Hinterbliebene über rassistischen Mord: „Ich war sehr alleine“

Vor 34 Jahren wurde Gülüstan Avcıs Verlobter Ramazan von rechten Skins brutal ermordet. Ein Gespräch über Erinnerung und Gerechtigkeit.

Gülüstan Avcı kniet neben der Gedenktafel für ihren getöteten Verlobten

Gülüstan Avcı an der Gedenktafel für ihren ermordeten Verlobten Ramazan Avcı Foto: Miguel Ferraz

taz: Frau Avcı, wir sitzen hier nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem eine Gedenktafel an Verlobten erinnert. Was bedeutet Ihnen dieser Ort?

Gülüstan Avcı: In diesem Jahr konnte ich nicht so oft kommen, weil ich operiert wurde. Aber normalerweise bin ich regelmäßig hier und setze mich auf die Bank neben der Tafel. Und manchmal rede ich dann mit Ramazan.

Wie erinnern Sie sich an ihn?

Ich habe viele Erinnerungen, wenn ich die alle erzählen würde, käme ein Roman dabei heraus. Er war ein guter Mensch, hatte viele gute Eigenschaften. Er war gerade erst 26 Jahre alt geworden, aber für sein Alter war er Frauen gegenüber schon ein richtiger Gentleman.

Sprechen Sie darüber auch mit Ihrem gemeinsamen Sohn?

Natürlich. Ich war im sechsten Monat schwanger und hatte so starke Zahnschmerzen, dass wir in die Notklinik nach Eppendorf fahren mussten. Aber wir waren zu der Zeit nicht so flüssig und konnten uns kein Taxi leisten. Wir mussten mit dem Bus fahren und der stand schon an der Haltestelle. Ich konnte aber nicht dahin laufen, weil ich halt schwanger war. Und Ramazan ist dann schnell dahin gelaufen und hat den Busfahrer gebeten, auf mich zu warten. Das hat der dann auch gemacht. Das habe ich neulich zum Beispiel meinem Sohn erzählt. Und er hört immer interessiert zu, wenn ich von seinem Vater erzähle, den er ja nie kennengelernt hat.

Am 21. Dezember 1985 werden Ramazan Avcı und zwei Begleiter, darunter Avcıs Bruder, am S-Bahnhof Landwehr in Hamburg von rechten Skinheads angegriffen. Die Begleiter können fliehen. Avcı wird mit Holzkeulen, Axtstielen und Gummiknüppel geschlagen und getreten. Er stirbt an Heiligabend im Krankenhaus.

Wenige Tage später bringt Avcıs Verlobte den gemeinsamen Sohn zur Welt.

1986 werden vier Rechte wegen Totschlags zu Strafen zwischen drei und zehn Jahren, teilweise nach Jugendstrafrecht, verurteilt. Prozessbeobachter kritisierten, dass das rassistische Tatmotiv nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

2012 wurde der Tatort Ramazan-Avcı-Platz genannt.

Wann haben Sie Ihrem Sohn erzählt, was mit seinem Vater geschehen ist?

Als er ungefähr acht Jahre alt war, wurde ihm in der Schule gesagt, alle Eltern sollten zum Elternabend kommen, Vater und Mutter. Als er nach Hause kam, hat er mich gefragt, warum sein Papa gestorben ist. Da habe ich es ihm erzählt.

Haben Sie da schon über die Hintergründe der Tat gesprochen?

Nein, ich habe immer versucht, ihn davon fernzuhalten. Er hat immer ein bisschen mitbekommen, wenn ich mit seinen Onkeln darüber gesprochen habe. Aber die Hintergründe habe ich ihm erst erzählt, als er 13 oder 14 Jahre alt war. Da meinte ich, dass er vom Alter her soweit ist, das zu verstehen, und habe ihm alles ausführlich erzählt.

Wie hat die Ermordung Ihres Verlobten Ihr Leben verändert?

Ich hatte ja zuvor in Heidelberg gelebt, war gerade ein Jahr in Hamburg. Als ich hier ankam, habe ich sofort Ramazan kennengelernt und wir haben uns ineinander verliebt. Nach der Tat wollte ich eigentlich nicht hier bleiben. Darüber habe ich mit dem türkischen Generalkonsul in Hamburg gesprochen. Er sagte, ich solle hier bleiben, sonst würde ich denen einen Gefallen tun, die mich nicht hier haben wollen. Und dann bin ich geblieben. Das war aber keine leichte Entscheidung.

57, konnte den Namen ihres 1985 ermordeten Verlobten Ramazan Avcı nicht mehr annehmen, möchte aber Avcı genannt werden. Sie lebt in Hamburg. Das Gespräch wurde von einem Freund von der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı übersetzt.

Denken Sie heute darüber nach, Deutschland zu verlassen?

Mein Sohn ist erwachsen und selbstständig, deshalb überlege ich schon. Vielleicht möchte ich mal ein paar Monate in die Türkei, aber so richtig wohl fühle ich mich dort auch nicht. Sie wissen ja, wie es da gerade aussieht. Vielleicht möchte ich auch zurück nach Heidelberg. Ein Teil meiner Familie lebt dort und ich mag die Stadt wirklich gerne, würde gerne dort leben. Anderseits kann ich Hamburg nicht einfach verlassen.

Warum nicht?

Ich komme mir komisch vor, wenn ich die ganzen Erinnerungen an die Dinge, die ich mit Ramazan hier in Hamburg erlebt habe, einfach hierlasse und wegziehe.

21. Dezember, 16 Uhr. Ramazan-Avcı-Platz, S-Bahnhof-Landwehr, Hamburg.

Nach dem Tod Ramazans gab es eine Solidaritätsdemo in Hamburg. Hat Ihnen das geholfen?

Ich hatte gerade das Kind auf die Welt gebracht und wurde ziemlich abgeschottet. Ich habe mich auch selbst abgeschottet, weil ich die Ereignisse gar nicht habe verarbeiten können. Ich habe das alles gar nicht mitbekommen und erst später gehört, dass so viele daran teilgenommen haben. Aber man muss auch sagen, dass danach die Solidarität abgebrochen ist.

Hatten Sie keine Unterstützung?

Ich habe das Kind ganz allein großgezogen. Bis zu seinem 18. Geburtstag hat der CDU-Politiker Wolfgang Kramer meinen Sohn monatlich mit 200 Euro unterstützt. Von der Stadt oder dem Staat hat sich niemand um uns gekümmert. Mein Sohn ist jetzt 33 Jahre alt und bis jetzt hat niemand von offizieller Seite auch nur einmal an unsere Tür geklopft. Wenn es die Initiative zum Gedenken an Ramazan nicht gäbe, wäre der Platz bis heute nicht nach ihm benannt.

Die Initiative wurde 2010 von Ihnen bis dahin Fremden gegründet. Wie war das für Sie?

Vorher war ich sehr alleine. Als die Initiative auftauchte, habe ich gefühlt, dass diese Menschen hinter mir stehen. Bis dahin habe ich mich immer zurückgehalten und bin nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Durch sie habe ich Mut gefasst und mich an die Öffentlichkeit gewandt, damit diese Tat nicht in Vergessenheit gerät.

Es hat dann aber noch einmal zwei Jahre gedauert, bis der Platz nach Ramazan benannt wurde.

Wegen der Bürokratie hat das sehr lange gedauert. Das hat mich stark belastet, weil ich einen Platz wollte, an dem ich trauern kann. Ich wollte diesen Platz, damit Ramazan auf diese Weise weiterlebt. Aber er ist ja schließlich umbenannt worden und das macht mich auf eine Art und Weise auch glücklich.

Waren Sie damals beim Prozess gegen die Täter im Gericht?

Nein, Ramazans Bruder, der an dem Tag auch angegriffen wurde, und sein älterer Bruder waren dort.

Wollten Sie nicht?

Ich habe die Mörder nie gesehen und ich wollte sie auch nicht sehen. Ich glaubte, mich ihnen gegenüber nicht im Zaum halten zu können und dass ich vielleicht überreagieren würde.

Haben Sie diese Gefühle noch?

Das muss ich mit Jein beantworten. Als mein Sohn Ramazan auf die Welt kam, ist dieses Gefühl von Wut weniger geworden. Aber in manchen Situationen kommt es hoch.

Finden Sie die Strafe für die Täter angemessen?

Ich habe gehört, dass sie nur Strafen von wenigen Jahren bekommen haben, und habe mich geärgert, dass sie nicht richtig büßen mussten.

Was wäre gerecht gewesen?

Ich verstehe das einfach nicht. Für so eine brutale Tat, bei der einem Menschen der Kopf zertrümmert wurde, hätte ich härtere Strafen erwartet. In Deutschland wird oft darüber geredet, dass es in der Türkei wenige Menschenrechte gibt. Aber wenn Sie mich fragen, habe ich auch hier im Bezug auf Menschenrechte gelitten. Ich bin erst vor Kurzem wieder angegriffen worden, das weiß nur keiner, weil ich nicht bei der Polizei war.

Was ist passiert?

Meine Cousine und ich waren in Barmbek unterwegs und da kam ein Mann, der hat gesagt „Scheiß Türken“ und hat mich angerempelt. Ich bin hingefallen, habe mir die Hand aufgeschlagen und hatte danach Rückenschmerzen.

Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?

Ich war im Stress, weil ich in den Vorbereitungen für die Hochzeit meines Sohnes steckte. Ich habe mir von der Polizei auch nichts erhofft.

Ist das mangelnde Vertrauen in die Polizei Folge von dem Umgang mit den Tod Ihres Verlobten?

Genau das. Wenn Du Ausländer bist, kannst du nicht damit rechnen, dass so etwas verfolgt wird.

Wie erleben Sie das gesellschaftliche Klima derzeit?

Ich verfolge die Nachrichten, so gut es geht, und höre immer wieder, dass Rechtsradikale im Bundestag sitzen. Wenn man wie ich so eine Tat erlebt hat und gerade ein Enkelkind bekommen hat, dann gehen einem da schon manchmal traurige Gedanken durch den Kopf.

Stehen Sie auch in Kontakt mit anderen Opfern von rechtsextremer Gewalt?

Mit fast allen. Familie Arslan aus Mölln ist regelmäßig hier. Und mit der Familie von Süleyman Taşköprü habe ich auch Kontakt. Und mit vielen anderen, die namentlich nicht so bekannt sind. Wir haben ein Netzwerk, das gibt mir Kraft. Und ich nehme bundesweit an Veranstaltungen gegen Rassismus teil.

Zum Jahrestag des Angriffs auf Ihren Verlobten wird es am 21. Dezember wieder eine Kundgebung am Ramazan-Avcı-Platz geben. Was wünschen Sie sich für diesen Tag?

Ich habe keine großen Erwartungen. Ich wünsche mir nur, dass die Menschen dort sind, Solidarität zeigen und hinter uns stehen, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Damit wir ein normales Leben führen können, ohne Hass.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.