Wirtschaftsweiser über die Konjunktur: „Auf Steuergeschenke verzichten“

Achim Truger sieht keine Rezession aufkommen – dank niedriger Zinsen. Er warnt vor Steuerentlastungen für Unternehmen.

Ein Mann steht vor einer grauen Wand

Achim Truger: „Die Unternehmensteuern sind in Deutschland nicht zu hoch“ Foto: André Wunstorf

taz: Herr Truger, kommt es zu einer Wirtschaftskrise?

Achim Truger: Wohl nicht. Alle Prognosen gehen davon aus, dass es keine Rezession geben wird. In der Industrie sinken die Umsätze zwar, aber die Konjunktur ist zweigeteilt: Die Dienstleistungen laufen gut, der Arbeitsmarkt ist stabil. Deutschland dürfte daher an einer Rezession vorbeischrammen.

Wie kann das sein? Bisher ist die Gesamtwirtschaft immer in eine Krise geraten, wenn die Industrie einbrach.

Die Zinsen sind niedrig, so dass der Bausektor boomt. Zudem sind die Löhne deutlich gestiegen, weil der Arbeitsmarkt brummt. Der Konsum läuft und stützt die Konjunktur.

Hat EZB-Chef Mario Draghi also alles richtig gemacht, indem er die Zinsen nach unten getrieben hat?

Draghis Geldpolitik hat die Konjunktur stark gestützt und den Euro gerettet. Ohne die niedrigen Zinsen würde die Wirtschaft in der Eurozone und auch in Deutschland abstürzen.

Aus Deutschland kommt aber häufig der Vorwurf, die Sparer würden „enteignet“.

Etwas plakativ formuliert: Die Leute müssen entscheiden, ob sie lieber Zinsen kassieren oder arbeitslos sein wollen. Wenn die Zinsen steigen würden, wären Kredite teurer, und es würde für die Unternehmen schwierig zu investieren.

Also ist die deutsche Wirtschaft doch in Gefahr?

Nein, die Zinsen bleiben ja niedrig. Im Sachverständigenrat gehen wir davon aus, dass sich die Exporte 2020 spürbar erholen, weil sich die Handelskonflikte nicht verschärfen.

Wenn die Lage so wenig dramatisch ist: Muss die Bundesregierung überhaupt etwas tun?

Derzeit nicht. Der Staat stützt die Konjunktur schon erheblich: 2020 nehmen die zusätzlichen Ausgaben um acht Milliarden Euro zu; die Steuern werden um gut sechs Milliarden Euro gesenkt. Da besteht erst einmal kein Bedarf für ein Konjunkturpaket obendrauf.

Und falls sich die Wirtschaftslage doch eintrübt?

Darauf kann man sich vorbereiten und könnte dann zum Beispiel befristet das Kindergeld erhöhen. Wobei wichtig wäre, dass dies nicht auf Hartz IV angerechnet würde, damit jede Familie vom Geldsegen profitiert.

Die Union würde bestimmt fordern, auch die Unternehmen steuerlich zu entlasten. Wäre das sinnvoll?

Den Betrieben könnte man helfen, indem man die beschleunigte Abschreibung wieder einführt. Dadurch würden die Firmen animiert, ihre Investitionen vorzuziehen. Aber wie gesagt: Bisher gibt es keinen Bedarf für ein Konjunkturpaket.

Warum fordern Sie dann trotzdem ein riesiges Investitionsprogramm?

Das tun mittlerweile viele Ökonomen. Auch die Industrie und die Gewerkschaften fordern, dass in den nächsten zehn Jahren 450 Milliarden Euro ausgegeben werden. Wir haben enorme Bedarfe: im Klimaschutz, bei der Bildung, in der Infrastruktur, bei der Digitalisierung. Es wurde überall zu wenig investiert durch die jahrelange Sparpolitik

Das wären 45 Milliarden Euro pro Jahr. Wie soll das mit der Schuldenbremse vereinbar sein?

Es ginge als Extrahaushalt, der die Sachaufgabe hätte, Zukunftsinvestitionen in Deutschland voranzubringen.

Böse Zungen würden das einen „Schattenhaushalt“ nennen.

Extrahaushalte sind nichts Ungewöhnliches. Die Sozialversicherungen, wie etwa die Rentenkasse, unterliegen auch nicht der Schuldenbremse, sondern sind davon ausgenommen.

Die Rentenkasse verschuldet sich aber nicht im großen Stil.

Es gäbe ja einen Gegenwert. Wenn der Staat Schulden aufnimmt, um Klimaschutz zu betreiben oder in die Digitalisierung zu investieren, dann entstehen Vermögenswerte. Niemand würde dadurch ärmer, sondern alle würden reicher.

Würde das zusätzliche Geld überhaupt abfließen? Die Deutsche Bahn sagt, dass sie weitere Milliarden gar nicht gebrauchen kann – weil ihr unter anderem die Bauingenieure fehlen, um noch mehr Projekte zu betreuen. Ähnliche Klagen kommen von den Bauämtern.

Dies sind die Fehler der Vergangenheit, die sich jetzt rächen. In den kommunalen Bauämtern wurde bis 2015 in großem Maßstab Personal abgebaut. Deswegen ist es so wichtig, dass sich der Staat verpflichtet, in den nächsten zehn Jahren stetig zu investieren. Nur wenn Bauämter und Bauindustrie einen langfristigen Planungshorizont haben, werden sie neues Personal einstellen und die Kapazitäten erweitern.

Wie wahrscheinlich ist es denn, dass die Große Koalition tatsächlich ein Investitionsprogramm von 450 Milliarden Euro auflegt?

Die Chancen stehen so gut wie nie. BDI und DGB setzen sich gemeinsam dafür ein. Denn die Bedarfe sind enorm, ob beim Klimaschutz oder bei der Digitalisierung, und gleichzeitig sind die Kosten so niedrig, weil die Zinsen im Keller sind.

Die Union scheint aber ein eigenes Lieblingsthema zu verfolgen: Kanzlerin Merkel hat angekündigt, dass die Unternehmensteuern dauerhaft sinken müssen.

Die Unternehmensteuern sind in Deutschland nicht zu hoch. Das Problem der Firmen sind nicht die Steuern, sondern eher die fehlenden Fachkräfte.

Und warum wird dann über die Steuern geredet?

Das ist ein Projekt der Unternehmensverbände, die ihre Existenz rechtfertigen müssen. Es gibt auch eine psychologische Komponente: Vielleicht haben die Unternehmer das Gefühl, dass die Politik seit 2017 vor allem soziale Schwerpunkte gesetzt hat. Jetzt möchten sie auch etwas bekommen.

Die neuen SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans haben bereits signalisiert, dass sie bereit wären, über eine Reform der Unternehmensteuer zu sprechen.

Sie haben aber auch gesagt, dass es eine Gegenfinanzierung geben muss, die die höheren Einkommensgruppen belasten soll. Das finde ich richtig. Wohlhabende und Unternehmen sind seit 1998 bereits stark auf Kosten der unteren 70 Prozent der Bevölkerung entlastet worden. Zudem gibt es für Steuergeschenke gar keinen Spielraum: Das Wachstum ist so schwach, dass die Steuereinnahmen kaum steigen, und der Soli wird ab 2021 zur Hälfte gestrichen, was bereits zehn Milliarden Euro pro Jahr kostet.

Achim Truger, 51, ist seit März 2019 Mitglied des Sachverständigenrats der "Wirtschaftsweisen", der die Bundesregierung in wirtschaftlichen Fragen berät. Er wurde von den Gewerkschaften nominiert, denen traditionell ein Sitz im fünfköpfigen Gremium zusteht. Seit April 2019 ist Truger Professor für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Staats­tätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen.

Aber es scheint genug Geld vorhanden zu sein, damit Finanzminister Olaf Scholz vorschlagen kann, 2.500 deutsche Kommunen von ihren Schulden zu befreien. Was halten Sie davon?

Das halte ich für richtig und wichtig. Die überschuldeten Kommunen liegen meist in wirtschaftsschwachen Regionen und leiden unter einem Strukturwandel, für den sie nicht verantwortlich sind. Diese Kommunen sparen schon seit Jahrzehnten, können also nicht in die Zukunft investieren und werden ihre Schulden trotzdem nicht los. Ein Teufelskreis. Die Kosten dieser Entschuldung sind für Bund und Länder überschaubar, fallen größtenteils nur einmal an und müssten selbst im Rahmen der Schuldenbremse finanzierbar sein.

Sie sind Berater der Bundesregierung. Was wäre Ihre Empfehlung für dieses neue Jahr?

Auf weitere Steuergeschenke verzichten – und ein großes langfristiges Investitionsprogramm starten. Zukunftsprojekte gibt es genug.

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