Album „African Paradigm“ von Mr Raoul K: Pionier der Afrobeats

Raoul K kam mit 16 aus Côte d’Ivoire nach Lübeck und machte eine Lehre. Heute produziert er House: Das Album „African Paradigm“ erzählt sein Leben.

Ein Mann mit Sonnenbrille und Dreadlocks vor weißer Wand.

Der Produzent Mr Raoul K Foto: Compost

Percussion, Handclaps und subtile elektronische Beats: Dancefloorsound, produziert in einer Lübecker Dachkemenate. Eine behutsam gezupfte Akustikgitarre, ferne Sprachfetzen, dann setzt eine Talking-Drum ein. „African Paradigm (Chapter 1–4)“ dauert zwölf Minuten. Der Titelsong des Debütalbums von ­Mr Raoul K erstreckt sich in sechs Kapiteln über das ganze Album. Allein an diesem Stück hat der ivorisch-deutsche DJ und Produzent fast zwei Jahre lang gewerkelt: „African Paradigm“ war ursprünglich mehr als 56 Minuten lang, für sein Debüt hat er den Originaltrack in etwa halbiert.

„Bei mir gibt es nicht einfach Intro, Hauptteil und Outro“, erklärt der Künstler. „Mit meinen Tracks nehme ich die Hörer:innen mit auf eine Reise.“ Längst sind Afrobeats ein weltumspannendes Genre, doch als Mr Raoul K 2007 seine erste 12-Inch-Single veröffentlicht, ist die Idee, elektronische Beats mit traditioneller afrikanischer Instrumentierung zu fusionieren, noch nicht sehr weit verbreitet.

Raoul Konan N’Dah Kouassi hat da schon eine 15-jährige Reise hinter sich, die ihn zunächst von der ivorischen Metropole Abidjan ins 5.500 Kilometer entfernte Hamburg bringt. Konan stammt aus der Republik Côte d’Ivoire, hierzulande oft noch als „Elfenbeinküste“ bezeichnet.

„Musik war allgegenwärtig. Wenn ich von der Schule kam, spielte immer irgendwer bei uns. Ich habe oft mitgetanzt. Aber selbst Musiker werden wollte ich nie.“ Konan sitzt im Büro seines Hamburger Musikverlags, trägt einen weiten grauen Wollsweater, lange Dreadlocks verdecken sein scheues Lächeln. Wenn er von seiner ersten deutschen Heimat spricht, sagt er hanseatisch „Hamburch“.

In den achtziger Jahren leidet das verhältnismäßig gefestigte Côte d’Ivoire an einer Wirtschaftskrise. 1990 wird die regierende Einheitspartei PDCI gestürzt und ein Mehrparteiensystem etabliert. Schulen und Universitäten bleiben lange geschlossen, die Lage ist angespannt. Raoul Konan ist damals 16 Jahre alt.

Noch mit Touristenvisum eingereist

„Mein älterer Bruder war schon drei Jahre zuvor nach Deutschland gekommen und half meinem Zwillingsbruder und mir, auszureisen“, erinnert sich der 43-Jährige. „Heute müssen Afrikaner beim Versuch, nach Europa zu kommen, durch die Hölle. Damals wollte niemand, der französisch sprach, nach Deutschland. Deshalb war es für mich einfach, mit einem Touristenvisum einzureisen.“

Unbeschwert blieb die Reise im Jahr 1992 trotzdem nicht. Zollbeamte ziehen die beiden Jugendlichen aus der Warteschlange und untersuchen sie auf Schmuggelwaren, sogar im Intimbereich. In Hamburg angekommen, beantragen die beiden Asyl. „Der erste Flash war der Sonnenstand. Wir sind im Sommer eingetroffen, und es wurde zehn, elf Uhr – und die Sonne in Hamburch war immer noch nicht untergegangen!“

Raoul K hatte Glück. Ein französisches Ehepaar wird auf ihn und seinen Bruder aufmerksam, holt beide aus dem Asylbewerberheim und verschafft ihnen eine Jugendwohnung. Sie lernen Deutsch, Raoul macht seine Mittlere Reife, eine Tischlerlehre folgt. „Dabei bin ich vergesslich. Als Künstler kannst du deine Mängel nutzen. Ein Fehler wird zu Kunst! Aber wenn eine Latte 1,20 Meter sein soll, kannst du sie nicht einfach auf 1,10 Meter zuschneiden. Die Feinheiten musste ich erst lernen.“

Vielversprechende Laufbahn als Fußballer

Parallel verfolgt Konan eine vielversprechende Laufbahn als Fußballer, spielt beim VfB Lübeck in der vierten Liga, sogar Zweitligavereine interessieren sich für ihn. Gerade, als seine Sportkarriere Fahrt aufnimmt, stoppt ihn eine Knieverletzung. Dann kommt der 10. Juli 1999.

„Aufgrund meines Aussehens werde ich oft schief angeschaut“, sagt Konan. „Das ist halt so. 1999 aber habe ich in Deutschland zum ersten Mal so etwas wie Liebe gespürt. Ich hatte keine Ahnung von elektronischer Musik, aber ich fuhr mit Freunden zur Loveparade nach Berlin. Dort fühlte ich mich endlich akzeptiert, alle haben mich umarmt, alle waren fröhlich. Zu dieser Welt wollte ich dazugehören.“

Konan, mittlerweile in Lübeck lebend, kauft sich zwei Plattenspieler. Er verschuldet sich, um Vinyl im Plattenladen „Underground Solution“, damals am Hamburger Bahnhof Dammtor, zu kaufen. „Ich habe nur Geld ausgegeben! Das war nicht schlimm, für mich war das wie Urlaub. Meine ersten DJ-Sets kamen in Lübeck aber nicht gut an, die waren den Leuten zu experimentell. Da habe ich mir überlegt: Ich muss mich professionalisieren, dann kann ich damit rausgehen.“

Die eigene Handschrift

Konan absolviert ein Praktikum in einem Tonstudio und kauft sich nach und nach Equipment, doch seinen ersten, selbst produzierten Tracks fehlte noch die eigene Handschrift. „Ich musste mir etwas überlegen, um meine Musik unverwechselbar zu machen. Also bin ich nach Afrika geflogen und habe vor Ort aufgenommen. Typische ivorische Popmusik hat mich aber nicht interessiert. Coupé Decalé ist dort sehr angesagt, aber da ist die Message zweitrangig. Da geht es eher um Bling-Bling, maßgebend dafür sind ivorische Auswanderer in Paris, die zu viel Geld haben.“

Während Afrobeats 2019 ubiquitär zu hören sind, war der Sound in den nuller Jahren wenig verbreitet. Wer exotisch klingen wollte, verwendete die Djembe und afrikanisch anmutenden Gesang. Mr Raoul K wagt sich an im Westen kaum bekannte Instrumente. „Die Kora haben alle für eine Gitarre gehalten“, sagt der Produzent. „Die Bassdrum habe ich bewusst zurückgenommen und stattdessen afrikanische Instrumente in den Vordergrund gestellt. Ich bin kein Musiker und kann keine Noten lesen. Aber ich wusste, wie die Instrumente zu klingen hatten. Im Studio entwickle ich eine Vision. Ich singe eine Melodie ein und spiele sie nach.“

Alle Instrumente auf „African Paradigm“ hat Mr Raoul K selbst eingespielt. Immer dabei: das Marimba-artige Balafon, ein kenianisches Mbira-Lamellofon und senegalesische Talking-Drums. Einzig für eine von einem tschadischen Musiker intonierte Akustikgitarre im Titelsong hat er vorab Platz gelassen – „ich brauchte einen Gitarristen, der die Sonne scheinen lässt.“

Es wird hypnotisch

Heute wird Mr Raoul K weltweit in Clubs gebucht. Vor kurzem hat er sein Labeldebüt bei Compost Records in München veröffentlicht. Das Doppelalbum beginnt housig, mit satten Bässen, flirrenden HiHats, dann nimmt Raoul K Tempo zurück und es wird hypnotisch. Der Künstler lässt sich stets Zeit, baut einen Track behutsam auf und widmet sich minutenlang einnehmender akustischer Percussion, kaum hörbar begleitet von Elektronik.

„O Mera Dil (Oh My Heart)“ lässt sich sieben Minuten Zeit, bis die Beats einsetzen, doch der Track bleibt in atmosphärischen Synthie-Wolken schweben, mit minimaler Percussion und einem Vocal Feature von Lady Parul, einer in Toronto beheimateten Sängerin mit indischen Wurzeln.

Raoul K: „African Paradigm“ (Compost/Groove Attack)

„Für mich geht es darum, auf dem Album zusammenzukommen“, sagt Raoul Konan. „Es ist meine Vision von Afrika – und dazu gehören auch Europäer. In Côte d’Ivoire herrscht zurzeit eine radikale Stimmung, viele lehnen eine Zusammenarbeit mit Weißen grundsätzlich ab. Ich weiß, was Rassismus ist, und ich möchte das Gleiche nicht andersherum erleben. Die Welt wird globaler, wir müssen zusammenhalten.“ Ein Mensch als Musterbeispiel: Das „African Paradigm“, von dem der Albumtitel kündet, wird von Konan selbst vorbildlich repräsentiert.

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