jüngeren in einem massiven Verlust von Lebenschancen auswirkt. Sie verteilen sich ungleich mit Blick auf Bildungsmöglichkeiten, weil der Schulausfall in bildungsbürgerlichen oder sonst gut situierten Elternhäusern erfahrungsgemäß besser kompensiert werden kann als in den sozial ohnehin benachteiligten und schwächeren Schichten. Sie verteilen sich aber auch ungleich zwischen denen, die im Eigenheim mit Garten bei einem Glas Wein abends auf der Terrasse und den anderen, die in beengten Räumen im elften Stock eines Hochhauses sitzen.

Dass diese Diskussionen bislang allenfalls unter der Oberfläche einer voluminösen Krisenrhetorik stattfinden, hat wesentlich mit der zivilisatorischen Katastrophe von Bergamo zu tun. Natürlich ist es auch der Umstand, dass manche Menschen sterben werden, der viele umtreibt, aber es sind vor allem die Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen in den italienischen Krankenhäusern: die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, die normative Selbstverständlichkeiten in Frage stellen; Videos von überfordertem und weinendem Klinikpersonal, dem gegenüber man ein schlechtes Gewissen bekommt, das man durch Applaus vom Balkon zu besänftigen versucht; Geschichten von Menschen, die auf Intensivstationen ohne ihre Familienangehörigen sterben müssen; der Zusammenbruch der sonstigen medizinischen Versorgung.

Am Ende ist es eine ähnliche Logik wie in der Flüchtlingspolitik: Wir ertragen viel, aber keine Bilder von Elend und leidenden Menschen. Bei realistischer Betrachtung geht es dabei gar nicht um sozialstaatliche Solidarität, sondern um unsere Sorge, dass die normativen Grundgerüste unserer Gesellschaft, „unsere Werte“ dementiert werden. Wir verteidigen hier rechtsstaatliche Grundfesten gegen drohende Verrohungstendenzen.

Das sind sehr berechtigte Anliegen, die zukünftige politische Entscheidungen, etwa über die Finanzierung der Krankenhäuser und die Bezahlung des Pflegepersonals, steuern mögen. Aber sie entheben uns nicht von der Verpflichtung, bei den anstehenden Verlängerungen der rechtlichen Restriktionen tatsächliche Unterschiede mehr als bislang in den Blick zu nehmen. Im Gegenteil: Wenn wir stärker nach Risikogruppen differenzieren und daher insbesondere ältere Menschen noch konsequenter zu schützen würden als bislang, so würden wir das auch tun, um ein „zweites Bergamo“ zu verhindern. Zugleich müssen wir aufgrund der sozialen Unwuchten stärker nach Angewiesenheit differenzieren: Es kann ein Jahr ohne Karneval, Oktoberfest und volle Fußballstadien geben, aber schon wenige Wochen mit geschlossenen Frauenhäusern, Tafeln, Selbsthilfegruppen und Bildungseinrichtungen sind zivilisatorisch nicht hinnehmbar.

Man hört schon die ersten Stimmen, die empfehlen, die Disziplinierungsstrategien gegen Corona zukünftig auch im Kampf gegen den Klimawandel einzusetzen. Auch das spricht für einen differenzierten Exit-Diskurs, der der Infektion unseres demokratischen Rechtsstaats vorbeugt.

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Stefan Huster ist Professor für Öffentliches Recht, Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum

Thorsten Kingreen ist Professor für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg

Uwe Volkmann ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goetrhe-Universität Frankfurt/M.

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