Kindermänner mit Gummiseelen

Antú Romero Nunes leuchtet in „Neverland“ am Thalia-Theater die finsteren Untiefen des Peter-Pan-Stoffes aus und fragt nach Ursprüngen und Folgen fehlender Elternliebe

Blutige Problem­kindergeburt: Bei Nunes’ Peter-Pan-Adaption kommt keine knuffige Märchenatmosphäre auf Foto: Krafft Angerer

Von Jens Fischer

Wenn Peter Pans Geschichte in den kitschprallen Vorweihnachtstagen auf dem Spielplan eines Theaters steht, sind Assoziation vom präpubertären Verführer nicht zu verhindern: Das Kind, das nie erwachsen wird, erlöst mit dem Versprechen von Freiheit, Abenteuer und ewiger Unschuld Altersgenossen aus dem heimischen Kinderzimmer, indem es sie auf ein elysisches Eiland der Fabelwesen lockt – wo morgen keiner mehr weiß, was er gestern gesagt hat und der Glaube die Wirklichkeit erschafft. Die Stichworte Peter Pan legen den Weihnachtsmärchenverdacht nahe oder lassen gar an ein infantiles Musical denken über einen wunderlichen Lausbuben, der die Jugend als Wert an sich feiert, also einfach aufhört, älter zu werden.

Erst mal alles durchgegendert

Aber dann wird auf der Bühne schnell klar, dass Peter hier eine Frau ist, „Sie“ heißt und von der Schwedin Electra Hallmann verkörpert wird. Todfeind Kapitän Hook (Christiane von Poelnitz) stellt sich als seine leibliche Mutter heraus und das nach Nimmerland entführte Mädchen Wendy erweist sich als ausgefranster Globetrotter, der Mama spielt, sich aber als Papa der Protagonistin erkennen muss. Klar, dass keine knuffige Märchenatmosphäre mehr aufkommt, wenn Antú Romero Nunes einmal so frech durchgendert.

Der Regisseur steht zwar für eine maximal intensive Feier des reinen Spiels auf der Bühne, für Feenstaubzauber ist er aber nicht zu haben und setzt mit der Uraufführung seiner Peter-Pan-Adaption „Neverland“ am Thalia-Theater auf Ausleuchtung der finsteren Untiefen des 1911 erschienenen Romans von James Matthew Barries. Ist doch das Fehlen der Mutter das Trauma der Peter-Pan-Clique und nicht nur zwischen den Zeilen der Vorlage zu lesen, wie Eltern ihren Nachwuchs missachten, verleugnen oder gar wieder loswerden wollen, auch weil der so viel Geld kostet, das doch besser für die eigenen Ego-Inszenierungen zu nutzen wäre.

Und weil, wie wir heute wissen, Kinder die Ökobilanz der Erwachsenen vermiesen. Unberührt davon bleibt Barries’Moral von der Geschicht’: Ohne Eltern ist alles doof, obwohl die mit ihren Vorschriften und Verboten ständig nerven.

Bei Nunes fliegt der Held nicht auf einer zuckersüßen Melodiewolke über die Bühne, um Artgenossen für seine Adoleszenz-Religion zu casten, sondern stolpert einfach mal bei Wendy vorbei, die hier „Er“ heißt und vom Slowenen Marko Mandićgespielt wird.

Bisher bereiste er die Welt, konnte aber nie die Grenze zwischen seinem Ich und einem Du überwinden, lautet sein Lamento, es folgt eine Rede zur Philosophie der existenziellen Einsamkeit.

Er und Sie – da treffen zwei Depressionsanwärter in ihrer Verlorenheit aufeinander. Wie Hänsel und Gretel im deutschen Wald stehen sie im finster spartanischen Bühnenbild zwischen schäbigen Baumattrappen. Bei der ersten Umarmung hängt Sie wie ein nasser Sack in seinen Armen. Zusammen aber raffen sich beide zu einer schönen Körperspannung auf und landen bald auch im Bett – wohlgemerkt noch nicht wissend, dass sie Vater und Tochter sind, folgen die üblichen postkoitalen Streitgespräche.

Kennzeichnend für die Inszenierung ist die multilinguale Kommunikation, wie sie eben auch in der Realität außerhalb des Theaters anzutreffen ist. Vorteil Theater: Übersetzungen in Englisch und Deutsch werden aufs Bühnenbild, über den Vorhang und an die Seitenlogen projiziert.

„Neverland“ ist die erste Eigenproduktion der Veranstaltungsreihe „Thalia international“. Die Nationaltheater aus Stockholm, St. Petersburg und Ljubljana haben jeweils ein Ensemblemitglied entsandt, das Thalia spendiert drei Mimen, hinzu gesellen sich sieben Schauspielstudenten aus sechs Ländern, die die Nimmerland-Bande geben – als eine auf Müllsäcken hausende Streetgang, die mit Drogen dealt.

In einer mythologischen Rückblende wird Er zur Übermutter der Kids, hüllt sich in ein überdimensionales Umstandskleid aus Plastik, aus dem die Problemkinder blutig geboren werden. Petra Pan identifiziert sich derweil mit dem Autor der Vorlage und erzählt, wie Barrie früh einen Bruder verloren zu haben, woraufhin sie versuchte, in dessen Identität zu schlüpfen, denn er sei Mamas Lieblingskind gewesen und nur so schien es möglich, ein paar Grad ihrer Liebeswärme zu erkuscheln.

Übermütter und Problemkinder

Die Nimmerland-Bande – eine auf Müllsäcken hausende Streetgang, die mit Drogen dealt

Mit aktuellen Problemthemen mischt Nunes seinen Assoziationsreigen munter auf. Klimawandel, Proteste in Hongkong und Chile, Gentrifizierung von Lebensräumen, Wahn und Wirklichkeit von Peter Pans unseres Jahrhunderts wie Pop-Freak Michael Jackson oder Kicker Cristiano Ronaldo und der kleine Pimmel der David-Statue Michelangelos werden in endlosen Ausführungen hinterfragt.

Gelangweilt „Club Mate“ trinkende Avocado- und Chiasamenfresser sind das globalisierte Feindbild der Ausführungen, Inbegriff des modisch schmausenden, emotional verkümmerten, tiefgläubigen Praktikers der kapitalistischen Liturgie des Reichtummaximierens. Kindermänner mit Gummi­seelen, die orientierungslos ihre Schmerzen suchen, werden sie später genannt.

Ausufernde Monologe

All der inhaltlich schlauen Ein- und albernen Ausfälle der ausufernden Monologe, all der bildmächtig mit biblischen Motiven überhöhten Szenen, der Publikumsanimation, Puppenspiel-Einlagen und schauspielerisch ironisierenden Kapriolen zum Trotz – Nunes kommt in seiner überfrachteten Abschweifungsshow, die immer wieder in ihre Einzelteile zerfällt, stets zur Atmosphäre und zum Gefühl der Ausgangssituation zurück.

„Neverland“ überzeugt durch das leidenschaftstrunken agierende Ensemble und den Willen, die Folgen und Ursprünge fehlender Elternliebe ungebändigt gegenüberzustellen. Nach der psychischen Zerrüttung von Petra & Co. und Erzählungen über den abwesenden Vater Odysseus bekommt Hook die große Bad-Mother-Show. „Keiner hat mich gefragt, ob ich dich lieben will“, schleudert sie der Tochter entgegen, „das wurde einfach vorausgesetzt, die Mutterliebe, obwohl eigentlich keiner weiß, was das überhaupt sein soll“, empört sie sich. „In the end, everybody is alone“ lautet das Schlussstatement dieses in seiner Verzweiflung beunruhigenden Abends.

„Neverland“: Sa, 23. 11., 19.30 Uhr, Hamburg, Thalia-Theater. Weitere Termine: 24. 11., 13. + 14. 12., 4. + 9. 1. 2020