Prozess gegen KZ-Wächter: Eine SS ohne Nazis

Ein SS-Wachmann, der wegen Beihilfe zu 5.230 Morden angeklagt ist, erinnert sich kaum. Überlebende haben die Grausamkeiten im KZ nicht vergessen.

Alter Mann, umlagert von Reportern mit Mikrofonen

Hat das KZ Stutthof überlebt: Abraham Koryski kam aus Israel zu dem Prozess Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz | Hut, Sonnenbrille und Aktenmappe vor dem Gesicht: An jedem Prozesstag schiebt ein Justizbeamter Bruno D. mit diesem Schutz vor den Fotografen in einem Rollstuhl in den Saal des Hamburger Landgerichts. Der Rentner, ein Mann mit vollem grauen Haar und Schnauzer, möchte in der Öffentlichkeit nicht erkannt werden. Als ehemaliger SS-Wachmann ist D. angeklagt, im Konzentrationslager (KZ) Stutthof östlich von Danzig Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen geleistet zu haben.

Elf nicht öffentliche Verhandlungstage gab es bisher. Die Jugendstrafkammer verhandelt, da der heute 93-Jährige damals ein Jugendlicher war. Mit fester Stimme betont er im Prozess mehrfach, dass er „nicht schuldig“ sei. Vom „Herzen aus“ wäre er auch kein „SS-Mann gewesen“ – seine Kameraden ebenso nicht.

Eigentlich sollte das Urteil bereits am 18. Dezember fallen. Der Prozess zieht sich aber hin, denn der Angeklagte ist nur eingeschränkt verhandlungsfähig. Pro Woche finden höchstens zwei Verhandlungstage statt, die auf zwei Stunden mit längerer Pause beschränkt sind.

Die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring befragt Bruno D. äußerst geduldig. Der frühere SS-Mann, dessen Tochter zur Unterstützung neben ihm auf der Anklagebank sitzt, redet auch, will aber viel vergessen oder gar nicht wahrgenommen haben. Von August 1944 bis April 1945, so sagt er es selbst, war er in dem KZ eingesetzt. Er hat auf einem Wachturm gleich neben dem Krematorium Wache gehalten. Einen Posten, über den sich andere SS-Wachmänner wegen des Geruchs der verbrannten Leichen beschwerten.

Der Beschuldigte sah die nackten Frauen

Der Beschuldigte sah die nackten Frauen und hörte die Schreie aus der Gaskammer. „Sie taten mir furchtbar leid“, sagt D. im Prozess. Er beruft sich allerdings auf den vermeintlichen Befehlsnotstand.

Doch Richterin Meier-Göring fragt weiter nach: „Wie fanden Sie es, SS-Mann zu sein? Fanden Sie das nicht auch schick?“ D. lacht. Er sei einfach gezogen worden. Und: „Nee. Ich fand die Uniform nicht schick“. „Das hat Ihnen nichts bedeutet?“ fragt Meier-Döring weiter. „Nein“, antwortet er.

An anderer Stelle verrät D. jedoch, er habe sich mit seinen Wachkameraden verstanden: „Ich glaube nicht, dass da echte Nazis dabei waren, da war keiner, der dafür in Verdacht kam.“ Sein Argument: Dann hätten sich die Männer in der Wachkompanie doch früher selbst der SS angeschlossen.

Das im August 1944 bis Anfang 1945 etwa 44.000 Gefangene ins KZ Stutthof kamen, will D. nicht bemerkt haben. „Ich kann das nicht glauben“, sagte Meier-Göring. „Entweder Sie lügen uns an oder es sind Bilder, die so schrecklich waren, dass Sie sie verdrängt haben.“

Oder sei etwas anderes passiert, dass er verschweigen wolle? Ob sein Gewehr womöglich doch zum Einsatz gekommen sei, fragt die Richterin. D. verneint nun nicht mehr ganz so ruhig und scheint genervt. Er hätte das nicht „okay“ gefunden. Aber: „Ich konnte das Leid nicht mindern.“

Bruno D., Ehemaliger SS-Wachmann

„Ich glaube nicht, dass da echte Nazis dabei waren. Da war keiner, der dafür in Verdacht kam.“

Von diesem Leid berichten in dem Verfahren viele Zeug*innen. 33 Überlebende und Angehörige von Opfern sind Nebenkläger*innen. Ihre Aussagen hört sich D., meist mit Kopfhörern, um besser hören zu können, ohne sichtbare Regung an. Im Saal 300 des Landgerichts schildert unter anderem Abraham Koryski schwerste Misshandlungen durch die Wachen.

„Wir wurden ständig verprügelt, die ganze Zeit, auch während der Arbeit“, berichtet der 91-Jährige. Mehrfach habe er sadistische „Shows“ der SS erleben müssen. Ein SS-Offizier habe einen Vater und dessen Sohn vor allen Inhaftierten dazu aufgefordert, sich zu entscheiden: Entweder er erschieße einen von beiden oder einer prügele den anderen tot. Der Vater entschied, dass der Sohn ihn erschlagen solle. „Er tat es“, sagt Koryski. „Danach wurde der Sohn erschossen.“

Die Menschen mussten nachts nackt bei Minustemperaturen duschen und zurück zu den Baracken laufen. „Viele starben nach solchen Aktionen“, berichtet Koryski, der die Leichen aufsammelte und zum Krematorium brachte.

Mehrere Stunden konnten die „Lager-Appelle“ laufen. Mütze auf, Mütze runter, hieß es immer wieder. „Reiner Sadismus“ sagt Koryski, der heute mit seiner Familie in Israel lebt. Auf dem Acker, auf dem Appelle stattgefunden hätten, habe es keine Wachtürme gegeben. Doch bei vielen anderen Taten, so der Überlebende, seien die Wachmannschaften überall dabei gewesen.

„Niemandem etwas getan“

Der Angeklagte D. hatte auf Nachfrage der Richterin ausgesagt, von Appellen, Hinrichtungen, Toten im Zaun oder Menschen, die von Hunden zerrissen wurden, nichts mitbekommen zu haben. Er habe „niemandem etwas getan“, beteuerte er.

Koryski sagte aus, dass die Wachleute nicht bloß auf den Türmen gestanden hätten. „Man hat nie Gesichter gesehen, man wollte keine Gesichter sehen. Wir hatten Angst.“

Zwischen seinen Sätzen wird es im Saal ganz still. Die Schilderungen Koryskis hallen bei den zugelassenen Journalist*innen, Nebenklageanwält*innen, Betroffenen und Historiker*innen, nach.

Als Richterin Meier-Göring den Überlebenden Koryski fragt, warum er aussagen wollte, beginnt dieser zu weinen: „Ich hatte Angst vor dieser Frage“, sagt er. Es sei nicht einfach. Er wolle nicht aus Rache berichten, er wolle beschuldigen und nicht verzeihen. Seine persönliche Rache sei seine Familie, seine Angehörigen, die im Saal seien.

Koryski will nicht verzeihen

Dass Koryski betont, dass er nicht verzeihen wolle, könnte der früheren Aussage von Moshe Peter Loth am siebten Verhandlungstag geschuldet sein. Der 76-Jährige hatte betont, nicht bloß dem Beschuldigten nichts nachzutragen. Ganz nüchtern hatte er D. gefragt, wie er sich „heute fühle? Bedauern Sie etwas?“ „Ja, natürlich“ sagte D. und wiederholte „keine Möglichkeit gehabt zu haben, etwas gegen das Leid“ zu tun.

Moshe Peter Loth bat D. da­raufhin, ihm in die Augen zu sehen. „Würden Sie mir vergeben? Für den Hass und die Wut, die ich zeitweise auf die Deutschen hatte?“, fragte er. Und der Beschuldigte antwortete: „Sicher, ich habe keinen Hass.“ Loth stand vom Zeug*innenplatz auf und sagte zu den Zuschauer*innen:

„Passen Sie alle auf! Ich werde ihm vergeben.“ Dann umarmten sich die beiden Männer fest. Loth wurde 1943 im KZ Stutthof geboren. Er und seine Mutter überlebten, verloren sich jedoch. Erst in der 1950er-Jahren fand Loth, der in den USA lebt, seine Mutter wieder.

Kurz vor ihrem 95. Geburtstag besucht auch die Überlebende Esther Bejarano den Prozess. In Auschwitz gehörte sie zum sogenannten Mädchenchor. Sie spielte Akkordeon und entging deswegen den Gaskammern. Als Besucherin ist die Musikerin, die auch mit den Rappern der „Microphon Mafia“ unermüdlich gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus singt, ins Landgericht gekommen.

Bejerano spricht von einer Farce

„Ich war zum ersten und letzten Mal hier“, sagt Bejarano nach dem Verhandlungstag. Sie könne es nicht ertragen, dass ein Mensch, der im KZ dabei war, behaupte, er habe nichts gesehen. „Wer dabei war, hat alles gewusst und damit ist er meiner Meinung nach auch schuldig.“

Es sei eine „Farce“, über die Rolle des Beschuldigten so aufwendig zu verhandeln, so Bejarano: „Ich erwarte, dass dieser Mann verurteilt wird.“ Auch wegen der anhaltenden rechten Entwicklungen müsste das Verfahren weitergeführt werden, selbst wenn der Angeklagte wegen seines Alters nicht mehr ins Gefängnis müsse.

Am 26. Februar könnte das Urteil fallen. Zuvor sind zehn weitere Verhandlungstage geplant.

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