Kurs der neuen SPD-Vorsitzenden: Die gezähmten Tiger

Die SPD-Spitze muss der Union beim Mindestlohn mehr Druck machen. Sonst entsteht der Eindruck, dass sie sich das Fell über die Ohren ziehen lässt.

Norbert Walter-Borjans and Saskia Esken im Portrait

Bisher nur Trippelschritte statt dem großen Wurf Foto: Kay Nietfeld/dpa

Die neuen SPD-Vorsitzenden wirken wie gezähmte Tiger. Wer dachte, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans würden in der Großen Koalition beinhart ihre Forderungen durchboxen, wird enttäuscht. Obwohl ein SPD-Parteitag im Dezember Nachverhandlungen beschloss, handeln beide bisher moderat und pragmatisch. Das ist keine Überraschung, aber für Esken und Walter-Borjans könnte das auf Dauer zum Problem werden.

Der Koalitionsausschuss, bei dem die zwei mit am Tisch saßen, beschloss nur Trippelschritte. Ein paar Verbesserungen bei der Kurzarbeit hier, ein paar Qualifizierungsmöglichkeiten da: All das ist gut und schön, aber keine entschiedene Linkswende.

Ein Mindestlohn von 12 Euro? „Nach der Evaluation des Mindestlohngesetzes werden wir deren Ergebnis in der Koalition beraten“, heißt es im Beschluss. Unverbindlicher geht es kaum. Die Evaluation des Mindestlohns ist eh für 2020 geplant, „beraten“ kann alles heißen – und nichts. Das Ziel der SPD, die 12 Euro möglichst schnell durchzusetzen, scheint so weit weg wie eh und je.

Ähnlich sieht es bei dem zweiten Vorhaben der SPD-Spitze aus. Esken und Walter-Borjans warben bei der Bewerbungstour für den SPD-Vorsitz für ein massives Investitionsprogramm, wissend, dass sie Industrie und Gewerkschaften hinter sich haben. Der BDI und der DGB fordern bis 2030 frische 450 Milliarden Euro für Infrastruktur und Bildung. Auch davon ist im Groko-Beschluss keine Rede.

Fortschreiben des Status Quo

Stattdessen wird der Status Quo verstetigt. Die Koalition beabsichtige, das Niveau der Investitionen mindestens auf dem Stand des Jahres 2020 fortzuschreiben, heißt es. Außerdem werde sie „neue Investitionsbedarfe identifizieren“. Selbst bei wohlwollendster Betrachtung kann man das nicht als Einstieg in eine Investitionsoffensive deuten – auch wenn eine Arbeitsgruppe nun Vorschläge bis zum nächsten Koalitionsausschuss unterbreiten soll.

Außer Spesen nix gewesen? Diese Schablone wäre für die neue SPD-Spitze zu schlicht. Esken und Walter-Borjans haben früh deutlich gemacht, dass ein radikaler Bruch mit der Groko kontraproduktiv wäre. Damit haben sie Recht. Die SPD hat im Falle von Neuwahlen viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Sowieso folgen Parteitage einer anderen Logik als Regierungshandeln. Es ist nichts Verwerfliches, das zu verstehen und umzusetzen.

Aber ihr pragmatischer Kurs stellt Esken und Walter-Borjans auch vor Probleme. Viele in der SPD-Basis und -Wählerschaft versprechen sich von ihnen einen echten Kurswechsel. Die beiden werden ihn in der komplexen Gemengelage nicht liefern können, aber ein bisschen mehr Mut wäre angebracht. Die SPD-Spitze kann die Union an manchen Punkten zur Bewegung zwingen, einfach, indem sie sie mit der Wirklichkeit konfrontiert.

Beispiel Mindestlohn: 80 Prozent der BürgerInnen sind laut Umfragen für die Erhöhung auf 12 Euro, also auch viele CDU-WählerInnen. Und in der CDU ist der Diskurs längst angekommen. Ihr Arbeitnehmerflügel wirbt für eine satte Erhöhung, wäre also ein Verbündeter für die SPD. Und der letzte CDU-Parteitag hat bereits beschlossen, dass die Mindestlohn-Kommission mehr Spielraum für Erhöhungen braucht. Der Boden wäre also bereitet, aus Sicht der Union ist der Mindestlohn ein sehr unbequemes Wahlkampfthema.

Die SPD-Spitze muss der Union mit solchen Argumenten mehr Druck machen. Sonst entsteht der Eindruck, dass sich die vermeintlichen Tiger das Fell über die Ohren ziehen lassen.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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