Extreme Dynamik im Eiskunstlauf: Der falsche Dreh?

Bei der Eiskunstlauf-EM werden die Frauen in neue athletische Dimensionen vorstoßen. Eine Entwicklung mit Schattenseiten.

Eiskunstläuferin beim Sprung

Sprungwunder: die 15-jährige russische Eiskunstläuferin Alexandra Trussowa bei einem Wettkampf Foto: imago-images/Aflosport

Eines steht schon vor Beginn der Europameisterschaften im Eiskunstlauf, die am Mittwoch im österreichischen Graz eröffnet werden, fest: Die EM wird eine Zäsur in der Geschichte der Sportart sein. Mit den 15-jährigen russischen Teilnehmerinnen Alexandra Trussowa und Anna Schtscherbakowa sind erstmals bei einer internationalen Meisterschaft zwei Frauen am Start, die Vierfachsprünge aufs Eis zaubern können. Und zwar gleich mehrere verschiedene.

Bisher haben beide Frauen schon in Juniorenwettbewerben und in der Grand-Prix-Serie Vierfachsprünge gestanden. Und es gibt weitere Läuferinnen aus Russland und den USA, die Vierfachsprünge beherrschen, aber noch zu jung sind für die Teilnahme an Europa- und Weltmeisterschaften.

1988 hatte der Kanadier Kurt Browning bei der Weltmeisterschaft in Budapest den ersten Sprung mit einer vierfachen Umdrehung um die eigene Achse gezeigt. Inzwischen müssen Männer Vierfachsprünge beherrschen, wenn sie in der Spitze Europas und der Welt mithalten wollen. Seit etwa 2015 haben bei den Männern die Vierfachsprünge, die längst auch als Teil einer Sprungkombination gezeigt werden, explosionsartig zugenommen, und einige Männerkonkurrenzen sind leider Sturzfestivals, weil die Weltklasseläufer sich auch an Vierfachsprüngen probieren, die sie noch nicht sicher beherrschen.

„Weltmeister im Eissprunglaufen“ hatte ARD-Kommentator Daniel Weiss 2018 den Amerikaner Nathan Chen genannt, der seine waghalsigen Sprünge am besten aufs Eis gebracht hatte und damit die Welttitelkämpfe gewann – aber von der künstlerischen Seite der Sportart eher wenig zu bieten hatte.

Pubertierende im Vorteil

Ist diese Entwicklung erstrebenswert? Macht sie Eiskunstlauf für Zuschauer nicht noch weniger attraktiv? Sollte man nicht durch Regel­änderungen dagegenhalten, indem man Stürze bei Wettbewerben stärker bestraft und für einwandfrei gestandene Sprünge mehr Punkte vergibt?

Das wird international diskutiert, aber man kann der These auch entgegenhalten, dass die Sportart gerade in Ländern wie Russland, Japan, den USA und Südkorea populär ist, wo viele Sportler durch schwierige Sprünge punkten. Bei Frauenwettbewerben sind zudem Vierfachsprünge nur in der Kür gestattet, nicht im Kurzprogramm. Das bringt den Vierfachspringerinnen bei der Bewertung weniger Vorteile als den Männern, die die schwierigen Sprünge beherrschen.

Für vierfach springende Frauen ist zudem die Frage noch offen, ob sie diese Sprünge noch abrufen können, wenn sie die Pubertät hinter sich haben und sich durch die weiblichen Körper die Drehmomente ändern, oder ob danach die Eislaufkarrieren enden.

Ohne Dreifachaxel, aber mit neuem Selbstbewusstsein

Eine Schattenseite der Jagd nach immer schwierigen Sprüngen ist das hohe Verletzungsrisiko. Vierfachspringerin Anna Schtscherbakowa, die vor zwei Jahren noch bei den Juniorinnen lief, war damals eine ganze Saison verletzungsbedingt ausgefallen. Auch die deutsche Meisterin Nicole Schott stand die Hälfte der vergangenen Saison nicht auf dem Eis. Sie hatte sich im Training bei dem Versuch verletzt, einen dreifachen Axel zu springen. Das ist der schwierigste Dreifachsprung, weil er eigentlich dreieinhalb Umdrehungen bedeutet. Weltweit beherrschen ihn nur wenige Frauen.

Diese Saison ist sie ohne Dreifachaxel, aber mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattet wieder da und ihr wird in Graz eine Position unter den Top Ten zugetraut. Schott hat sich auf ihre eigentlichen Stärken besonnen: Sie läuft eine Kür zu asiatischen Klängen mit viel Temperament als Drachendompteurin, überzeugt durch interessante Schrittkombinationen und Tempowechsel und zaubert die Sprünge, die sie beherrscht, sicher auf das Eis. Ihre Kür überzeugte den Weltverband ISU so sehr, dass sie in der Kategorie „Unterhaltsamstes Programm“ für die ISU Skating Awards nominiert wurde, die im März erstmals vergeben werden, Eislauf-Oskar gewissermaßen.

Die drei russischen Teilnehmerinnen in Graz, zu denen neben den Vierfachspringerinnen noch Aljona Kostornaja gehört, die als wohl einzige Frau bei der Europameisterschaft den dreifachen Axel beherrscht, laufen in einer eigenen Liga und werden die Medaillen unter sich ausmachen. Auf den Plätzen dahinter muss Nicole Schott sich mit weiteren Konkurrentinnen messen, die das Eislaufen in Russland erlernt haben.

Mit Ekaterina Kurakova etwa und Viktoriia Safonova, die seit dieser Saison für Polen beziehungsweise Weißrussland antreten, und mit Ekaterina Ryabova, die schon das zweite Jahr für Aserbaidschan läuft. Für sie war der Nationenwechsel die einzige Chance, sich für internationale Startplätze zu qualifizieren. In ihrem Geburtsland hätten sie bei der übermächtigen Konkurrenz keine Chance gehabt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.