Spiritualität in der Coronakrise: Glauben rettet nicht, aber hilft

Ob Astrologie, Liebe, Globuli, Beyoncé, Sozialismus, Fantasie oder Jesus. Der Glaube an etwas kann uns helfen. Hauptsache, man übertreibt nicht.

Ein Pfarrer winkt einigen Autos zu

Auch das Winken eines Pfarrers wie hier im US-amerikanischen Johnston mag einigen helfen Foto: David Goldman/ap

Vor sechzehn Jahren legte ich ein Glaubensbekenntnis ab. Ich trug einen schwarzen Qipao, ein langes Kleid, und viel zu madamige Riemchenpumps, weil ich mich feierlich und erwachsen fühlen wollte. Dabei war das Erwachsenste an dem Tag, so zu tun, als hätte man mit vierzehn keine Zweifel: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“

Wenige Monate später stellte sich das Gefühl ein, dass ich gelogen hatte. Dass ich vielleicht mehr an die Geldscheine in Briefumschlägen und die Konfirmation als Party geglaubt hatte als an eine längerfristige Ehe mit einem Gott. Eine Gruppe Teenager studiert die Bibel. Vor einem bärtigen Pfarrer spricht man ein Bekenntnis. Man nennt das Religion?

Vor drei Jahren starb meine Abu. Wir trugen ihre Urne erst in einen Bus, dann durch Bambuswälder und schließlich auf einen Berg bei ihrem Heimatdorf. Wir hielten Schirme über die Urne, damit Abus Geist unterwegs nicht davonflog und sich verirrte. Und wir schoben uns rotes Papier in die Schuhe, zum Schutz gegen böse Geister.

Ob Schirme und Papier wirklich helfen, ist egal. Es tut niemandem weh, die Regeln zu befolgen, und es gilt das agnostische Prinzip der dünnen (Gegen-)Beweislage. In Krisen hält man sich an Bekanntem fest, an Regeln und Routinen. Vor der Grabstelle küsst die Stirn dreimal den Boden, auf dem Altar verglüht eine teure Filterzigarette für Opa. Man nennt das Kult, Tradition, Aberglaube?

Stoßgebete retten uns nicht vor einem Virus

Nun werden uns weder Verbeugungen vor den Ahnen noch regelmäßige Stoßgebete vor einem Virus retten. Trotzdem macht Glaube es erträglicher, auf Rettung zu warten, oder sich damit zu arrangieren, dass es die ultimative Rettung nicht gibt. Wir lernen aus guten Gründen, dass glauben nicht reicht. Wir müssen Fakten checken, nach den Wahrheiten – oder, noch eine Glaubensfrage – nach der einen Wahrheit suchen. Dabei stoßen wir an Grenzen, besonders in der globalen Krise. Welche Zahlen sind korrekt? Welche Informationen zuverlässig? Wie lange dauert das noch? Wem können wir vertrauen? Die Covid-19-Pandemie stellt uns auch vor Fragen, die kein:e Expert:in gänzlich beantworten kann.

Glaube ist ein Balanceakt, und Turnen ist in der Krise noch schwerer als sonst: So viel glauben, dass man sich selbst Handlungsfähigkeit und Verantwortung abspricht, ist ignorant. So wenig glauben, dass man denkt, der Mensch sei das absolute Maß aller Erkenntnis, ist arrogant. Aber irgendwo zwischen den Abgründen liegt ein sweet spot.

Ob Astrologie, Liebe, Globuli, Beyoncé, Sozialismus, Fantasie, Jesus – es geht, was guttut. Hauptsache, man übertreibt nicht. Gott, der Vater, der Allmächtige, tat mir nicht gut. Aber ich glaube, dass es anderen mit Gott besser geht. Ich glaube derweil, dass böse Geister nur geradeaus gehen können. Dass die klügsten Menschen mehr Fragen als Antworten haben. Dass wahrscheinlich nie alles gut wird, aber zwischendurch einiges sehr, sehr gut sein kann. Und ich glaube, dass Glauben vermutlich nicht rettet, aber hilft.

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Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Ihr erster Roman 'Wovon wir träumen' erschien 2022 bei Piper. Zuletzt wurden ihre Kurzgeschichten in Das Wetter Buch für Text und Musik und Delfi Zeitschrift für Neue Literatur veröffentlicht.

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