Neue Pisa-Studie: Der nächste Schock

Die deutschen Schüler:innen haben sich verschlechtert. Gut ist das Bildungssystem hingegen in sozialer Auslese. Warum greifen die Reformen nicht?

Ein Schüler liegt in einem Gang im Stefan-George-Gymnasium auf dem Boden.

Leistung, bitte! Die Pisa-Ergebnisse deutscher SchülerInnen haben sich verschlechtert Foto: Andreas Arnold/dpa

BERLIN taz | Die neue Pisa-Studie, deutete OECD-Bildungsdirektor Andreas ­Schleicher vor wenigen Tagen gegenüber Journalis­t:in­nen an, werde keine Überraschungen bringen. Jedenfalls nicht für diejenigen, die sich intensiv mit Bildungsforschung beschäftigten.

Und tatsächlich: Für die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler, die Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) am Dienstag zusammen mit dem Präsidenten der Kultusministerkonferenz (KMK), Alexander Lorz (CDU), in Berlin vorgestellt haben, trifft Schleichers Vorhersage zu.

Die Leseleistung an deutschen Schulen, die dieses Mal im Fokus der Studie stand, hat sich im Vergleich zu 2015 – wie auch die Ergebnisse in Mathe und in den Naturwissenschaften – leicht verschlechtert. Vor allem die Leistungen abseits des Gymnasiums sind alarmierend. So liegt der Anteil der leseschwachen Schüler:innen, die nur die unterste Kompetenzstufe erreichen, an diesen Schulen bei 29 Prozent (Gymnasium: 2 Prozent).

Das heißt: Fast jeder dritte 15-Jährige an nichtgymnasialen Schulen kann den Sinn eines Textes nicht erfassen. Bei der Pisa-Studie 2009 war es „nur“ jeder Fünfte. Positiv ist lediglich, dass der Anteil leistungsstarker Schüler:innen gestiegen ist.

Probleme schon in der Grundschule

Das maue Abschneiden beim Lesen hat sich angedeutet. So hat etwa die jüngste Grundschulstudie Iglu, die vor einem Jahr erschien, festgestellt, dass jeder fünfte Viertklässler am Ende seiner Grundschulzeit nicht lesen kann. Seit 15 Jahren nun stagniert die Lese-Leistung der Grundschüler:innen. Die Schere zwischen guten und schlechten Schüler:innen aber geht immer weiter auseinander – genau wie auch bei der aktuellen Pisa-Studie. Mit anderen Worten: Die Grundschulen produzieren regelmäßig jene „Problemschüler:innen“, die später bei den Pisa-Tests auffallen.

Trotz dieser Ergebnisse steht Deutschland – und das ist die eigentliche Überraschung der Pisa-Studie 2018 – international besser da als zuvor. Das liegt aber vor allem daran, dass sich die anderen Länder verschlechtert haben. Dementsprechend deutlich fallen auch die Reaktionen aus. „Mittelmaß kann nicht unser Anspruch sein“, sagt Bildungsministerin Karliczek (CDU) am Dienstag. Den hohen Anteil leseschwacher Schü­le­r:in­nen bezeichnete sie als „besonders bedenklich“.

Klare Worte findet auch Michael Becker-Mrotzek, Mitautor des aktuellen Pisa-Berichts und Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache. „Die Kluft zwischen leistungsstarken und -schwachen Schülern ist in Deutschland zu groß. Gleiches gilt für den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds.“ Das deutsche Bildungssystem müsse diese Hürden nun systematisch abbauen.

Nur: Warum ist das bisher nicht gelungen? Fast 20 Jahre sind vergangen, seitdem die erste Pisa-Studie exakt dieselben Defizite – große Leistungsunterschiede zwischen den Schü­le­r:in­nen und große soziale Auslese – benannt hat. Zur Erinnerung: Ende 2001 wurde bekannt, dass deutsche SchülerInnen in allen Leistungsbereichen unter dem OECD-Durchschnitt liegen. Und dass in keinem anderen Land der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg größer war. Anders formuliert: Deutschland war Spitze nicht in der Leistung, sondern in der soziale Auslese.

Nach Pisa: Tests, Tests, Tests

Noch am gleichen Tag legten die Kultusminister:innen damals einen umfassenden Handlungskatalog vor. Einige Länder zogen daraufhin die Einschulung nach vorne (etwa Berlin), andere begannen, die Ganztagsbetreuung auszubauen (unter anderem NRW, Brandenburg, Rheinland-Pfalz). Und: Alle Bundesländer begannen, Standards für Schülerwissen zu definieren und dies regelmäßig abzufragen. Unter anderem erfasst nun der Bildungstrend des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) regelmäßig die Kompetenzen von Viert- und Neuntklässler:innen. Die Tests bestätigen, wie dringend der Handlungsbedarf ist.

Ein Mädchen eines Stuttgarter Gymnasiums meldet sich.

Schneiden bei Pisa deutlich besser ab: Gymnasiast:innen. Foto: Marijan Murat/dpa

„Ohne Pisa hätten wir heute in Deutschland sicher nicht so viele Daten über unser Schulsystem“, sagt Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) der taz. Dass es mittlerweile so ein breites datenbasiertes Monitoring gibt, das den Schulen und Ländern regelmäßig den Leistungsstand spiegelt, sei der erste Schritt, um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Warum aber die Reformen, die sich das Bildungsland Deutschland seit dem „Pisa-Schock“ 2001 auferlegt hat, so geringe Wirkung zeigen, sei hingegen schwer zu erklären. „Leider kann die Bildungsforschung hierauf keine abschließende Antwort geben“, sagt Maaz. Zum einen geben die Daten aus den Pisa-Studien allein nicht genug Aufschluss über die Ursachen der Ergebnisse. Zum anderen konzentriere sich die Politik in ihren Gegenrezepten zu stark auf die Schule.

„Die Maßnahmen können sinnvoll sein, überfordern aber möglicherweise die Schulen, weil ihnen schlicht die Ressourcen für die Umsetzung fehlen“, so Maaz. Bei der starken Auslese im Bildungssystem komme noch hinzu, dass das Elternhaus einen großen Anteil am Bildungserfolg der Kinder hat. „Selbst wenn ein leistungsschwacher Schüler optimal gefördert wird, dürfte er kaum besser lesen oder schrei­ben können als der Mitschüler aus der Akademikerfamilie.“

Politikum Zuwanderung

Insgesamt rät Maaz dazu, die Pisa-Ergebnisse möglichst differenziert zu betrachten. Man könne zum Beispiel prüfen, ob die leichte Verschlechterung im Vergleich zu 2015 möglicherweise auch mit dem starken Zuzug nach Deutschland zu erklären ist. Wenn ja, seien die Ergebnisse positiver zu bewerten, als es auf den ersten Blick aussehe.

Ähnlich sieht man das auch in der Politik: KMK-Präsident Lorz zieht sogar ein positives Fazit aus den aktuellen Pisa-Leistungen in Deutschland: „Es gelingt den Schulen, bei einer deutlich stärkeren Heterogenität der Schülerschaft weiterhin gute Ergebnisse im internationalen Vergleich zu erzielen“, lobt Lorz die Arbeit der Länder.

Ilka Hoffmann, die bei der Bildungsgewerkschaft GEW den Bereich Schule leitet, hält die Heterogenität an den Schulen für ein vorgeschobenes Argument. „Schon vor dem Zuzug nach Deutschland 2015 hat es bei der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund in unser Schulsystem gehakt.“ Die Pisa-Ergebnisse zeigten, dass die Schulen immer noch nicht personell und materiell gut genug ausgestattet seien.

Das gegliederte Schulsystem sei Grund dafür, dass Kinder nach der Grundschule auf unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden. Die GEW fordere deshalb schon seit Jahren die „Schule für alle“: Länger gemeinsam zu lernen helfe, soziale Ungerechtigkeit zu mindern.

6 Jahre Grundschule bringen nichts

Bildungsforscher Maaz ist da zurückhaltender. Gegen eine Gemeinschaftsschule mit klugen Formen der internen Leistungsdifferenzierung spreche wenig. Anderseits bringe die Verlängerung der Grundschule nicht den erhofften Effekt, das zeige sich in Berlin und Brandenburg. Ein Schulsystem, das die Privilegien des Gymnasiums in Frage stellt, hält Maaz derzeit politisch ohnehin für nicht machbar.

Auch der Kölner Bildungsforscher Becker-Mrotzek hält eine Debatte über die Schulformen für überflüssig: „Entscheidend ist, was in den Schulen passiert. Und da sind die Maßnahmen, die die Bundesländer bei der Leseförderung unternehmen, immer noch zu punktuell.“ Benötigt würden systematische Angebote wie Leseflüssigkeits- und Lesestrategietrainings in der Grundschule und eine systematische Sprachförderung schon in der Kita.

Becker-Mrotzek begrüßt es deshalb, dass sich Bund und Länder diesen Sommer darauf verständigt haben, die Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)“ von derzeit 600 auf 2.700 Kitas und Schulen auszudehnen. Die beteiligten Pädagog:innen können unter anderem auf wissenschaftlich geprüfte Fördermethoden und entsprechende Materialien zurückgreifen. Bildungsministerin Karliczek hat bei der Vorstellung der aktuellen Pisa-Studie versprochen, Programme zur frühkindlichen Leseförderung „noch konsequenter weiterverfolgen“.

Auch der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) fordert mehr Sprachförderung. Die Initiative BiSS habe gezeigt, dass Kinder nach bestimmten Methoden besser lesen und schreiben lernen. „Diese Erkenntnisse müssen wir jetzt umsetzen.“

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