Wohlfeile Vorwürfe in Corona-Krise: Für eine Handvoll Likes

Im Netz ereifert sich eine Social-Distance-Army über Menschen, die rausgehen. Dabei ist Solidarität gefragt.

Schaufensterpuppen mit einem T-Shirt, auf dem "Fuck the Virus" steht.

Klare Ansage: T-Shirts in einem Modeladen in Berlin Foto: Pierre Adenis

Für den Fall einer Ausgangssperre in Deutschland müssten sich die Behörden über die Durchsetzung keinen Kopf machen. Eine Armada von Hobby-Epide­mio­logen stünde bereit, um den Gesundheitsämtern Verstöße gegen das Ausgangsverbot zu melden. Die antiviröse Bürgerwehr hat ihre Arbeit präventiv ja schon aufgenommen: Auf Facebook und Twitter ereifert sich ein digitaler Mob über Menschen, die trotz der Corona-Krise gelegentlich ihr Zuhause verlassen und Freizeit unter freiem Himmel verbringen. Die Social-Distance-Army gefällt sich in Belehrungen, Beleidigungen und Befehlston – und hat dabei jedes Gefühl für Umgangston und Verhältnismäßigkeit verloren.

Zum einen liegt dem die Fehlannahme zugrunde, jede einzelne Minute an frischer Luft beschleunige die Ausbreitung der Epidemie. Dabei betonen Exper­t*in­nen ausdrücklich, dass unter Wahrung gewisser Vorsichtsmaßnahmen ein Spaziergang im Freien nicht nur ungefährlich ist, sondern sogar die Abwehrkräfte stärkt – und das selbst in kleinen Gruppen.

Zum anderen zeugt die rigorose Freiluft-Kritik von einem Mangel an Einfühlungsvermögen für diejenigen, denen die totale Isolation aus diversen Gründen Probleme bereitet: weil sie alleine leben oder mit vielen Familienmitgliedern auf engem Raum, weil sie plötzlich arbeitslos sind oder Homeoffice und Kinderbetreuung vereinbaren müssen, weil sie in dunklen Hinterhäusern wohnen oder an lauten Hauptstraßen, weil sie psychische Probleme haben oder einfach nur ein bisschen länger brauchen, um sich an den tiefsten Einschnitt ins öffentliche Leben zu gewöhnen, den sie jemals erlebt haben.

Solidarität ist in der Krise gefragt. Solidarität heißt, Corona-Partys auf dem Spielplatz zu vermeiden. Solidarität heißt, das Rad zu nehmen statt den Bus. Solidarität heißt, selbst zu Freun­d*in­nen zwei Meter Abstand zu halten. Solidarität heißt aber auch, Empathie füreinander aufzubringen und unterschiedliche Bedürfnisse grundsätzlich zu achten. Und Solidarität heißt nicht, die Krise zu nutzen, um das eigene Selbstwertgefühl mit wohlfeilen Tweets aufzupolieren.

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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.

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