Protestbewegung im Irak: Die Standhaften vom Tahrirplatz

Fast täglich werden es mehr Tote und Verletzte, aber die Protestierenden im Irak geben nicht auf. Auch nicht als Sicherheitskräfte gegen sie vorgehen.

Jugendliche Demonstranten auf einer Barrikade in Bagdad.

Jugendliche demonstrieren in Bagdad gegen die irakische Regierung Foto: Sabah Arar/afp

BAGDAD taz | Es ist ein spezifisches Geräusch, das die Stimmung auf dem Tahrirplatz in Bagdad schlagartig verändert. Herrschte in dem Protestlager, auf dem seit Oktober Tausende vor allem junge Iraker kampieren, gerade noch Volksfeststimmung, bricht nun Hektik aus. Jetzt, da eine ganze Reihe von peitschenden Schüssen aus den umliegenden Straßen zu hören sind. Binnen Sekunden kommen Dutzende Tuktuk-Motorrikschas angebraust, um die Menschen wegzubringen. Während die Fahrer fieberhaft ihre Gäste einsammeln, machen sich Heerscharen junger Männer auf den Weg in die andere Richtung, um ihren Platz zu verteidigen – genau dorthin, von wo die Schüsse kommen.

Ausgerüstet sind die Protestierenden vom Tahrirplatz meist nur mit medizinischen Masken als Mundschutz gegen Tränengas. Einige wenige tragen Helme und Westen mit vielen Taschen, in denen Molotowcocktails stecken. Ein paar der Tuktuks nehmen sie mit, um zur Front zu rasen.

Seit nunmehr vier Monaten sind die Demonstranten auf dem Tahrirplatz. Sie fordern ein Ende der Korruption und Misswirtschaft, sie wollen eine neue Regierung, die unabhängig ist von den nach konfessioneller Zugehörigkeit aufgestellten Parteien und Gruppierungen. Der irakische Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi ist bereits zurückgetreten und momentan nur noch kommissarisch im Amt, so lange bis sich die Parteien im Parlament auf einen Nachfolger einigen können.

Doch das ist den Demonstranten nicht genug. Sie wollen all jene Politiker aus ihren Ämtern vertreiben, die sie für die Missstände im Land, für ihre Arbeits- und Chancenlosigkeit sowie für die hohe Armutsrate verantwortlich machen. Sie hassen die konfessionell angetriebene Politik, die sie in Sunniten, Schiiten, Christen, Kurden und Araber unterteilt. Und gerade weil sie so anders ist, so viel will, hat die Protestbewegung einen schweren Stand.

Mehr als 600 Tote und 20.000 Verletzte

Die Schüsse reißen nicht ab. Auf dem Tahrirplatz wartet man ab, was nun geschieht. Vor dem Feldlazarett haben sich viele Menschen versammelt. „Fast jeden Tag bekommen wir hier Verwundete herein, manche sind so schwer verletzt, dass wir sie nicht retten können“, erzählt Israa Muhammad, eine junge Ärztin, „meist haben sie Schusswunden, andere ersticken am Tränengas.“ Mehr als 600 Tote und 20.000 Verletzte haben die Proteste im Irak inzwischen gekostet, berichtet die irakische Kommission für Menschenrechte. Jeden Tag kommen ein paar Tote, ein paar Dutzend Verletzte mehr dazu.

Das Handy vibriert, ein Kollege, ein Journalist, warnt: „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass die Sicherheitskräfte in wenigen Minuten auf den Platz kommen, zieht euch zurück.“ Ich folge seinem Rat, zumal es immer mehr Schüsse sind, die lauter und lauter werden. Später am Samstag rückt die Polizei tatsächlich auf den Platz vor, zündet einige der Protestzelte an, zieht sich dann aber wieder zurück. Ein paar der umliegenden Straßen bleiben geräumt – erstmals seit Monaten.

Einer der jungen Iraker vom Tahrirplatz – er will aus Sicherheitsgründen seinen Namen nicht nennen – erzählt später im Feldlazarett, was passiert ist: „Sie haben begonnen aus allen Richtungen mit scharfer Munition zu schießen, sie kamen von allen Seiten – nicht mit Tränengas, gleich mit scharfer Munition.“ Er selbst hat nur Schnittwunden abbekommen, die schnell versorgt sind. Mindestens vier junge Demonstranten haben ihr Leben verloren, über 40 wurden verletzt.

Am darauffolgenden Vormittag am selben Ort, ein friedlicher Sonntag, bei strahlendem Sonnenschein, scheint es als sei nichts gewesen: Tausende Studenten ziehen über den Platz. Trotzig sind sie wieder da, wollen zeigen, dass sie sich durch nichts abschrecken und von ihren Protesten abhalten lassen. Diesmal halten sich die Sicherheitskräfte zurück und bleiben in den umliegenden Straßen, die kleine Gruppen von Demonstranten wieder zu besetzen versuchen. Bewegen sie sich zu weit in die Außenbereiche des Platzes, kommen Tränengasgranaten angeflogen. Auf dem Platz selbst aber geht es friedlich zu.

Sie haben keine Angst vor den Schüssen

„Gestern Nacht haben wir unsere Zelte schon wieder aufgebaut und die von der Polizei abgebrannten ersetzt. Wenn sie ein Zelt abfackeln, bauen wir zehn neue auf“, sagt Baher Muhammad, einer der Studenten. „Unsere Botschaft an alle Parteien im Irak, alle außerhalb und alle, die auf den Iran hören: Eure Tage sind gezählt. Ihr schießt mit scharfer Munition auf uns. Ihr tötet uns, ihr sperrt uns ein. Und wir stehen immer noch hier. Glaubt ihr wirklich, nach all dem gehen wir nach Hause?“, fragt er rhetorisch.

Baher Muhammad, Student

Wenn sie ein Zelt abfackeln, bauen wir zehn neue auf“

Die junge Zahra Fuad drängt sich daneben. „Sie wollen uns Angst machen. Wir haben keine Angst, nicht einmal vor ihren Kugeln. Wir wollen einfach nur unsere Rechte. Was gibt es mehr, als uns zu töten und uns zu unterdrücken. Wir können nicht mehr länger schweigen. Es reicht uns einfach“, sagt sie aufgebracht.

Genau das beschreibt das Problem der irakischen Regierung, der konfessionellen Parteien und der Sicherheitskräfte. Denn was muss man tun, um die Protestierenden von der Straße zu bekommen? Nun, da man 600 Demonstranten erschossen hat und die Bewegung trotzdem weiter auf die Straße geht. Oder soll man doch auf sie eingehen?

„Das ist ein Aufstand der Jungen. Wir haben keine Order von irgendwelchen Parteien. Wir werden nicht abziehen, wenn irgendwelche Parteien das von uns fordern. Jeder kann zu uns stoßen. Und wer nicht kommen will, den brauchen wir nicht“, meint der Student Baher. Das ist wohl ein versteckter Hinweis auf die Anhänger des Schiitenpredigers Muktada al-Sadr, die am Samstag auf Geheiß ihrer geistlichen und politischen Leitfigur ihre Zelte auf dem Tahrirplatz abgebrochen hatten. Sadr hatte die zahlreichen Stimmen auf dem Platz nicht goutiert, die eine von ihm initiierte Großdemonstration am Freitag für einen zügigen Abzug der US-Truppen kritisiert hatten.

Auf dem Tahrirplatz sind viele Demonstranten skeptisch gegenüber dem schiitischen Politiker, der seinen Einfluss als Volksprediger nutzt, dessen Leute in Regierung und Parlament sitzen, der aber gleichzeitig die Karte der Opposition auf der Straße spielt.

Die Wild Card der irakischen Politik
Protestierende in der Innenstadt Bagdads

Friedlicher Protest trotz der Gewalt­exzesse: Studenten tragen die irakische Flagge Foto: Thaier al-Sudani/reuters

Immer wieder hat Sadr in den letzten Jahren bewiesen, dass er eine große Zahl Anhänger vor allem aus den schiitischen Armenvierteln mobilisieren kann. Dabei lässt er sich stets alle Türen offen: Mal sympathisiert er mit den Demonstranten vom Tahrirplatz und schickt sein Leute dorthin in dem Versuch die neue Protestbewegung zu kooptieren. Dann zieht er sie wieder ab, weil sie sich nicht auf seinen Kurs gegen die Präsenz von US-Soldaten im Irak einschwören lassen und weil sie für seinen Geschmack zu antiiranisch sind. Kurzum: Sadr ist derzeit die Wild Card in der irakischen Politik. Viele glauben, dass der Grund des Polizeiangriffs am Samstag darin lag, dass der Platz mit dem Abzug der Sadr-Anhänger sein Schutzschild verloren hatte.

Auf dem Platz tönt unterdessen demonstrativ ein bekanntes Protestlied mit dem Titel „Der eingezogene Schwanz“. Der Schwanz ist im Arabischen im Übertragenen das Anhängsel, mit dem vor allem jene schiitischen Gruppierungen im Irak mit starken Verbindungen zum Iran gemeint sind. Die Studenten singen lautstark mit und springen auf und ab im Takt mit der Musik. „Ihr werdet uns nicht zum Schweigen bringen, Ihr werdet uns zuhören müssen, denn wir werden immer mehr. Wir werden uns von euch jeden Millimeter unserer Rechte holen“, singen sie.

Da die religiösen schiitischen Parteien und ihre Gruppierungen, derartig unter Beschuss geraten, versuchen sie im Gegenzug ihre eigene Protestbewegung aufzustellen. Ihr Leib- und Magenthema, mit dem sie mobilisieren: der Abzug der US-Truppen aus dem Irak. Sie sehen die Tötung des iranischen Generals Soleimani auf irakischem Boden kurz nach Jahreswechsel durch die Amerikaner als eine Gelegenheit, das Heft des Handelns wieder an sich zu reißen.

Am Freitag hatten Sadr und andere religiöse schiitische Gruppierungen zu einer Großdemonstration in Bagdad aufgerufen. Anders als auf dem Tahrirplatz, zu dem die jungen Demonstranten aus eigenen Stücken kommen, hatten sie ihre Anhänger aus dem ganzen Land zusammengekarrt. Die liefen dann mit vorgefertigten Schildern herum, auf denen beispielsweise als Drohung an die US-Truppen stand: „Ihr seid in der Vertikale zu uns gekommen, ihr werdet uns in der Horizontale verlassen.“ Sadr feiert die Massenkundgebung als einen Erfolg, viele der Demonstranten auf dem Tahrirplatz merken aber an, dass Sadr nicht die Millionen mobilisieren konnte, die er angekündigt hat.

Der Abzug der Amerikaner hat keine Priorität

Auf dem Tahrirplatz will man sich nicht vor diesen Karren spannen lassen. „Jedes Problem in dieser Region fällt uns auf den Kopf. Der syrische Bürgerkrieg hat uns hier im Irak den IS beschert. Und jetzt, wo mir damit fertig sind, sind wir der Austragungsort des Streites zwischen den USA und Iran, mit dem wir nichts zu tun haben“, meint der Student Natiq Hussein, der vor einem der Zelte sitzt.

Israa Faruk, eine andere Studentin, stimmt ihm zu. „Die Ermordung Soleimanis ist nicht unser Thema. Das ist ein Thema, das über unseren Köpfen stattfindet. Wir wollen unsere Heimat verändern. Wir wollen in Frieden leben. Wir wollen Freiheit. Wir wollen die korrupte Regierung beseitigen.“ Das mit dem Abzug der Amerikaner sei nicht ihre Priorität. Sie möchte, dass ihre Forderungen nach Reformen zuerst erfüllt werden. „Wenn wir die Korruption besiegt und einen starken Staat geschaffen haben, dann werde ich mich gegen alle wenden, die die irakische Souveränität verletzen, egal ob das die Iraner oder die Amerikaner sind. Im Moment habe ich wichtigere Forderungen“, fasst sei zusammen.

Das Problem der Demonstranten auf dem Tahrirplatz ist, dass die andere Protestbewegung im Irak die lauteren Argumente hat. Wenn immer Granaten oder Katjuscharaketen in der US-Botschaft einschlagen, wie Sonntagnacht, geraten sie und ihre Forderungen in Vergessenheit. Sie versuchen sich auf ihrem Tahrirplatz mit guter Stimmung dagegenzustemmen. Sie wollen beweisen, dass sie den längeren Atem haben, und singen sich lautstark Mut zu mit ihren Hymnen über Veränderungen im Irak.

Ein Dutzend von ihnen hält nun den Rand einer Decke fest umklammert. Abwechselnd steigt einer nach dem anderen auf die Decke und wird dort unter einem 1-2-3-Anfeuerungsruf in die Luft geschleudert. So als wollten sie in all ihrer Ausgelassenheit zeigen, dass sie genug vom alten System haben, ausbrechen und vor allem endlich mal hoch hinaus wollen. Wenige Meter neben ihnen befindet sich ein Stand mit symbolischen Särgen. Dort sind zum Gedenken die Bilder ihrer Toten aufgehängt, meist sehr junge Gesichter von Demonstranten. Daneben haben sie Blumentöpfe aufgestellt. Es ist ein Bad der widersinnigen Gefühle auf dem Tahrirplatz in Bagdad. Trotzige, singende und stampfende Freude, tiefe Trauer und ein angespanntes Warten darauf, wann wieder das Peitschen von Schüssen zu hören ist.

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